Читать книгу: «Ein Laib Brot, ein Krug Milch», страница 3

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Nun war auch der Tag gekommen, an dem sie den toten Großvater in die Erde legen konnten. Sohn und Knecht holten den Sarg vom Dachboden und hoben ihn auf den Schlitten in das Stroh. Dann banden sie ihn mit Stricken fest, damit er auf dem abschüssigen Wege nicht nach vorwärts ins Gleiten käme, und so brachten sie ihn zum Wegkreuz, wo der bestellte Pfarrer wartete und den Toten einsegnete. Sie hatten dann immer noch einige Stunden zu gehen, bis sie zum Friedhof hinab kamen.

Als die Hausleute am Abend dieses Tages um den Tisch beisammensaßen, war es ihnen, als seien sie nicht mehr vollzählig, als habe sie jemand verlassen.

Am Tage nach dem Begräbnis erwartete der Sohn die Magd wieder auf dem Dachboden, aber er war ihnen auf einmal fremd und unheimlich geworden. Plötzlich hörten sie Schritte auf der Stiege. Sie drängten sich dicht in den finstersten Winkel zwischen Hausmauer und Dach.

Der Bauer kam, um nach dem Nußhaufen zu sehen; die zwei Versteckten vernahmen, wie er die Nüsse aus dem kleinen Hügel schöpfte und sie dann wieder niederfallen ließ. Zwei Tage später zur nämlichen Stunde kam die Bäuerin und spannte einige Stricke im Dachgestühl, um die Wäsche aufzuhängen. Sohn und Magd mußten in ihrem engen Versteck lange lautlos verharren.

Es war den beiden plötzlich gewiß, daß nun einmal der Knecht kommen würde, um irgend etwas zu tun, und ein anderes Mal die Tochter, um nach der Wäsche zu sehen. Sohn und Magd wagten es nicht mehr, sich auch von diesen stören zu lassen; sie verrichteten schweigend nebeneinander die Arbeit. Nur einmal am Brunnen, als sie die Wäsche auswand und er das Pferd tränkte, sagte die Magd:

„Es ist nur schad, daß der Vater der Bäuerin schon im vorigen Jahr gestorben ist. Es wird wieder schneien.“

Webstuhl der Väter

John Leeds kam eines Tages aus Amerika in das Dorf tief in den Bergen, von wo sein Urgroßvater ausgewandert war, ein Weber, der in seinem Hause einen Webstuhl stehen hatte und ihn schweren Herzens verlassen hatte. Ein riesiges, seltsames Möbel, das jetzt in seinen ungeölten Scharnieren knarrte und knackte, denn hundert Jahre lang oder vielleicht noch länger war kein Mensch auf der Bank davor gesessen. John Leeds hob den Rahmen mit einem beiläufigen Handgriff, er vollbrachte es so, als geschähe es in tiefen Gedanken, nicht anders als die Berührung des grünen Kachelofens, der sich kühl und fremd anfühlte. Aber man mußte sich mit den Gegenständen vertraut machen, wenn man als Urenkel, Enkel und Sohn heimkehrte zu dem Webstuhl, an dem der uralte John Leeds gesessen war und den Loden gewebt hatte, wie seine Urahnen schon, wenn sie nicht gerade den Pflug geführt, das Heu gewendet oder den Roggen geschnitten hatten. Von diesem Webstuhl also und von diesem Kachelofen war der Urgroßvater ausgewandert, aber er hatte davon immer seinem Sohne erzählt, und dieser wieder seinem Sohn, bis es auf ihn kam, den letzten John Leeds, der seinem Blute nach eigentlich Johann Loder hieß, so war es wenigstens in dem Taufbuch von dem ersten Weber verzeichnet, und vielleicht waren die großen grünen Augen des Kachelofens nur deshalb so feindlich auf ihn gerichtet, weil er sich selber so fremd gemacht hatte.

Aber John Leeds sah die grünen Halbkugeln des Kachelofens, die ihn wie Basiliskenaugen anstarrten, nicht, nur einen einzigen flüchtigen Blick hatte er zu dem seltsamen Ofen hingeworfen, in Amerika gab es bessere und praktischere Öfen, nicht so unförmige, fast unheimliche Hügel, und wenn er auch gespürt hätte, daß dieser Steinhaufen dort in der Ecke nicht nur ein Ofen sei, den Blick der runden grünen Augen hätte er, ein so sehr verspäteter Enkel der alten Weberfamilie Loder, der sich jetzt obendrein Leeds nannte, doch nicht mehr verstanden. Aber er schaute nicht hin, er sah nur den alten merkwürdigen Webstuhl, das graue, von zwei Jahrhunderten gebleichte Holz, es hatte winzige, kreisrunde Löcher. John Leeds wußte nicht, daß sie von den Holzwürmern herrührten, wie sollte es ein Amerikaner wissen, der wohl Beton, Stahl und Glas kannte, das Holz aber gewöhnlich nur als gemasertes, gebeiztes, poliertes Furnier. Die großen Weberschiffchen lagen noch links und rechts in den Rinnen, schlafend wie unbekleidete Puppen. Das ganze Gestell zitterte, wenn man nur fest auf den Boden trat.

War es denn möglich, daß auf diesem Webstuhl jemals ein Mensch gewebt haben sollte, jenes unzerreißbare Zeug, das man hier auch heute noch Loden nannte, genauso wie zu Großvaters Zeiten? Man bewahrte daheim mit einigen anderen Dingen auch so einen Fetzen Loden auf. An diesem Webstuhl sollte er gewebt worden sein? Es war so unwahrscheinlich wie die ganze Geschichte der Herkunft der Familie.

Aus diesem niedrigen Hause, das noch immer mit Holz gedeckt war, mit schmalen, dünnen Brettchen, sollten die Leeds gekommen sein? Auf diesen kleinen Feldern, die man mit einigen hundert Schritten umwandern konnte, sollten sie ihr Getreide geernten haben? War es denn möglich, daß so ein elendes Bauernhaus die Wiege eines großen amerikanischen Hauses: John Leeds und Söhne, Leinen, Tuch und Seide, war? Es mußte wohl so sein, denn sonst stünde er, Herr des Hauses, auf einer Europareise begriffen, auf der er an dem Dorfe der Ahnen nicht vorüberreisen wollte, ohne das sagenhafte Bauernhaus betreten zu haben, nicht hier in dieser Stube, in der die abgestandene Luft einen sonderbar bedrückenden Geruch hatte und wo er sich wie in einem Käfig wähnte, weil die Fenster geschlossen waren. Und alles Verwundern über diese merkwürdige Umgebung, über die ungewöhnliche Heimkehr, Zweifel und Freude, sie wurden zu einer ungewohnten Rührung, und diese Rührung ließ plötzlich einen sonderbaren Wunsch entstehen.

Man hatte diesen alten Webstuhl ja von Bildern her gekannt, man hatte ihn als junger Mensch in der Fachschule sogar gezeichnet. Und auch dieses besondere Stück, das hier in der Ecke stand, vom Boden bis zur niederen Decke hinaufreichte und ein Greis war – ein Menschengreis war ein Jüngling dagegen –, kannte man von Erzählungen her. Aber es war doch etwas anderes, davon zu hören oder es mit eigenen Augen zu sehen. Hier hatte die Familiengeschichte greifbare Gestalt angenommen, ihm also war es vergönnt, an dem leibhaftigen Werkzeug zu stehen, an dem so viele Erinnerungen und – wie er mit Bestimmtheit wußte – manches Heimweh haftete. Nicht sein Heimweh, nein, der letzte John Leeds, der er war, dachte nur an Leinen, Tuch und Seide, doch aus irgendeinem Tropfen Blut kam die Sehnsucht der Vorfahren, die in ihm freilich nur mehr zu einem plötzlich erwachenden, ihn selbst verwundernden Wunsche reichte.

Die jetzigen Besitzer des Bauernhauses mochten jedenfalls arme Leute sein, man merkte es schon im Flure, man las es von dem Gesichte des Mädchens, das den Fremden in die Stube geleitet hatte. Seit Menschenaltern hatte niemand mehr den Webstuhl benützt. Er war ein überflüssiges Stück, das wahrscheinlich nur der Trägheit des Herzens diesen Platz im Winkel verdankte; die Leute wollten vermutlich das Gesicht des Hauses, in das sie hineingeboren waren, nicht gewaltsam verändern. Vielleicht waren sie dankbar, wenn man sie davon befreite, wenn man ihnen half, einem heimlichen Gedanken wirkliches Leben zu geben. Und mit seinem englisch gefärbten Deutsch, in dem nichts mehr von dem Winde war, der draußen die Halme des Kornes bewegte, nichts mehr von dem behutsamen Gesange des Laubes in der Linde, deren Duft schon der erste des Geschlechtes gerochen hatte, sagte er:

„Ich möchte kaufen den Webstuhl.“

„Wir verkaufen ihn nicht“, sagte die Frau einfach; das Feuer beleuchtete ihr Gesicht, es schien in heiliger Wildheit zu glühen.

„Weiber“, dachte sich John Leeds, „überall gleich, ob Amerika, ob Europa.“

Und er ging vor das Haus, legte den Schatten der Hand über die Augen und schaute durch den Wind auf die Felder. Der Bauer stand draußen im Maisacker und häufelte die Erde.

„Ich werde kaufen den Webstuhl“, sagte er ihm über die Entfernung von einigen Schritten hin. Nicht mehr „Ich möchte!“ oder „Ich will!“, jetzt schon „Ich werde!“

Der Bauer, später Urenkel auch so alter Familie, wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne und Schläfen und sagte:

„Er ist nicht zu haben, Herr.“

Seine Stimme war grau und fest wie die Erde, in der er mit bloßen Füßen stand.

„Ich will ihn nicht haben umsonst, ich will ihn bezahlen.“

„Ich brauche kein Geld.“

John Leeds sah sich hochmütig um, mit einem einzigen Blick umfaßte er den spärlichen Besitz des Mannes, Hof und Boden und die paar Kühe auf einer ausgedörrten Weide. Der Bauer bückte sich schweigend wieder zu seiner Arbeit hinab; er wollte die lässige Bewegung der fremden Hand nicht bis zu Ende sehen.

„Sie weben nicht auf dem Stuhl?“ fragte der Amerikaner.

„Ich bin ein Bauer. Kein Weber.“

„Was wollen Sie mit dem alten Stuhl?“

„Er soll stehen, wo er steht.“

„Er nimmt nur Platz. Sie können dorthin stellen einen großen Tisch.“

„Meine Familie ist klein, ich brauche keinen großen Tisch.“

John Leeds spürte deutlich, wie der Mut des Mannes müde geworden war, auf die Dauer konnte er den altväterischen Webstuhl nicht verteidigen. Weil dieser John Leeds, der sich auf Menschen zu verstehen glaubte, einem stummen Papier, war es nur richtig bedruckt, mehr Macht zutraute als einem lauten Handel, hielt er dem Bauer eine Banknote dicht vor die Augen. Als wäre sie aber durchsichtig und behindere nicht den Blick auf das Werkzeug, hieb der Bauer weiter in die Erde. So etwas war John Leeds noch nicht widerfahren; gut, auch andere Leute hatten Geld verachtet, doch sie sahen es wenigstens an. Du willst also einen Wettlauf, Bauer? Gut, laufen wir!

„Wissen Sie, wieviel wert ist der Webstuhl?“

„Ich weiß nichts.“

„Was wollen Sie dann?“

„Meine Wiege ist neben dem Webstuhl gestanden, Herr … und auch die Wiege meines Vaters … und …“

Das ist eine hohe Hürde, John Leeds, die mußt du mit einem gewaltigen Sprung nehmen. Er gab noch zwei Banknoten zu der einen. Der Bauer streckte den Rücken und rückte die Faust in das Kreuz, als könnte er sich dadurch rascher und leichter aufrichten. Er hatte die Augen abgewendet und schaute noch immer nicht auf das Geld.

„Er gehört zum Haus, Herr … Es ist hier so Brauch … wenn ein Knecht oder eine Magd alt wird … sie bleiben beim Haus…“

Du redest zuviel, Bauer, dir wird bei dem Wettlauf der Atem ausgehen. Und John Leeds legte noch ein Blättchen des verfluchten bräunlichen Papiers zu den übrigen; es sind jetzt ihrer vier, und er hält sie gefächert wie ein Spiel Karten. Alles kommt vom Teufel, was wie ein Fächer in der Hand ausgebreitet ist. Wie soll so ein hagerer, barhäuptiger Mensch, der mit nackten Füßen in der Furche steht, der seine paar armseligen Groschen am hellichten Tage mit der Laterne suchen muß, einmal bei einigen Kannen Milch, ein anderes Mal bei einem Korb voll Obst, einigen Brotlaiben, ein drittes Mal bei Hühnern, Honig oder einem Kalb, wie soll so ein Kleinhäusler den gleisnerischen Schein, der von einem Häuflein Reichtum ausgeht, von den Augen abwehren? Man könnte mit dem Geld neue Schindeln auf Haus und Scheune legen, man könnte die Bienenhütte bauen. Der Himmel wird es schließlich verzeihen, daß er mit der einen Hand nach dem Gelde greift, weil er doch mit der andern eine Träne von der Wimper wischt.

So kam John Leeds mit sanfter Gewalt in den Besitz des Webstuhls der Väter. Ja, Bauer, du warst zu langsam in diesem Wettlauf, das Geld war schneller. Jetzt führe den neuen Herrn in die Stube, er will sich seines Sieges über die drei Hausleute freuen.

Was zuerst nur Laune war, wurde nun beflissener Ernst; John Leeds betrachtete jetzt mit anderen Augen das graue Ungetüm, das die Decke berührte, das die dämmernde Ecke ausfüllte.

Von hier mußt du fortwandern, dachte sich der Urenkel jenes Webers, der zuerst auf der schmalen Bank gesessen war. Er wollte den Webstuhl im Triumph heimbringen, niemand drüben über dem Wasser konnte sich solcher merkwürdigen, kostbaren Beute rühmen. Gab es nicht Anlaß zu einem Fest mit großer Anrede, die nachher alle Zeitungen abdruckten: Sehet, vor diesem Möbel haben die John Leeds, Leinen Tuch und Seide, angefangen! Er sah nicht, daß der Webstuhl ihn mit verborgenen Augen hochmütig maß. Niemals würde ein Mensch von der Sorte dieses John Leeds die heimlichen Augen finden, ja, er würde wahrscheinlich gar nicht glauben, daß es solche Augen gibt. Er hatte andere Dinge im Kopf, sie waren ihm heftig aufgefallen, denn so ist es wieder Gewohnheit dieser Leute: sie machen nichts halb.

Da stehen Bäuerin und Tochter stumm hinter ihm, aber sie haben einen sonderbaren Blick. Man wird auch seiner Herr werden, wie man den widerspenstigen Bauer zu Boden gebracht hat. Wartet ihr vielleicht schadenfroh darauf, daß jemand den Webstuhl zerlegt, und niemand kann dann seine Teile wieder zusammensetzen? Oder meint ihr, die paar Schrauben und Nieten machen es nicht, und es lebt niemand mehr, der so einem uralten Webstuhl gewachsen ist? Kunstvolle Maschinen, ja, die wissen die Mechaniker zu behandeln, aber so ein ureinfacher Webstuhl, der geht über ihren Verstand. Meint ihr das? Schon möglich, daß es so ist, aber glaubt ihr denn, John Leeds wüßte nicht, wie er den Webstuhl heil und unversehrt nach Amerika liefern kann? Niemand ahnt, wessen John Leeds fähig ist. Sein Geld gibt den Wettlauf nicht so bald auf.

Das Unglaubliche geschah, noch Jahre später sollte der Mund der Gegend voll davon sein, wozu so ein verrückter Amerikaner imstande ist! John Leeds sicherte sich zuerst den Eisenbahnwagen, auf dem das alte graue Ungetüm, so wie es war, zum Schiff geführt werden konnte, dann bestellte er für einen gewissen Tag den Lastwagen, der den Webstuhl zur Eisenbahn bringen sollte, überdies ließ er ihn eigens mit neuem Gummi bereifen, dann warb er für eine Stunde die halben Leute des nahen Dorfes an, sie sollten den Webstuhl auf einem Gestell, das einige Tischler schon zimmerten, aus dem Hause rollen, und der Webstuhl wurde nicht zerlegt, nein, wozu war man John Leeds?

Glaubt es oder glaubt es nicht, Maurer brachen eine ganze Wand aus, das Haus bekam eine riesige, staubende Wunde, und durch das ausgebrochene Loch konnte man den Webstuhl sehen. Es gab aber nur wenige, die zu bemerken meinten, daß er sich ängstlich und trotzig tiefer in die dunkelnde Ecke drückte. An dem neuen Tore, das zusehends größer wurde, denn die Arbeiter brachen hier, wo es seltsam zuging, die Steine gern aus, auch war ihnen ein besonderer Lohn verheißen worden, stand der Mann, von dem alle glaubten, er wäre verrückt.

Und dann kam schließlich die große Stunde, die Stunde, in der die Mauer so weit abgetragen war, daß der würdige Herr Webstuhl durch die Türe, die nur für ihn geöffnet worden war, ins Freie treten sollte, zuerst auf das Gestell, daß so wunderbar geschickt erfunden war, daß sich die Tischler in ihrem Ruhme blähten, es mußte dieses Gestell ja eine schwere Last auf die Erde niederbringen und sie dann wieder auf den Wagen hochheben. Und alle Leute hielten, als man, immer unter erregter Anleitung des Amerikaners, den Webstuhl von seinem Platze fortrückte und Zoll um Zoll näher zur kostspieligen Öffnung brachte, den Atem an; so viele angestrengte Aufwendung, sie konnte nicht vergeblich gewesen sein, sie machte sich schon durch die stumme Bewunderung aller Zeugen bezahlt. Sehet nur, liebe Leute, was für ein unheimlicher Herr das Geld ist, jetzt schnauft es sich nach seinem Wettlauf gehörig aus! Und gegen diesen Herrn hat ein alter Webstuhl sich aufzulehnen vermessen, indem er in den Hausleuten Helfer zu haben meinte.

Jetzt wird er gleich den Kerker verlassen haben, jetzt wird er, behutsam geschoben – schon knarren leise die Rollen unter ihm – die hölzerne Bahn berühren, die ihm zur Straße hinab gebaut worden ist. Wie sollte sich, meinst du, ein einzelnes Geschöpf, um das so viel Mühe aufgewendet wird, der zehn Hände, oder sind es gar zwanzig oder dreißig, erwehren? Webstuhl der Väter, gewaltsam wirst du zum Auswanderer gemacht!

Es gibt treuherzige Berichte, die erzählen, wie sich Menschen bis zum letzten Augenblick an ein Stückchen Erde, an irgendein Ding oder aber auch an einen anderen Menschen klammern und dann, wenn sie sich von ihnen doch trennen müssen, in Verzweiflung vergehen. Sollte solche trotzige Treue etwa nur ein Vorrecht der Menschen sein? Oder nimmt zu gewissen Zeiten ein Gegenstand, den sie stets leblos nannten, der irgendwo in einer stummen, dämmerigen Verborgenheit seiner Stunde harrte, wie dieser vergessene, verlassene Webstuhl, der aus den Tiefen eines früheren Jahrhunderts in dieses herüberragte, wie die erhabene Gestalt einer merkwürdigen Sage, nimmt so ein lebloser Gegenstand nicht plötzlich die Art von Menschen an, deren Schicksal ähnlich war dem seinen? Ist das jetzt nicht das Seufzen eines müden Greises, der von seinem Platze verdrängt wird, auf dem er dem Tode entgegenzuträumen pflegte; jene, die Hand an ihn gelegt haben, sie hören es nicht, sie sind zu laut, sie eifern sich an, sie befehlen und gehorchen, sie sind klug und geschickt, sie alle vermehren Anstrengung und Erregung zu einem wahren Aufruhr. Viel Ehre für so einen ausgedienten Webstuhl!

Doch er will es ja nicht, er möchte in seiner Ecke ruhen, auch für ihn wäre dort einmal die letzte Stunde gekommen. Aber sie schoben ihn nun, nachdem sie viel behutsame Mühe aufwenden müssen, vollends an das Tageslicht, und da schwankte er denn zuerst wie ein Greis, den die Luft unter einem Lindenbaum ein wenig schwindelig gemacht hat, und dann schwankte er noch einmal stärker, ohne daß einer der Männer oder Burschen ungeschickt gewesen wäre, neigte sich, wie es ein Sterbender tut, und starb in den Armen der vielen Menschen, starb auf seine Weise, indem er in sich zusammenfiel und nur noch ein Haufen verworrenen grauen Holzes war. Da standen noch einige Arme, die ihn vorhin gehalten hatten, wie vor Schreck erstarrt in die Luft, da wagten sich mehrere leise Stimmen zu John Leeds hin und meinten, der Holzwurm habe den Webstuhl zernagt; sie zeigten auf das feine Holzmehl, das hochgestäubt war.

John Leeds zuckte die Achseln, er glaubte natürlich auch an den Holzwurm; was sollte er auch sonst glauben?

Christian fährt übers Eis

Es begann nicht erst in dieser schwarzen Mitternacht vor dem Wirtshaus, wo der junge Knecht Christian stand, schon in seinen Pelz vermummt, den Kragen aus gekraustem Schaffell so hoch geschlagen, daß der Kopf darin verschwand und das Gesicht nur eine mattschimmernde Fläche war; in dieser Nacht wurde vielmehr hinter eine heimliche Geschichte, von der niemand etwas wußte, ja, kaum dieses flaumbärtige Knechtlein selbst, ein Punkt gesetzt, der noch schwärzer sein sollte als diese dunkle Nacht. Einzelne große Schneeflocken fielen nieder, wurden im Lichte sichtbar, verschwanden wieder, und der Knecht stand, von einem Fuß auf den andern tretend, denn der Frost hatte beträchtlich zugenommen, vor dem Wirtshause. Licht fiel heraus auf den Schnee, die grünen Fensterläden dämpften es kaum, und es kam auch die Hochzeitsmusik heraus in die Nacht, diese verdammte Blasmusik, gemischt mit dem schmierigen Ton der Geige und Baßgeige und dem jaulenden Ton einer Klarinette, die stärker war als alle anderen Instrumente.

In einer stillen Nacht warten müssen, in der nur manchmal der Schellenkranz um den Hals des Pferdes aufrauscht oder eine Schlittenkufe auf dem gefrorenen Schnee knirscht, gut, das ist zu ertragen, aber warten müssen, bis die Musik da drinnen verstummen wird, bis das Haus plötzlich vom Lärm zersprengt ist, weil die Brautleute aufgebrochen sind, denn sie müssen über den See zur Eisenbahn hinüber, die Hochzeit ist aus, und der Bräutigam ist ein Stadtherr, der morgen wieder an seinem Schreibtisch sein muß, gerade soviel Urlaub hat er sich genommen, so erzählen wenigstens die Mägde, daß er Hochzeit halten kann in der Kirche und nachher im Gasthaus ein wenig über die Mitternacht hinaus, aber nicht länger, denn bald nach ein Uhr geht dort der Zug. Solches Warten auf ein Paar, das man im Schlitten über den gefrorenen See führen soll, ist furchtbar, wenn man Christian heißt und wenn es einem wie Siegelwachs auf dem Herzen brennt, daß da drinnen hinter den grünen Vorhängen jetzt die Helen lachend den letzten Tanz mit dem Kranzelführer tanzt, die schöne Helen. Ganz helle Haare hat sie über einer braunen Stirn, dunkle Brauen wie Raupen über ganz helle Augen; in der weiten Gegend bis ins hinterste Gebirg hinein gibt es kein solches Mädchen mehr, und sie wird jetzt totenleer sein, wenn die Helen fortgeheiratet hat. Aber man muß warten, man ist nur ein Knecht, und der Wirt, der Brautvater, dem Schlitten und Pferde gehören und dem deswegen auch der Knecht gehört, hat einem früher geheißen einzuspannen, es sei an der Zeit.

Ja, es ist höchste Zeit, und da tun sich auch schon die Türen auf, noch mehr Licht kommt heraus in die pechschwarze Nacht, und ein paar lustige Töne der Trompete kommen mit dem Lichte hinter einem Schock von Menschen, ein Knäuel von Lärm und Lachen sind sie, und sie schieben an der Spitze ein Paar vor sich, es steckt ebenfalls in Pelzen. Mit der letzten Musik hat man sie dareingehüllt, während der Brautvater mit der Brautmutter den Kehraus getanzt hat. Sie schieben also dieses Paar in den niederen Schlitten, und das verschlafene Pferd zieht, sobald es die Last spürt, mit einem plötzlichen Ruck an, daß die Braut, vom Glück und Wein leicht berauscht, in die Schlittendecke zurücksinkt, und ihr kurzes Lachen wird ein Gekreisch. Aber der Knecht, für die geblendeten Augen ganz versteckt in der Finsternis und in seinen Pelzen, ist darin noch nicht so weit fort. Das eine Ohr hat er irgendwo über den Rand des Kragens geschoben, damit er dieses Lachen hören kann. Es ist ihre Stimme, die er seit langem in seinen Ohren aufbewahrt, und das kleine, fast fremde Lachen kommt zu dem übrigen, das da schon angesammelt ist. Er hört noch einiges Durcheinander am Schlitten, viel Gelächter und wohl auch einiges Weinen, wie es bei dem Abschied einer Braut aus dem Hause, wo sie groß wurde, gebräuchlich ist. Aber ein Knecht hört nicht darauf, ein Knecht setzt sich vorne auf den Kutschbock zurecht, nimmt die Leitriemen in die Hand, wickelt sie um die Finger und schnalzt mit der Zunge, oder war es ein heimliches Wort, das er dem Pferd zurief; mit einem Verschworenen redet man so leise.

Über den gefrorenen See führt der Schlittenweg, längst ist er mit dem Schneepflug ausgehobelt, so daß jetzt links und rechts die niedrigen Schneewülste liegen; wer möchte schon, damit er immer an dem Ufer bliebe, den See auf einem langen Umweg umfahren? Seit Bauern hier an der Südseite des Sees angesiedelt sind, baut ihnen und den Pferden das Eis eine sichere Brükke über das Wasser. Drei Ellen dick ist es jetzt wohl, und es wächst immer noch, das hört man an dem dunklen Heulen in der Nacht; ja, auch der See hat seine guten und bösen Stimmen. Doch ein Brautpaar in warmen Decken, bestehend nicht aus zwei Menschen, sondern nur ein Wesen, hört kaum das dumpfe Heulen des Sees. Wie könnte es seine Sinne auch dem traurigen, wilden Gesang der Nacht offenhalten, da es noch die Glocken der Messe in den Ohren hat, die Predigt des Pfarrers, die Wünsche der Leute, die Musik und das Ja des anderen Geliebten. Es erschrickt kaum unter dem Schuß, der plötzlich über das Eis kracht, es ist, als zerspränge dickes Glas gerade unter dem Schlitten. Die Braut kennt es seit ihrer Kindheit, wie der Sprung im Eise donnert, und für den Mann ist jetzt ihr leisestes Wort mächtiger als der erhabene Laut der Natur. Nur einmal, als die Schlittenkufen zum erstenmal auf dem Eiswege hinschleifen, beugte er sich aus der glücklichen Vermummung etwas vor und sagte mehr zu sich selbst und zu der selig Schweigenden als zu dem Kutscher: „Das Eis wächst“, und es war eigentlich eine verhehlte Angst vor dem ungewohnten Wege über das Eis; doch der Kutscher gab ihm keine Antwort. Er sieht nach vorn in das Dunkel, er sieht die Schatten, die dem Pferde zur Seite laufen, sieht auch den sanften Schein der beiden Laternen links und rechts vom Kutscherbock; wohl wie zwei große gelbrote Augen kommen sie durch die Nacht. Und er horcht auf den hohlen Klagelaut des Sees, auf dem sie nun dahinfahren, unter sich die schwarze Tiefe des gefangenen Wassers, über sich die Finsternis. Und noch einmal spricht der Bräutigam ein paar Worte. „Es ist gut, das Eis ist dick“, sagt er.

Er sagt es diesmal lauter, als wollte er es von dem Kutscher bestätigt haben; wenigstens ein Brummen hinter dem Pelz erwartete er. Doch er wartete vergebens. Wie kann er auch wissen, was es heißt, vor der schönen, hellhaarigen Helen zu sitzen und sich nicht mehr nach ihr umdrehen zu dürfen, wenn man der junge Knecht Christian ist. Sie hat vergessen, daß man im letzten Fasching mit ihr im Munde der Leute war, weil man so oft mit ihr tanzte. Sie denkt gewiß nicht mehr daran, daß man ihr am Kirtag ein lebzeltenes Herz brachte, ein großes Herz, auf einer Seite mit grellroter Farbe angestrichen, mit Blumen und Figuren aus weißem Zucker. Und mitten darin ein schöner Vers von Liebe und Treue; weiß sie es nimmer, daß sie da Herz an einer Schnur um den Hals trug, einen halben Vormittag lang, vom letzten Meßläuten bis zum Mittagläuten. Nein, sie weiß es nicht mehr, denn man hat kein Haus, in das man sie führen könnte, wie der da hinten, man ist nur der Knecht Christian, neben dem Pferde vor den Schlitten gespannt, wie man damals dem Mädchen vorgespannt war, und es hatte eine Peitsche in der Hand, die man wohl nicht sah; aber immer wieder trieb es ihn mit ihr an.

Jetzt wird der Schlitten noch eine kleine Viertelstunde über das Eis dahinfahren, auf der brav ausgepflügten Straße, die auch ein blinder Gaul nicht verfehlen könnte, und dann wird es auf einmal unter den Kufen knirschen, vielleicht wird man auch einige Funken sehen. Der Schlitten wird auf Erde und Stein aufgefahren sein, dort, wo das Ufer leicht abschüssig zum See herabkommt; die Lichter des Bahnhofs sind da, und dann ist alles zu Ende. Dann kannst du wieder über den finsteren, heulenden See zurückfahren, junger Knecht Christian, wirst die Rosse tränken und ihnen Häcksel schneiden, wirst Hafer streuen, das Leder glänzen, die Laternen putzen, und der Winter wird überhaupt nicht mehr vergehen, immer noch wird neuer Schnee fallen und Frost einbrechen, die Amseln werden schon traurig zu rufen anfangen, und es wird sein, als wäre die Helen überhaupt nie gewesen. Oder doch, manchmal darfst du in der Wirtsküche sitzen und dir die blauen Finger wärmen, die Kälte ist hinter die Nägel gekommen, daß sie schmerzen, und so bei einem Glase Wein und einem halbvollen Teller, den sie dir außer der Zeit gutmütig hingestellt haben, wirst du, während die Wirtin dort am Herd eine Pfanne von den Ringen hochhebt, ein Ei aufschlägt oder das Fleisch klopft, hören, daß die Helen noch lebt, irgendwo in einer Stadt, und sie ist eine glückliche Frau geworden, und dies und das, und einmal wird sie wahrscheinlich auch wiederkommen, und wer soll sie dann von der Bahn abholen, wenn nicht der Christian?

Es wird Sommer sein, wenn sie kommt, oder doch Frühling, und man kann nicht mehr im Schlitten über den See fahren und ihr den Rücken zukehren wie jetzt dem Brautpaar. Es wird heller Tag sein, und man muß das Boot von dem andern Ufer herüberrudern, man wird ihr gegenüber sitzen, ganz nahe. Mein Gott, so ein Boot ist klein, man kann nicht bis an das andere Ende der Welt von ihr fortrücken, wie man es gerne tun möchte, und die Augen können sie auch nicht immer meiden, und wahrscheinlich wird sie etwas reden, daß man sie dabei anschauen muß. „Wie geht es dir Christian?“ wird sie fragen, und man muß etwas darauf antworten. „Gut“, wird man sagen, wenn es auch gelogen ist, und man wird nicht ersticken an der Lüge. „Weißt du noch …?“ Da macht sie eine kleine Pause und holt ein wenig Luft, und er wird bis auf den Tod erschrecken vor Freude, denn nun kommt das mit dem lebzeltenen Herzen, an der Schnur hat sie es über dem eigenen Herzen getragen; natürlich weiß er es noch. Wie kann sie glauben, daß er so etwas vergessen könnte? „Weißt du noch …“, fängt sie noch einmal an, „wie du uns im Winter über das Eis geführt hast?“ – Nein, davon will er nichts mehr wissen, und er zieht die Ruder mit einem scharfen Ruck an, damit er nicht zu antworten braucht. Wie breit ist der See für so ein kleines Boot, doch wenigstens über die Breite des Wassers gehört Helen ihm. Auf der andern Seite dann wird sie vor ihm herlaufen, sie wird ihn nicht mehr fragen, und auf einmal wird sie das Tor des Wirtshauses – Schwalben fliegen dort aus und ein – aufgenommen haben. Und der Knecht Christian hat sie wieder einmal brav heimgebracht.

Immer wird es so sein, er wird sie im Boot, im Wagen, im Schlitten irgendwohin bringen, unterwegs wird sie ihn vielleicht manchmal das eine und andere fragen, damit es auf dem Wege kurzweiliger ist. Oder sie will aus seinem Munde noch früher erfahren, was ihr dann im Gasthause die Weiber zuschnattern werden. Aber kaum ist das Haus in Sicht oder der Bahnhof, zu dem sie geführt sein will, gleich ist er nur mehr der Knecht. Und das soll so fortgehen die vielen Jahre hin, wenn er nicht aus der Gegend fortziehen oder irgendwo im Gebirge einen anderen Dienst annehmen will, damit er diesen verfluchten See vergißt. Wie aber könnte er diese Gegend verlassen, wo er der Helen doch noch manchmal begegnen wird. Zöge er fort, dann wäre sie für ihn fast so gut wie gestorben. Nein, er mußte der Knecht im Wirtshaus bleiben, der Knecht, dem manchmal befohlen sein wird, im Boot oder Schlitten auf die Tochter zu warten, und er wird das plätschernde Schaufeln der Ruder hören oder das helle Rauschen des Schellenkranzes am Halse des Pferdes. Aber nie mehr wird sie von ihm ein lebzeltenes Herz annehmen oder einen Reiter oder eine Puppe. Oh, eine Puppe, jetzt fängt das Herz erst recht zu brennen an. Nein, für den jungen Knecht Christian, der da in seinem dicken Pelz eine unförmige Gestalt ist, und ist doch nur ein schmächtiges Bürschchen, noch nicht einmal großjährig geworden, gibt es keine Flucht in das tiefe Gebirge; ewig wird er an diesem verdammten See bleiben müssen. Wie ein Pferd an dem Göpel, so ist hier der Knecht vor seine schmerzhaften Gedanken gespannt; immer treibt es ihn im Kreise herum.

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