Читать книгу: «El Raval», страница 3

Шрифт:

DAS UNBEKANNTE OPFER

Es war Donnerstag, der letzte Tag im Juli 1980. Die Nächte waren genauso unerträglich wie die Tage. Die Sommerhitze hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Temperaturen überstiegen am Tage die vierzig Grad Celsius und nachts wurde es nicht merklich kühler.

Es war sechs Uhr fünfzehn, als bei Pep das Telefon schellte, welches die Telefongesellschaft erst zwei Tage vorher installiert hatte. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, was diesen Lärm verursachte. Das erste Mal in seinem Leben wurde er privat angerufen.

Schlaftrunken ergriff er den Hörer des Telefons, welches direkt neben seinem Bett auf dem Nachtschrank stand.

Es war seine Dienststelle, die ihm mitteilte, dass auf den Ramblas del Raval eine Frauenleiche gefunden worden war.

Schnell zog Pep sich an und verließ eilig das Haus. Der Fundort der Leiche war nur wenige Minuten von seinem Zuhause entfernt und als er die Ramblas de Raval betrat, sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine riesige Menschenmenge. Es war gerade sechs Uhr fünfundvierzig und noch nicht einmal richtig hell. Die Kollegen der Guardia Civil waren schon vor Ort und damit beschäftigt, neugierige Schaulustige zu vertreiben. Unter ihnen war der Kollege Javier Fernandez, der ebenfalls versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Es dauerte eine Weile, bis Pep sich an den Ort des Geschehens durchgearbeitet hatte und das ganze Ausmaß des Grauens erkennen konnte.

Auf einer Parkbank saß eine Frau, die auf den ersten Blick zu schlafen schien, wäre da nicht die Blutlache gewesen, die sich vor ihr und über die gesamte Bank verteilte. Am Boden lag eine geöffnete Handtasche.

Die Dame war leicht bekleidet. Es war unschwer zu erkennen, dass sie eine Prostituierte war.

Doktor Montes kniete vor ihr und schaute von unten zu ihr hoch. Laura war damit beschäftigt, die Hände des Opfers zu untersuchen.

»Guten Morgen Pep«, begann die Forensikerin.

»Du wohnst nebenan und kommst als letzter?« Pep versuchte, die Bemerkung zu überhören und wandte sich an den Gerichtsmediziner.

»Kannst du schon was zum Todeszeitpunkt sagen, Doc?«

»Keine zwei Stunden, Pep, und das hier ist die Todesursache, mein Freund.

Doktor Montes fasste dem Opfer in die Haare und hob den Kopf an. Blut trat aus dem etwa dreißig Zentimeter langen Schnitt am Hals. Die Augen waren weit geöffnet. Pep war dermaßen erschrocken, dass er kurz davor war, laut loszuschreien.

»Siehst du, das ist der Beweis. Wenn das Blut noch nicht geronnen ist, kann sie eigentlich noch nicht lange tot sein. Du kannst sie ruhig anfassen, Pep, sie ist noch warm.«

»Ne, lass man, Doc, kannst du ihr nicht wenigstens die Augen schließen?«

»Gemach, mein junger Freund, alles zu seiner Zeit«, sagte Doktor Montes grinsend und zündete sich eine Zigarette an.

»Das ist ja ein Overkill«, mischte Laura sich ein.

»Was meinst du mit Overkill, Laura?«

»Das soll heißen, wenn ein Täter auf sein Opfer einsticht, obwohl es schon tot ist. Dann spricht man von einem Overkill. Daran kannst du erkennen, mit welchem Hass der Täter sein Opfer umgebracht hat.«

Laura deutete auf die zahlreichen Einstiche auf der rechten oberen Brustseite der Leiche.

»Hier kannst du sehen, dass kein Blut mehr Ausgetreten ist. Also war sie schon tot, als er sie noch mit dem Messer bearbeitet hat.«

»Hat sie sich gewehrt?«

»Kann ich noch nicht sagen, Pep, ich muss erst ihre Hände untersuchen.«

»Was meinst du, Laura, war es ein Raubmord?«

»Das glaube ich eher nicht. Wer mit solchem Hass sein Opfer tötet, hat es nicht auf Geld abgesehen.«

»Was ist mit der Tasche, die auf dem Boden lag? Hatte sie irgendwelche Papiere bei sich?«

»Die Tasche kannst du gleich mitnehmen, darin ist ein englischer Pass. Er wurde in Gibraltar auf den Namen Hellen Baker ausgestellt, sie ist neunundzwanzig Jahre alt.«

»Um Gottes Willen, da gibt es ja gleich was zu tun.«

»Ihr habt ab jetzt achtundvierzig Stunden, um Angehörige ausfindig zu machen. Dann wird sie verbrannt. Wir sind hier noch nicht so weit, dass wir sie bei solch einer Hitze länger in der Gerichtsmedizin behalten können.«

»Wir fahren gleich ins Präsidium und machen uns an die Arbeit«, sagte Pep und blickte suchend nach seinem Kollegen Xavi.

Inzwischen war der Leichenwagen eingetroffen und die Menschenmenge hatte sich verflüchtigt.

Der Kollege Javier Fernandez hatte sich geschickt aus der Affäre gezogen, indem er mit Hilfe der Guardia Civil die Neugierigen ferngehalten hatte.

»Ganz schon schlau, mein Freund«, sagte Pep lächelnd, »mich lässt du mit dem Desaster allein. Immerhin bist du dafür verantwortlich, dass ich bei der Polizei gelandet bin und nun lässt du mich die Suppe auslöffeln.«

Xavi lachte lauthals. »Trotzdem, wir sollten jetzt mal dort drüben in die Kneipe gehen und Kaffee trinken.«

Pep nickt zustimmend und so schlenderten sie in eine Cafeteria, die schmuddeliger nicht hätte sein können.

Es waren einige Wochen vergangen und Hellen Baker war schon fast in Vergessenheit geraten. Was niemand zu glauben gewagt hatte, wurde Realität.

MORD IN SERIE

Es war Donnerstag, der achtundzwanzigste August, als das Telefon schon früh bei Pep schellte. Er hatte mal wieder einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, was diesen Lärm verursachte. Selbst Mutter Maria war zwischenzeitlich von dem minutenlangen Schellen des Telefons erwacht, obwohl es im Zimmer ihres Sohnes auf einem kleinen Nachtschränkchen stand. Seine Dienststelle war am Apparat.

»In der Carrer de la Riera Nummer zwölf ist eine weibliche Leiche gefunden worden«, sagte sein Kollege aus der Polizeizentrale. Deine Mitarbeiter sind auch schon informiert.«

Mit einem »de acuerdo« bestätigte Pep den Anruf und zog sich aufgeregt an.

Eigentlich sah er keine Notwendigkeit, sich zu beeilen. Er hatte diesen Moment nicht unbedingt herbeigesehnt. Pep spürte die Nervosität, die ihn überkam. Es war die zweite Leiche in seiner noch so kurzen Karriere und das innerhalb weniger Tage.

Die Carrer La Riera war nur einen Steinwurf von der Gasse entfernt, in der Pep zu Hause war.

Als er dort ankam, war bereits die gesamte Straße abgesperrt. Das Haus mit der Nummer 12 wurde wie immer von einer Menge schaulustiger Leute belagert.

Pep musste sich durch einen Wust von Polizisten und Gaffern kämpfen, um an den Fundort der Leiche zugelangen. Beim Betreten des Hauses kam ihm ein furchtbarer Gestank von Moder und Urin entgegen.

Im hinteren Bereich des schmalen Hausflurs, der zur Kellertreppe führte, hatte der Täter sein Opfer abgelegt. Auf der rechten Seite führte eine steile schmale Stiege in die darüberliegenden Stockwerke. Hier hatten die Kollegen von der Spurensicherung eine Lampe aufgestellt, um in dem dunklen Flur etwas sehen zu können.

Erstaunlicherweise waren bereits alle seine Kollegen vor Ort, die ihn mit einem fröhlichen »buenos dias« begrüßten. Laura Velasquez, die sich über die Leiche beugte, konnte es sich nicht verkneifen, ihn mit einem »buenos dias, Pep, auch schon da?«, zu begrüßen. Langsam wurde es ihm peinlich, dass er immer der Letzte war, der am Ort des Geschehens eintraf.

Pep überhörte Lauras Bemerkung und wandte sich ab.

Doktor Montes war bereits so gut wie fertig mit seiner Arbeit.

»Kannst du mir schon etwas sagen?«, fragte Pep den Gerichtsmediziner.

Doktor Montes lächelte und entgegnete: »Außer, dass sie tot ist und dass sie dort, wo sie jetzt liegt, nicht getötet wurde, kann ich dir im Moment nichts sagen. Schau dir mal da vorn die Blutspuren an der Wand an, da hat der Täter sie umgebracht.« Er wies mit der rechten Hand in den vorderen Bereich des Hausflurs.

»Und wieder der gleiche Täter?«

»Sieht so aus, Pep. Wie du unschwer erkennen kannst, hat er ihr die Kehle durchgeschnitten und sie mehrmals in die Brust gestochen.«

»Also haben wir es hier mit einem Serientäter zu tun, der seinen Opfern erst die Kehle durchschneidet und dann noch unnötigerweise mit dem Messer auf sie einsticht.«

»Genauso ist es, Pep, aber das macht die Sache nicht besser«, sagte Montes mürrisch und wandte sich an seine Kollegin.

»Laura, lass sie in die Gerichtsmedizin bringen, wenn du hier fertig bist.« Montes steckte sich eine Zigarette an und entfernte sich wortlos vom Tatort.

Der Kollege Xavi war damit beschäftigt, sich die Namen einiger Leute zu notieren, die vor dem Haus neugierig wissen wollten, was dort im Inneren des Gebäudes passiert war.

Die alte Conchita, die betagte Ex-Hure, hatte sich natürlich auch schon eingefunden und wusste wieder mehr als alle anderen. Sie hatte bereits eine Traube von Menschen um sich geschart und war sich sicher, den Tathergang genauestens zu kennen.

Pep erkannte das Opfer sofort, obwohl der Leichnam sehr stark mit Blut verschmiert war.

»Das ist Melisa Agramontes«, bemerkte er kurz.

Laura Velasquez schaute ihn erstaunt an, ohne ein Wort zu sagen.

Die Blutspuren, die sich an der Wand im vorderen Bereich des Hausflurs befanden, waren zweifelsfrei von der Toten. Auf dem Boden im Eingangsbereich des Hauses lagen drei Zigarettenstummel der Marke Lola, die sorgfältig eingetütet und mitgenommen wurden.

Außerdem entdeckte Pep in der großen Blutlache im vorderen Bereich noch einige Fußspuren. Diese Spuren waren entweder vom Täter oder irgendeine Person war hier herumgetrampelt. Eine chaotische Situation. Pep bemerkte Leute, die sich Zugang verschafft hatten und die er nie zuvor gesehen hatte.

Laura Velasquez war die einzige, die die Lage im Griff zu haben schien. Pep kannte die Forensikerin als eine besonnene Kollegin, aber das sollte sich augenblicklich ändern.

»Wenn du nicht gleich dafür sorgst, Pep, dass die Leute verschwinden, die hier nichts zu suchen haben, schmeiße ich sie alle eigenhändig hinaus. Dies ist ein Tatort und kein Rummelplatz.«

Pep war so erschrocken, dass er umgehend tat, wie ihm geheißen wurde. Inzwischen schien Laura sich wieder beruhigt zu haben und wandte sich erneut ihrer Arbeit zu. Akribisch machte sie Fotos von den Fußspuren, die möglicherweise vom Täter stammen konnten.

Die Wände des Hausflurs waren bis zur Höhe von einem Meter fünfzig in einer hässlichen braunen Farbe gestrichen, an der auch schon der Zahn der Zeit genagt hatte. Die braune Farbe war an vielen Stellen bereits abgeplatzt und man konnte erkennen, dass die Wände einmal blau gewesen sein mussten. Laura hatte einige Stellen dieser Wand abgeklebt und suchte verzweifelt nach Fingerabdrücken.

Die Leiche war inzwischen abtransportiert und in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Laura hatte ihre Arbeit getan und packte ihre Utensilien zusammen.

»So, jetzt gehen wir erst einmal frühstücken«, sagte Pep und schaute die beiden am Tatort verbliebenen fragend an. »Und, was ist mit euch?«

Die Einladung sollte in erster Linie Laura gelten, die dem unerfahrenen Pep vor wenigen Augenblicken ein paar Worte gesagt hatte, die ihm sicherlich nicht gefallen konnten. Pep war anfangs etwas in seiner Eitelkeit gekränkt, aber er musste schnell erkennen, dass ihr Wutausbruch seine Berechtigung gehabt hatte. Er war der Verantwortliche am Tatort und hätte dafür Sorge tragen müssen, dass die Spurensicherung zunächst ihre Arbeit machen konnte. Eigentlich hatte er gelernt, dass niemand den Tatort zu betreten hatte, bevor die ›Spusi‹ nicht die vermeintlichen Spuren gesichert hatte. Das alles hatte Pep in seiner Aufregung außer Acht gelassen.

»Ich muss in die Forensik zurück, auf mich wartet noch ein Haufen Arbeit«, sagte Laura und entfernte sich.

Zurück blieben die beiden noch unerfahrenen Polizisten, die sich betont selbstbewusst gegeben hatten, wobei zumindest die aschfahle Farbe im Gesicht von Xavi etwas anderes andeutete.

Pep hatte sich dabei ertappt, dass er den Freund eine Weile am Tatort beobachtet hatte. Er war einmal mehr von der Gelassenheit seines Partners Javier Fernandez überrascht. Xavi versuchte, sich besonders cool zu geben, aber Pep kannte ihn besser: Das würde nicht spurlos an einem jungen Polizisten vorübergehen, der sich dafür entschieden hatte, im Dreck zu wühlen, obwohl er es gar nicht nötig hatte.

Pep musste an Xavis Vater denken, der durchaus in der Lage gewesen wäre, für seinen Sohn etwas Besseres zu finden. Javier Fernandez war intelligent genug, zu wissen, dass man mit ›Vitamina‹, wie man es nannte, alles machen konnte. Aber er wollte wohl sein eigenes Ding machen und außerdem schien er es zu mögen, mit Pep zusammenarbeiten zu dürfen. Für ihn war die Freundschaft zu seinem Kollegen Pep viel wichtiger als die Privilegien seines Vaters.

Die beiden entschieden sich für die Cafeteria Metro, die sich an den Ramblas del Raval befand.

*

Dem jungen Pep war eigentlich nicht nach Kaffee zumute, er spürte Traurigkeit und ein tiefes Mitgefühl für die Opfer. Seit seiner frühesten Jugend hatte er ein Faible für die Damen aus dem Milieu. Die Prostituierten hatten seine Kindheit geprägt.

Er hatte erkannt, dass man sich am besten bei den sogenannten Putas, den Huren, etwas Taschengeld verdienen konnte. Sie verdienten schnelles Geld und genauso schnell gaben sie es auch wieder aus. Zweidrittel der in El Raval lebenden Damen prostituierten sich und lebten vom Sextourismus der siebziger Jahre. Pep war im zarten pubertären Alter von dreizehn Jahren und dem weiblichen Geschlecht durchaus zugetan.

Alle Huren im Barrio Chino kannten den kleinen Pepito, den Sohn der Maria, der bereits im frühesten Kindesalter seiner Mutter im Geschäft helfen musste. Andere Kinder seines Alters begannen, die Touristen zu beklauen, die Frontscheiben der Autos zu reinigen oder zu betteln. Pep hatte sich für eine andere Variante entschieden. Er mochte die Damen aus dem Milieu und alle Huren waren geradezu vernarrt in den kleinen Zigeunerjungen.

Am liebsten waren ihm die Botengänge für Pilar. Sie war eine hübsche junge Hure mit langen schwarzen Haaren und üppigen Kurven. Sie war aus Andalusien, was man unschwer an ihrem Dialekt erkennen konnte.

Um etwas größer zu wirken, trug sie immer Schuhe mit hohen Absätzen und ein kurzes Röckchen über ihren wohlgeformten Beinen. Bei Pilar bekam er mal fünfundzwanzig, mal fünfzig Pesetas, wenn er für sie ein paar Besorgungen machte. Das war nicht wenig, eine Coca Cola, die er sich hin und wieder gönnte, kostete acht Pesetas.

Pilar wohnte in der Carrer Sant Martí, wo sie auch ihre Liebesdienste im ersten Obergeschoss anbot.

Er hatte sich schon einige Male heimlich gewünscht, einmal mit ihr die Stiege in den ersten Stock hinaufgehen zu dürfen. Klar waren fünfundzwanzig Pesetas viel Geld, aber hätte er nicht gerne mal auf das Geld verzichtet, wenn sie ihn einmal in die körperliche Liebe einweisen würde?

Diese Frage hatte Pep immer wieder verworfen. Er wusste, dass es diese Beziehungen‹ in ein paar Jahren nicht mehr geben würde. Erst einmal brauchte er Geld, um seine Bedürfnisse zu stillen und seiner Mutter nicht auf der Tasche liegen zu müssen und zum anderen hatte er sich im Laufe der Jahre einen beachtlichen ›Kundenstamm‹ aufgebaut, den er nicht verlieren wollte.

Zunächst begnügte sich der junge Pep mit ein paar Küsschen oder Umarmungen von Pilar und den Damen, für die er täglich Besorgungen machte.

Pep erinnerte sich an Maria Jesus aus der Carrer Sant Pau, seine ›Lieblingskundin‹. Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt und hatte riesige Brüste. Maria Jesus war Mallorquinerin und ihr langes blondes Haar gefiel nicht nur ihm, sondern auch ihren Kunden. Im Barrio war sie auch bei allen anderen sehr beliebt. In dieser Zeit machte man hier keine Unterschiede. Es gab keine Standesdünkel und Hure zu sein war nichts Anrüchiges. Die Menschen, die hier lebten, waren die Außenseiter der Gesellschaft und dementsprechend war der Zusammenhalt unter den Bewohnern dieses Viertels. Hier zählte nur der Mensch. Jeder hatte mit sich selbst genug zu tun und man respektierte sich. Die Begrüßung zwischen der etwas korpulenten Hure und ihm war immer sehr herzlich: die in Spanien üblichen Küsschen auf die Wange und noch eine Umarmung. Sie pflegte ihn immer an ihre großen Brüste zu drücken. Das allein war schon einen Besuch bei ihr wert. Darüber hinaus gab es bei Maria Jesus, sofern die Geschäfte gut liefen, immer hundert Pesetas. Sie schickte den kleinen Pepito permanent in den nahegelegenen Mercat de la Boqueria, um Lebensmittel, frisches Obst, Gemüse und andere Dinge zu kaufen.

Sie zählte zu den Topverdienerinnen im Barrio und er wunderte sich immer über die Menge, die er für sie einkaufen musste. Ihre Geschäfte gingen gut und sie war dafür bekannt, dass sie ihre Stammfreier bekochte. Ein außergewöhnlicher Service, für den sie von ihren Kolleginnen neidisch belächelt wurde. In El Raval nannte man sie La Cocinera, die Köchin.

*

Es war inzwischen vierzehn Uhr geworden. Zu dieser Zeit machte sich Pep immer Gedanken, wo er zu Mittagessen sollte. Für heute war sein Bedarf gedeckt.

Es war mal wieder unerträglich heiß und die Temperaturen waren in der Mittagszeit auf achtunddreißig Grad Celsius gestiegen. Die Geschäfte waren geschlossen und wer nicht unbedingt etwas zu erledigen hatte, versuchte, der Hitze entkommen.

Xavi und Pep beschlossen, sich auf den Ramblas ein schattiges Plätzchen zu suchen. Hier wehte von Zeit zu Zeit ein schwacher Wind, den das Meer in die Allee trieb. Der Tag war ohnehin für sie gelaufen, sie hatten keine Lust mehr auf eine Streife durch das Viertel. Beide waren für heute bedient.

Am nächsten Morgen stand Pep schon früh auf. Er hatte die Nacht zuvor schlecht geschlafen. Da war die nächtliche Hitze, die ihm zu schaffen machte und der gestrige Vorfall ging ihm nicht aus dem Kopf.

Er fuhr schon früh auf die Jefatura und ihm fiel auf, dass das Auto von Xavi auch schon in der Garage stand.

Er bevorzugte es, mit dem eigenen Auto zu kommen, das er sich gerade gekauft hatte, obwohl er nur einige hundert Meter entfernt wohnte.

Als Pep das Büro betrat, saß sein Kollege gelangweilt hinter seinem Schreibtisch. Es war erst acht Uhr dreißig und so früh war er noch nie im Büro gewesen.

»Was machst du denn schon so früh hier?«, fragte Xavi erstaunt.

»Das gleiche könnte ich dich fragen«, sagte Pep und konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. »Wir gehen gleich mal in die Pathologie und schauen, was der Doc sagt. Ich hoffe, dass Laura oder Montes uns schon etwas sagen können und außerdem muss ich noch beim Chef mündlich berichten.«

Es war inzwischen neun Uhr geworden und Pep hatte Xavi aufgetragen, mit dem Bericht zu beginnen. Das Schreiben auf der alten klapprigen Schreibmaschine beherrschte der Kollege Javier weitaus besser als er und so sollten diese unerfreulichen Berichte für Xavi zur allmorgendlichen für ihn Routine werden.

Pep war gerade dabei, sich eine Zigarette anzuzünden, als die Bürotür ohne Klopfen aufgerissen wurde. In der Tür stand sein Chef Comisario Lopez, der wie immer schon sehnsüchtig auf einen Bericht seiner Beamten wartete.

›Na, zu dem muss ich dann ja wohl nicht mehr‹, dachte Pep.

»Da habt ihr ja eure zweite Leiche«, bemerkte Lopez zynisch und lächelte. »Wenn ihr was habt, möchte ich das sofort wissen, und bitte den Bericht von gestern.«

«Okay Chef, Javier Fernandez ist gerade dabei, den Bericht zu schreiben und dann werden wir sofort in die Pathologie fahren, um weitere Einzelheiten zu erfahren«, beruhigte Pep seinen Vorgesetzten.

»Ich hoffe, dass Laura oder Montes uns schon etwas sagen können.«

Lopez machte eine abwinkende Handbewegung und verließ wortlos den Raum.

Nach mehrmaligen Anrufen in der Pathologie sagte man ihnen, dass Doktor Montes sich zurzeit noch außer Haus befände und erst um elf Uhr zur Verfügung stünde. Um elf Uhr dreißig war der Doc immer noch nicht zurück.

Zunächst gingen Pep und Xavi zu Laura ins Labor, die damit beschäftigt war, Fingerabdrücke und sonstige Spuren auszuwerten.

Das Ergebnis war ernüchternd: Es gab keine. Der Täter hatte peinlich darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Er hatte offensichtlich Handschuhe getragen.

Gerade dort hatte Pep sich etwas erhofft, weil er wusste, dass jeder Ausweis, jeder Pass und jede Aufenthaltsgenehmigung neuerdings mit einem Fingerabdruck versehen wurde. Somit waren Inhaber dieser Dokumente erkennungsdienstlich erfasst.

»Ich habe eventuell doch noch etwas für euch«, sagte Laura, »Fußspuren, die euch weiterhelfen könnten. Ich werde mal versuchen, herauszufinden, welchem Schuh das zugeordnet werden kann. Ich denke, dass ich richtig liege mit der Vermutung, dass das eine Art Sportschuh ist.«

Pep, der krampfhaft versuchte, eine Überleitung zu finden, um sich für den gestrigen Vorfall zu entschuldigen, nickte nachdenklich mit dem Kopf.

»Die Geschichte von gestern tut mir leid, Laura, soll nicht wieder vorkommen«, sagte Pep, dem es offensichtlich schwerfiel, diesen Satz über die Lippen zu bringen.

»Ist schon okay, Pep, ich möchte dich nur bitten, meine Arbeit in Zukunft zu respektieren.«

Laura wandte sich ab, während Pep noch eine Zeitlang in einer Art Schockstarre verharrte. Der unerfahrene junge Kriminalist hatte die Wichtigkeit der Forensik und die Tatsache, dass die Polizei eigentlich nur für das Grobe zuständig war, noch nicht erkannt. Für die Aufklärung eines Falles waren kleine Details von großer Bedeutung, wie Pep in seiner langen Karriere noch erfahren sollte.

Inzwischen war auch Doktor Montes eingetroffen, der die beiden Inspektoren schon erwartete.

Pep und Xavi betraten den großen Raum, der aussah wie ein Operationssaal. Das war das Reich des Pathologen Montes. Die Wände waren deckenhoch weiß gefliest und in der Mitte des Raumes stand ein großer Keramiktisch, der eigentlich nicht an einen Operationstisch erinnerte, sondern eher an eine Schlachtbank.

Über dem Tisch hing eine große Leuchte, die in den Operations-Sälen der Krankenhäuser verwandt wurden. Doktor Montes, der bereits alles für die Leichenschau vorbereitet hatte, steuerte auf den Tisch zu, auf dem ein Leichnam lag. Pep vermutete, dass sich unter dem weißen Tuch, das die Leiche bedeckte, Melisa Agramontes befände.

Der Doc hob das Tuch an und unter dem weißen Laken lag Melisa, die zu schlafen schien. Sie war vom Blut gereinigt worden und auf ihrer Brust war ein riesiger Y-Schnitt zu erkennen. Der Pathologe hatte die Leiche geöffnet und sie dann wieder fachgemäß zugenäht.

Eigentlich hatte sich Pep das alles viel schlimmer vorgestellt, er hatte etwas Angst vor diesem Augenblick gehabt. Ihn überkam ein Gefühl, das er nicht so recht erklären konnte. Es war einerseits ein Gefühl der Erleichterung, diesen Moment überstanden zu haben, anderseits übermannte ihn wieder große Traurigkeit.

»Wisst ihr schon, wer das ist?«, fragte der Doc.

»Das ist Melisa Agramontes. Sie stammt aus Calella.«

Doktor Montes schaute ihn fragend an und bemerkte, dass Xavi sich aus dem Raum entfernt hatte.

»Dem ist sicherlich etwas unwohl geworden, aber das ist nicht außergewöhnlich beim ersten Mal«, bemerkte Montes lächelnd.

»Diese drei Einstiche auf der rechten Brustseite waren nicht tödlich. Der Halsschnitt jedoch schon«, sagte der Doc, der auf den Schnitt wies, den er ebenfalls fachmännisch zusammengenäht hatte. »Der Schnitt wurde von rechts nach links ausgeführt, also hat der Täter hinter seinem Opfer gestanden. Er hat ihr die Kehle durchgeschnitten und anschließend dreimal in die Brust gestochen«, berichtete Doc Montes.

»Merkwürdig, genau wie bei der Engländerin. Ihr erst die Kehle durchschneiden und ihr dann dreimal in die Brust stechen. Was macht das für einen Sinn? Ist das ein Ritual?«

»Das herauszufinden ist deine Aufgabe, Pep. Die Tat wurde eindeutig mit der linken Hand ausgeführt. Also haben wir es mit einem Linkshänder zu tun.

Außerdem muss er einen scharfen Gegenstand benutzt haben, das hätte ich mit meinem Skalpell nicht besser machen können.«

»Was glaubst du, was er benutzt hat, um ihr den Hals durchzuschneiden?«, wollte Pep wissen.

»Wie gesagt, ein Schlachtermesser oder ähnliches, auf jeden Fall eine scharfe Klinge.«

»Hast du irgendwelche Abwehrspuren feststellen können«?

»Ich denke, dass sie keine Chance gehabt hat, sich zu wehren. Das Einzige, was wir finden konnten, war schwarzer Dreck unter ihren Fingernägeln und in ihrer Handfläche. Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Dreck vom Täter stammt.«

»Ist sie vergewaltigt worden oder hatte sie vor ihrem Tod noch Verkehr?«

Doktor Montes lachte lauthals. »Soll das ein Witz sein? Die hatte vor ihrem Tod einige Male Verkehr. Ich dachte, das war ihr Job?«

»Okay Ramon, du hast recht und ich denke, ich sollte mich jetzt mal um meinen Kollegen kümmern.«

Pep bedankte sich höflich und verließ die Pathologie, um nach seinem Freund zu sehen, der mit blassem Gesicht draußen auf ihn wartete. Zwei Tage so kurz hintereinander eine Leiche zu Gesicht zu bekommen war für Xavi offensichtlich zuviel.

Er wollte gerade anfangen, sich zu entschuldigen, als ihm sein Kollege Pep beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

»Lass man, Amigo, mir erging es auch nicht viel besser als dir. Aber da muss man durch.«

Pep berichtete Xavi auf dem Weg in die Jefatura von den Untersuchungen des Pathologen. Die Untersuchung hatte zwar keine neuen Erkenntnisse ergeben, aber immerhin hatte Montes die Linkshänder-Theorie bestätigt.

Es war inzwischen zwölf Uhr fünfundvierzig geworden und Pep entschloss sich, noch einmal bei seinem Chef vorbeizuschauen. Lopez konnte es nicht ertragen, wenn er nicht auf dem Laufenden war.

Xavi war inzwischen damit beauftragt, die Kollegen in Calella anzurufen, um den Wohnort der Angehörigen von Melisa herauszufinden.

Pep betrat das Amtszimmer von Lopez und berichtete in kurzen Sätzen von den neuesten Erkenntnissen der Gerichtsmedizin.

»Montes hat mir versprochen, Ihnen so bald wie möglich den Abschlussbericht zukommen zu lassen, Chef.«

»Nun gut, weißt, du wer das Opfer ist?«, wollte Lopez wissen.

»Ihr Name ist Melisa Argramontes und soviel ich bisher weiß stammt sie aus Calella.«

Lopez schaute Pep eine Weile nachdenklich an.

»Hatte sie Ausweispapiere dabei oder wie hast du das erfahren?«, fragte er neugierig.

»Ich komme aus El Raval, Chef, schon vergessen? Ich kannte sie, sie arbeitete in meiner Nachbarschaft«, bemerkte Pep ironisch. Wir werden noch heute versuchen, die Angehörigen zu ermitteln, um sie zu benachrichtigen.«

»Okay, raus jetzt und viel Erfolg«, sagte Lopez und schob seinen Ermittler zur Tür hinaus.

Die Kollegen in Calella hatten inzwischen ermittelt, dass in der Carrer de Jovara Nummer 217 in Calella eine Melisa Agramontes gemeldet war, obwohl es eine absolute Meldepflicht zu diesem Zeitpunkt in Spanien nicht gab und es somit immer etwas schwierig war, Personen ausfindig zu machen.

Bei der Leiche hatte man ein Papier gefunden, das auf Melisa Francisca Agramontes Garcia ausgestellt war.

Eigentlich hätten die beiden Inspektoren diese unerfreuliche Arbeit auch den ortsansässigen Kollegen überlassen können, aber für Pep war es eine Herzensangelegenheit, weil er Melisa kannte. Sie war Kundin seiner Mutter und Pep hatte sich einige Male mit ihr unterhalten.

Seine Unerfahrenheit war der Grund dafür, dass er sich um diese Aufgabe riss. Pep und Xavi sollten die Erfahrung machen, dass das Überbringen einer Todesnachricht nicht zur Lieblingsbeschäftigung eines Kriminalisten gehört.

Als die beiden Beamten in Calella ankamen, war es bereits später Nachmittag. Es hatte eine Weile gedauert, die Carrer de Jovara und das Haus mit der Nummer 217 ausfindig zu machen. Pep und Xavi gingen die steile Stiege hinauf, um in die erste Etage des Hauses zu gelangen. Auf dem Treppenaufgang kam ihnen eine ältere Dame entgegen, die wohl um die sechzig Jahre alt sein mochte.

»Entschuldigen Sie Señora, wir suchen eine Familie Agramontes-Garcia«, sagte Pep.

»Da sind Sie bei mir richtig. Was wünschen Sie?«

Pep zog seine Polizeimarke aus der Hosentasche und stellte sich und seinen Kollegen vor. »Haben Sie eine Tochter, die Melisa-Francisca heißt und in Barcelona wohnt?«

»Ja. Was ist mit ihr? Sie arbeitet in einem Schuhgeschäft auf den Ramblas in Barcelona.«

Pep zog das bei der Leiche gefundene Foto aus seiner Jackentasche und zeigte es Melisas Mutter.

»Ja, das ist sie, das ist meine Tochter.«

Pep wusste in diesem Moment, dass die Familie keine Kenntnis von der Arbeit Melisas hatte. Er musste sich ein wenig sammeln, bevor er fortfuhr.

»Señora, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Tochter in der letzten Nacht eines gewaltsamen Todes gestorben ist.«

Pep war erleichtert, dass die Nachricht ausgesprochen war, wobei es ihm unendlich leidtat, als er sah, wie die ältere Dame in sich zusammenbrach. Señora Agramontes war die Farbe aus dem Gesicht gewichen.

Xavi holte eilig einen Stuhl herbei und half Melisas Mutter sich zu setzen. Die leichenblasse Frau schien kurz davor, ohnmächtig zu werden.

Melisas Mutter schrie und weinte hemmungslos und Pep bemerkte, dass sich ein Kloß in seinem Hals bildete. Es war das erste Mal, dass er eine Todesnachricht überbringen musste und eines wurde ihm schlagartig klar: Dies war ein absoluter Tiefpunkt in seiner bisher so kurzen Laufbahn.

Nach einer Weile hatte sich Señora Agramontes wieder halbwegs gefangen und begann Fragen zu stellen.

»Es tut uns leid Señora, wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen. Wir können Ihnen leider noch nichts sagen.«

»Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte und Sie können mich jederzeit anrufen. Ich schreibe Ihnen hier eine Adresse auf die Rückseite der Karte und möchte Sie bitten, sich zur Identifizierung Ihrer Tochter bei Doktor Montes zu melden.«

Die beiden Inspektoren glaubten, dass jetzt der Moment gekommen sei, sich zu verabschieden.

Xavi versuchte, der alten Dame noch ein paar tröstende Worte zuzusprechen, dann machten sie sich schleunigst aus dem Haus.

399
669,35 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
280 стр. 1 иллюстрация
ISBN:
9783960082033
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают