Читать книгу: «Noras Weihnachtstagebuch», страница 2

Шрифт:

Dienstag, 2. Dezember

Liebes Tagebuch,

mein zweiter Tag in Venedig und mein erster Weg führten mich nicht zu den typischen Hotspots

– nein, ich war wirklich nicht als Erstes am Markusplatz – sondern zurück Richtung Bahnhof Santa Lucia, ein Stück weiter über die große Ponte della Costituzione nach Piazzale Roma, dem Ort, von wo aus Busse nach Mestre und aus Venedig heraus fahren. Die Ponte della Costituzione ist die vierte Brücke, die den Canale Grande überspannt und passt mit ihrem gläsernen und stählernen futuristischem Aussehen so gar nicht in Venedigs altehrwürdige Fassade. Aber da mein Handy über Nacht leider nicht wieder aufgetaucht war, musste ich als Erstes dieses Problem beheben.

Es wäre wohl zu einfach gewesen, wenn ich ohne weitere Schwierigkeiten im Nave de Vero, dem Einkaufszentrum in Mestre angekommen wäre. Leider haben die italienischen Busse die Angewohnheit, nicht an jeder Haltestelle zu stoppen, geschweige denn diese überhaupt anzusagen. Natürlich bin ich zu weit gefahren. Und ohne Google Maps bedeutet das im Klartext, ich war einmal mehr hoffnungslos verloren. Mit meinem gedrucksten, selbstbeigebrachten Italienisch versuchte ich mir den Weg zu erfragen. Nach der dritten Person beschloss ich, mich nach Italienischkursen zu erkundigen.

Tatsächlich wurde ich später zu Hause fündig. Es gibt einen vierwöchigen Intensivkurs vor Weihnachten. Zwar hat er schon angefangen, aber es kann nicht schaden, trotzdem anzufragen. Es wäre

sicher nicht unpraktisch für meinen kurzen Aufenthalt und meine Recherche wenigstens ein paar Grundkenntnisse zu besitzen. Die zwei Stunden am Tag würde ich sicher aufbringen können.

Zurück in Mestre bin ich nach zwei Stunden

Herumgeirre doch noch im Nave de Vero angekommen (weder das Kaufhaus, noch meine unfreiwillige Erkundungstour haben meinen ersten Eindruck von Mestre revidiert). Und auch wenn dieser Besuch meinen Geldbeutel erheblich erleichtert hat, so bin ich immerhin wieder online erreichbar und vor allem, dank Google Maps, geografisch orientierter. Außerdem – ich muss ein Geständnis machen – konnte ich nicht an mich halten und bin um ein Schuhpaar reicher. Dazu gesagt werden muss aber, dass es das bequemste Schuhpaar ist, das ich je besessen habe. Ein Gefühl wie auf Wolken! Da läuft es sich mit Schuhen fast besser als ohne. Und bevor mir jetzt gleich jemand eins auf den Deckel gibt, auf dem Heimweg sind tatsächlich meine jetzigen Boots auseinander gefallen. Ungelogen! Beide! Erst der linke, dann der rechte. Auf einmal haben beide Sohlen beschlossen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, sich abzulösen und mir einen schlurfenden, verkrampften Schritt zu verpassen. Da trifft es sich doch gut, dass ich zufällig ein neues Paar dabei hatte. Die alten wanderten in den Mülleimer und ich besitze insgesamt noch immer genauso viele Paare wie vor meiner Abreise. Das war doch einmal eine günstige Fügung des Schicksals.

Als ich aus Mestre zurückkam, machte ich mich an meine eigentliche Arbeit; ich schlenderte durch Venedigs Gassen und ließ ihre Atmosphäre auf mich wirken.

Jetzt sollte der Part kommen, in dem ich anfange zu schwärmen, von sinnlichen Klängen, die durch die Lüfte schallen und sich mit dem köstlichen Duft von Maroni, Mandeln und Waffeln vermischen. Aber ich muss euch enttäuschen. Ich fand nichts dergleichen. Tatsächlich habe ich mich ein wenig gewundert. War ich zwar keine Mrs. Santa Claus, so hatte ich doch mit etwas mehr Adventsstimmung gerechnet. Ich konnte mich noch gut an meine Silvestererfahrung erinnern und damals hatte Venedig in Bezug auf Weihnachten einiges mehr zu bieten gehabt. Dabei war Weihnachten schon vorbei gewesen. Es hatte einen richtigen Weihnachtsmarkt gegeben, viele gemütliche Holzbuden, die sich um eine Eisfläche scharrten. Neben dem Markusdom stand damals eine riesige, rot-gold geschmückte Tanne.

Im Internet habe ich gelesen, dass es zwei Weihnachtsmärkte geben soll, diese aber erst am 8. Dezember eröffnen. Vielleicht hatte sich das Weihnachtsfeeling an die Italiener angepasst. Alles geschieht eben etwas später hier unten. Ich hoffe zumindest, dass dies der Fall ist. Ich brauche wenigstens etwas Stoff, um eine Story zusammenzubasteln.

Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, worüber ich überhaupt schreiben soll. Mein Ziel war es immer gewesen, Texte zu schreiben, deren Kern aufrichtig ist und die Menschen auf die ein oder andere Art berühren. Jetzt war ich hier und hatte diesen einen Oberbegriff und absolut keinen Schimmer, wie ich diesen aufgreifen sollte.

Ich hätte Henry fragen können. Henry war nämlich wahrlich ein Santa Claus gewesen. Er hätte es sogar hier geschafft, den Weihnachtszauber zu finden. Immerhin war es Dezember, da musste er irgendwo zu finden sein. Mein zynisches Ich fuhr ihm bereits gedanklich über den Mund. Aber ein anderer, neu erweckter Teil von mir, wünschte sich, ihn zu finden.

Ich setzte meinen Weg Richtung San Marco fort. Von meiner Wohnung dauert es ungefähr eine halbe Stunde, plus / minus zehn Minuten, je nachdem wie schnell ich laufe. Dabei komme ich prak-

tischerweise an den wichtigsten zwei Brennpunkten der Stadt vorbei; über Rialto zum Markusplatz.

Ich überquerte eine der vielen, vielen kleinen Brücken, lief eine kurze Gasse entlang und an dessen Ende begegnete mir der erste weihnachtliche Spirit. Zu meiner rechten erstreckten sich die Schaufenster des edlen Kaufhauses Fondaco dei Tedeschi und gestatteten mir wohlwollend einen Blick auf seine glitzernden Christbäume. Geschmückt mit gläsernen Zuckerstangen und glänzend pinken Ornamenten erstrahlten die Tannen wie Märchenbäume. Und ganz natürlich schienen sie sich in das Innere des Geschäftes einzufügen. An seinen äußeren Wänden rankten sich grüne Zweige mit hunderten von kleinen Lämpchen empor.

Nur eine dünne Glaswand trennte mich von dieser eigenen kleinen Welt und einen Moment verharrte ich dort. Falls ich in Venedig selber nicht auf meine Geschichte käme, hier könnte ich sie vielleicht finden.

Ich folgte den Fenstern zum Ende der Gasse, die sich zum Campo San Bartolomeo hin öffnet. Das Kaufhaus schlängelt sich rechter Hand um die Ecke, säumt den Weg zu einer der zwei berühmtesten Brücken Venedigs: der Rialtobrücke. Zunächst erhascht man durch die enge Gasse nur einen kleinen Blick auf den scheinbar weiß strahlenden Fuß der Brücke. Wie magnetisch angezogen folgt man dieser hellen Verheißung und schreitet durch das Gässchen Richtung Canale Grande. Und sobald man die Ecke erreicht hat, aus der Gasse heraustritt, da ragt sie vor einem empor: imposant, majestätisch und elegant.

Mit angemessenem Respekt schritt ich die niedrigen Stufen zur Brückenmitte empor. Vor mir erstreckte sich der Canale Grande in seiner vollen Pracht. Es ist der einzige Kanal in Venedig; alle anderen Kanäle werden als rio bezeichnet. Doch für den Canale Grande gibt es keinen anderen Namen. Er ist wahrlich grande.

Links sah ich das Paketboot parken. Daneben liegt die Gondelanlegestelle. In der Ferne konnte ich die langen schwarzen Sicheln ausmachen. Sanft schaukelten sie auf kleinen Wellen, gesteuert von einer einsamen Figur, die nirgendwo anders hinzugehören schien als genau hierher.

Ich sog die kühle Luft in meine Lungen und verfolgte einen Seemöwenschwarm, der scheinbar genau vor meinen Augen durch die Lüfte tanzte. Unter mir tauchte die Spitze eines Bootes auf. Sie wuchs in Breite und Länge bis Rialtos Schlund das Wassertaxi freigab und es seinen Weg den Kanal hinunter fortsetzte. Es war Nachmittag und das Licht begann bereits langsam zu schwinden. - Das Zeichen für die Laternen entlang des Canale zu leuchten. Aus unerfindlichen Gründen spürte ich meine Augen feucht werden. Die Abenddämmerung war meine liebste Tageszeit, aber das alleine war es nicht. Es war wunderschön. Ganz egal, ob Venedig nun eine Weihnachtsstadt war, sein würde, oder auch nicht; diese Stadt bahnt sich einen Weg in dein Herz, vom ersten Augenblick an.

- Selbst wenn dieser zu wünschen übrig lässt.

Und zu diesem Zeitpunkt begriff ich bereits, dass sie sich noch viel tiefer in meiner Seele einnisten würde. So tief, dass sie einen permanenten Fußabdruck darin hinterlassen würde. Und noch etwas anderes spürte ich dort auf der Rialtobrücke

zwischen einem Haufen Touristen auf der Suche nach dem perfekten Selfie und illegalen Rosenverkäufern; diese Reise ist wichtig für mich. Auf die ein oder andere Weise werde ich mich verändern. Und vielleicht werde ich am Ende sogar ein bisschen Frieden gefunden haben.

Auf dem Rückweg machte ich zum ersten Mal die Erfahrung, dass Venedig tatsächlich wie das Innere einer Uhr funktioniert. Unglaublich kompliziert, verschachtelt und auf den ersten Blick undurchschaubar. Ich könnte schwören, der Rückweg sah ganz anders aus als der Hinweg!

Gassen verschoben sich wie die Treppen in

Hogwarts. Wege, die im Kanal oder an einer Mauer enden, tauchten aus dem Nichts auf. Palazzi, die ich noch nie gesehen hatte, nahmen mein Blickfeld ein, dafür fand ich andere Geschäfte beim besten Willen nicht wieder. Man sollte sich wohl angewöhnen, überall gleich hineinzugehen. Oder eine Marke auf Google Maps zu setzen.

Und während ich so durch die Straßen lief, fand ich ihn. Ich bog um eine Ecke und auf einmal war er einfach da. Direkt vor meiner Nase. Ein kleiner Laden, am Ende einer Sackgasse.

Normalerweise hätte man ihn nicht einmal als solchen erkannt. Zuerst tat ich es auch nicht. Er sah überhaupt nicht aus wie die vielen Souvenirläden, deren Inneres aus den Türen herausquoll und die Fußgänger überfiel. Er sah eher aus wie etwas aus der Winkelgasse, alt und doch nicht alt, aus einem fernen Land und doch genau richtig. Ich weiß nicht, was es war, das meine Aufmerksamkeit so fesselte. Es war wie ein magnetisches Ziehen, das von dem Geschäft ausging und sich mit meinem Körper verband. Eine helle, glühende

Anziehungskraft, die alles andere verschwimmen ließ. Meine Füße gehorchten ganz von alleine. Der Laden schien viereckig, hatte eine hölzerne Eingangstür auf der linken Seite und ein großes Fenster, das den Rest der Vorderseite einnahm. Anders als bei anderen Schaufenstern pries er keine Waren an. Es war überhaupt seltsam. Es schien sich überhaupt nichts darin zu befinden, bzw. doch, aber ich konnte nur verschwommene Schemen ausmachen. Als blickte ich durch milchiges Glas, dabei war die Scheibe blitzsauber. Ich legte meine Handfläche dagegen. Sie fühlte sich warm und glatt an. Definitiv real. Meine Handfläche pulsierte. Als hätten sich die beiden Magnetenden endlich verbunden. Energie floss durch meine Adern. Es war beinahe wie ein Rausch. Als hätte ich mich irgendwie von dieser Welt gelöst. Im Nachhinein kann ich nicht erklären, warum ich davon ausging, dass es sich um ein betretbares Geschäft handelte. Kein Schild, kein gar nichts wies darauf hin. Ganz instinktiv wanderte meine Hand zu dem verschnörkelten Messingtürgriff und drückte ihn nieder. Die Tür schwang geräuschlos auf; ein Glöckchen ertönte irgendwo über meinem Kopf. Und dann klärte sich auf einmal meine Sicht. Als hätte man mir eine Brille abgenommen. Und ich befand mich nicht mehr in Venedig.

Das Innere war komplett aus blitzblank poliertem Holz. Die Luft verströmte einen leichten Duft nach Kaminfeuer, altem Papier und Zuckerwatte. Da standen zahlreiche Regale und Tische. Über allem schien ein Glanz zu liegen. Aber das war albern. Luft konnte nicht glitzern. Und doch war es irgendwie so. Genauso wie ich glaubte, wie aus weiter Ferne Laute von einem Rummelplatz zu vernehmen. Lachen und klingende Musik, ein Bimmeln und ein Vorbeirauschen von Fahrgeschäften.

Ich machte einen Schritt nach vorne und meine Schuhe klackten leicht auf den Holzdielen. Überrascht hielt ich inne. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, lautlos zu sein. Das Geräusch machte das ganze auf merkwürdige Art und Weise real. Über meinem Kopf flog ein kleines rotes Flugzeug hinweg. Was um alles in der Welt...

Der Flieger verschwand zwischen den vielen Regalen aus meinem Blickfeld. Ich folgte ihm und tauchte ein in dieses kunterbunte Durcheinander. Da war eine Wand voller venezianischer Masken. Keine hatte auch nur entfernt Ähnlichkeit mit denen, die man an jeder Straßenecke fand. Riesige goldene Pferdeköpfe reihten sich an schwarze Katzenmasken, die scheinbar aus echtem Fell bestanden. Eine Maske für das ganze Gesicht bestand aus regenbogenfarben schillernden Schuppen. Eine war aus tausenden von winzigen weißen Federn geformt. Eine andere zeigte ein weinendes Gesicht. Tränen tropften aus den Augen. Ich blinzelte.

Das Tuten einer kleinen Dampflokomotive lenkte mich ab. Das kleine schwarze Gefährt folgte Schienen, die sich über alle Tische durch den ganzen Laden schlängelten. In einem Regal saßen Stoff- und Porzellanpuppen nebeneinander. Auf einem Tisch rollten Knöpfe umher. Sie wirkten irgendwie traurig… Wie konnten Knöpfe traurig sein?

In einer anderen Ecke standen uralt aussehende Bücher. Als ich sie in die Hand nahm, schienen sie zu seufzen. Alle waren sie unbeschrieben. Ich stellte sie vorsichtig zurück. Ich entdeckte Halsketten, jede mit einem anderen Stein versehen. Ich nahm sie in die Hand, um sie näher zu betrachten. Im Inneren bewegte ich etwas. Mit offenem Mund hielt ich die Anhänger einzeln vor meine Augen. In jedem Stein spielte sich eine andere Szene ab: Schnee fiel auf eine bereits verschneite Winterlandschaft, ein Fluss rauschte zwischen Felsen hindurch. Adler kreisten über mächtige Berge. Einer flog direkt an meinem Auge vorbei und stieß einen kleinen Schrei aus. Gleichzeitig machte ich einen Satz rückwärts. Dabei stieß ich gegen einen

weiteren Tisch. Und dieser faszinierte mich auf der Stelle. Hunderte von bunten Glasfüllern verteilten sich auf der ebenen Fläche. Manche klein und dick, andere lang und schlank. Füller, die sich vorne in einer dunklen Metallfeder verjüngten, andere die komplett aus Glas bestanden. Manche mit einer echten Vogelfeder versehen und wieder andere, deren Griff sich aus vielen winzigen Glasperlen zusammensetzte. Manche kamen mit einem Füllfederhalter, andere mit Siegel und edler Verpackung. Tintenfässer in verschiedenen Farben ragten

zwischen den einzelnen Meisterwerken hervor. Silber metallic glänzend, blutrot, so tiefblau wie der ewige Ozean.

Das Licht brach sich in dem Glas und brachte die Farben zum Tanzen. Mein Blick wanderte über diesen Reichtum. So viel konnten meine Augen gar nicht auf einmal aufnehmen. Und selbst wenn ich Stunden hier stehen würde, hätte ich doch noch immer nicht alles gesehen.

Es war wie vorhin, als ich auf der Straße stand und dieses Wunderland entdeckte. Ein zufälliger Blick und etwas schob sich ineinander. Von allen Füllern war dieser eigentlich der unauffälligste. Er war mittelgroß, sodass er gut in der Hand liegen würde, komplett aus kristallenem Glas, das sich nach hinten hin spiralförmig verjüngte. Vorne verband eine durchsichtige Perle den Halter mit einer Träne aus Glas als Feder.

Sanft nahm ich ihn die Hände. Es klingt verrückt, doch es war, als hätte er dort nur auf mich gewartet. Selten hatte sich etwas so…richtig angefühlt. Und während ich diesen Schatz hielt, bemerkte ich die feinen goldenen Linien im Inneren des Glases. Wie ein zarter aber starker Fluss bahnten sie sich ihren Weg durch ihren gläsernen Behälter, sammelten sich in der Spitze und ließen diese aufleuchten.

„Ja, dieser hier ist etwas ganz besonderes.“

Ich fuhr zusammen und konnte den Füller gerade noch festhalten. Aus dem Nichts war hinter mir diese Dame aufgetaucht. Ich weiß nicht, wie ich sie sonst bezeichnen soll. Es war mir unmöglich, ein Alter festzustellen. Ich weiß, ich bin schlecht im Schätzen, aber diese Frau war mehr ein zeitloses Wesen. Wie alles hier. So gesehen, war es wohl nur natürlich, dass sie sich auf einmal materialisiert hatte. Sie hätte 40 sein können, aber auch 60 und wenn ich blinzelte auch 20 oder 30. So viele Gesichter vereint in einem einzigen. Die Haltung aufrecht, ungefähr genauso groß wie ich, die (schneeweißen?, silbernen?, weizenblonden?) Haare hochgesteckt, zusammengehalten von zwei langen schwarzen Haarnadeln, auf denen ein goldener Drache thronte. Sein Schwanz zuckte leicht…

All diese Merkwürdigkeiten hatten mich verstummen lassen. Ich starrte sie bloß an. Sie legte den Kopf leicht schief. Ihren smaragdgrünen Augen fingen die meinen ein und in diesem Moment war es, als würde sie mich lesen. Seltsamerweise war es kein unangenehmes Gefühl. Nur äußerst kurios. Sie lächelte sanft und entließ mich aus ihrem Sog. Ich hatte vergessen zu blinzeln.

„Er gehört zu dir. Du hast ihn gesucht und er hat dich gefunden.“

Verblüfft schüttelte ich den Kopf. „Nein, ich…“, begann ich, wusste das Ende meines Satzes jedoch nicht. Die Dame lächelte wieder und wandte sich an einen Verkaufstresen, von dem ich schwöre, dass er vorher noch nicht dagewesen war. Sie tippte etwas in ein Gerät ein, hinter dem ich eine sehr altmodische Kasse vermutete. Etwas klingelte und ein Fach fuhr mit einem pling heraus. „Moment, ich will nichts kaufen.“ Bevor mein letztes Wort verklungen war, spürte ich den Füller schwer in meiner Hand. Er protestierte. Ich zögerte. Dieser Laden war bestimmt nicht billig. So schön dieses Schreibgerät war, brauchen tat ich es nicht.

„Wie viel würde der hier denn kosten?“, wagte ich die Frage.

Die Dame schüttelte langsam den Kopf. „Wir zahlen hier nicht mit Geld.“

„Mit was denn dann?“, fragte ich verblüfft und kurz hatte ich Angst, mich in irgendetwas Illegalem oder Schandhaften verfangen zu haben.

Sie lächelte. „Nun, das kommt ganz auf die Person an.“

Sie schien auf etwas zu warten. „Ich bin leider nicht sehr gut in Rätseln“, murmelte ich, aus irgendeinem Grund leicht beschämt. Die Dame lachte leise und ich glaubte dabei das Bimmeln kleiner Glöckchen zu vernehmen. „Dies ist kein

gewöhnlicher Laden, Nora. Wir verkaufen nichts. Wir machen Geschenke. Zu uns kommen Menschen, die auf der Suche nach etwas ganz Speziellem sind. Etwas, das es an keinem Ort der Welt für auch noch so viele Geldscheine zu erwerben gibt. Die wertvollsten Dinge lassen sich nicht mit Währungen bezahlen.“

Woher kannte sie meinen Namen??

„Und manchmal wissen die Menschen selber nicht einmal genau, dass sie suchen. Oder was es ist, das sie suchen.“ Sie nickte in Richtung des Füllers in meiner Hand. „Du musst etwas Außer-

ordentliches zu geben haben, wenn du dieses Geschenk erhalten sollst. Zweite Chancen sind selten. Nutze sie weise.“

Wieder verfingen sich ihre Augen mit meinen. Ein Strudel an unbenennbaren Empfindungen. Und noch immer war ich keinen Deut schlauer geworden. Da nahm sie mir das Schreibgerät sanft aus der Hand, wickelte es in Papier und legte es vorsichtig in einen schneeweißen, länglichen Karton. Dann runzelte sie kurz die Stirn, legte einen Finger an die Lippen und griff schließlich nach einem dunkelviolettem Tintenfässchen. „Das sollte das Richtige sein“, sprach sie eher zu sich selbst als zu mir. Sie legte es ebenfalls in den Karton und band eine große goldene Schleife um das kleine Paket. Die weiße Pappe war samtweich, die Schleife wehte sacht im Luftzug, rauschte wie seichte Meereswellen, die sich am Strand verliefen. Mir wurde leicht schwindelig.

„Bedenke, jeder ist selbst dafür verantwortlich, wie er mit einem Geschenk umgeht. Es liegt allein bei dir. Der Preis bestimmt sich am Ende.“ Dann schnellte ihre Hand nach vorne und so schnell hatte ich gar nicht gesehen, hielt sie einen meiner Mantelknöpfe in ihren Fingern. Den ließ sie in der merkwürdigen Kasse verschwinden und mit einem weiteren pling schloss sich das Fach wieder. Mit offenem Mund starrte ich sie an. In ihren Augen lag nun ein schelmisches Funkeln. „Ein kleines Andenken an jeden unserer Gäste bewahren wir uns auf. So erfahren wir, wie die Geschichte ausgegangen ist. Und nun ist es, denke ich, Zeit für dich zu gehen.“

In dem Moment, in dem sie es aussprach, war ich derselben Meinung. Als wäre sie die Manifestation meiner Gedanken. Und wie ich vorher keine Kontrolle über meinen Körper gehabt hatte, so bewegte er sich auch jetzt ohne mein Zutun. Kurz vor dem Ausgang fiel mein Blick noch einmal auf die leeren alten Bücher. Nur dass sie nicht mehr völlig unbeschrieben waren. Hastig griff ich nach einem

dicken, kobaltblauen Schmöker. Auf dessen Rücken befand sich auf einmal ein Titel in mir fremden Buchstaben. Ich schlug das Buch in der Mitte auf. Dort waren noch mehr dieser Buchstaben. Meine Finger fuhren über die spröden Seiten. Wie war das nur möglich? Vorher waren die Seiten noch komplett weiß gewesen! ...Oder etwa nicht?

„Wie...“, begann ich, sah auf, sah die Dame verloren an. „Wie was?“, fragte sie freundlich. Ich sah zurück auf das Buch. Die Buchstaben waren immer noch da, aber nicht mehr so wie eben noch vor einer Sekunde. Sie hatten sich verschoben, spannen nun eine völlig andere Geschichte, eine über Zwerge und Drachen. Meine flache Hand schlug auf die Seite, als würde sie die Buchstaben davon hindern wollen, ihren Platz zu wechseln.

„Geschichten haben ihren eigenen Charakter. Sie verändern sich. Es gibt viele Versionen ein und derselben Erzählung. Und alle sind sie wahr.“ Sie entwand mir das Buch und stellte es zurück an seinen Platz. „Manchmal kommt es bloß darauf an, für welche wir uns entscheiden. Und wiederum manchmal“ – dabei drehte sie sich zu mir – „müssen wir uns nicht entscheiden, sondern einfach ihren Wegen folgen. Auf Wiedersehen Nora. Und alles Gute für die deinige Geschichte.“

Alles, was danach geschah, das liegt irgendwie, irgendwo im Nebel verborgen. Jetzt jedenfalls, sitze ich an meinem Tisch, vor mir mein Tagebuch und in meiner Hand gleichzeitig schwer und federleicht mein neuer, wunderschöner Glasfüller. Wäre er nicht, ich wäre überzeugt, ich hatte bloß geträumt. Deutlich konnte ich mich an die Einzelheiten erinnern, dennoch war alles eingefangen in einer surrealen Seifenblase.

Die tief lilafarbene Tinte saugt sich in meine Tagebuchblätter. Die Buchstaben bleiben so stehen, wie ich sie angeordnet habe. Ich hatte gedacht, dem Schreiben mit einer Glasfeder bedarf es ein wenig Übung, doch anscheinend wusste meine Hand genau, was zu tun war. Mit keinem anderen Stift, ob Füller oder Kuli, hatte ich je so sichere und elegante Buchstaben gesetzt.

Er pulsiert in meiner Hand. In seinem Inneren glitzert das Gold, scheint zu glühen und zu fließen wie Lava. Wahrlich, welch wundersames Geschenk…

Nora


765,32 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
195 стр. 26 иллюстраций
ISBN:
9783748563617
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают