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VII. Vertikale Vereinbarungen

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Neben den verbotenen Absprachen zwischen Wettbewerbern gehören auch bestimmte Wettbewerbsbeschränkungen zwischen Unternehmen auf verschiedenen Stufen der Produktions- bzw. Lieferkette, d.h. also im Vertikalverhältnis, zu den Kernpunkten wirksamer Compliance-Arbeit im Kartellrecht. Vereinbarungen zwischen Nicht-Wettbewerbern werden von nahezu allen Kartellrechtsordnungen weltweit im Grundsatz wohlwollender betrachtet als horizontale Vereinbarungen. Auch von bestimmten Vereinbarungen zwischen Nicht-Wettbewerbern geht jedoch ein kartellrechtliches Bußgeldrisiko aus. Dies gilt in besonderem Maße in Deutschland, wo vertikale Kartellverstöße bei den Verfolgungsaktivitäten des Bundeskartellamtes seit jeher eine wichtige Rolle einnehmen.

1. Typische vertikale Vereinbarungen

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Entsprechend dem oben dargestellten Regel-Ausnahme-Verhältnis des europäischen und deutschen Kartellverbots188 beurteilen sich vertikale Wettbewerbsbeschränkungen insbesondere nach der Gruppenfreistellungsverordnung für Vertikale Vereinbarungen Nr. 330/2010 (Vertikal-GVO) sowie den Vertikal-Leitlinien.189 Die Vertikal-GVO sieht für ihre Anwendbarkeit neben dem Vorliegen einer „vertikalen Vereinbarung“ – wie für GVOen üblich – auch eine Marktanteilsschwelle vor. Von der automatischen Freistellung der Vertikal-GVO können Vereinbarungen profitieren, die den Kauf, Bezug oder Weiterverkauf von Waren oder Dienstleistungen zwischen zwei Unternehmen betreffen, die für Zwecke der Vereinbarung auf verschiedenen Stufen der Produktion oder des Vertriebs stehen. Die Marktanteile von Lieferant und Abnehmer dürfen dabei auf keinem der von der Vereinbarung betroffenen Märkte einen Anteil von 30 % überschreiten. Zudem ist die Vertikal-GVO – entsprechend der Regelungstechnik aller GVOen – insgesamt unanwendbar, wenn die vertikale Vereinbarung mindestens eine sog. Kernbeschränkung enthält.

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Diese Kernbeschränkungen sind in Art. 4 der Vertikal-GVO aufgeführt. Der Einordnung dieser Beschränkungen als Kernbeschränkung liegt die durch die Gerichte bestätigte Auffassung der Kommission zugrunde, dass diese im Grundsatz eine Wettbewerbsbeschränkung bezwecken und eine Ausnahme vom Kartellverbot nach der Legalausnahme im Rahmen der individuellen Selbsteinschätzung grundsätzlich nicht in Betracht kommt.190 Verstöße gegen das Verbot dieser Kernbeschränkungen sind zudem unmittelbar bußgeldrelevant. Unter Compliance-Gesichtspunkten sind dabei insbesondere das Verbot der Preisbindung (Art. 4 lit. a Vertikal-GVO) und das Weiterverkaufsverbot im Hinblick auf Gebiete und/oder Kunden (Art. 4 lit. b Vertikal-GVO) von besonderer praktischer Bedeutung.191

1.1 Besonderheit für Handelsvertreter und andere Absatzmittler ohne vertrags- und marktspezifische Risiken

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Wie bereits oben angesprochen, gibt es auch Beschränkungen in vertikalen Vereinbarungen, denen die Europäische Kommission sowie das Bundeskartellamt, bestätigt durch die Gerichte, eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung gänzlich absprechen, da sie für das Zustandekommen einer kartellrechtlich neutralen Vereinbarung objektiv notwendig sind.192

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Ein Beispiel für derartige Beschränkungen im Kontext vertikaler Vereinbarungen sind Handelsvertreterverträge.193 Handelt ein Handelsvertreter – oder ein in diesem Punkt mit einem Handelsvertreter vergleichbarer Absatzmittler, wie z.B. ein Kommissionär – ohne vertrags- und marktspezifische Risiken für die von ihm oder dem Prinzipal vertriebenen Produkte, bildet er mit dem Geschäftsherren eine wirtschaftliche Einheit und infolgedessen sind alle Beschränkungen, die ihm im Hinblick auf diese Produkte auferlegt werden (wie z.B. eine Preis- oder Kundenbindung, Gebietsbeschränkungen etc.) vom Anwendungsbereich des Kartellverbots ausgenommen. So stellen die Kommission und die Gerichte sicher, dass diese Vertragsform, die letztlich durch eine vollständige Steuerungsmöglichkeit der Absatzpolitik des Handelsvertreters durch den Prinzipal gekennzeichnet ist,194 überhaupt gelebt werden kann. Die Folgen eines „verunglückten“ Handelsvertretervertrags in kartellrechtlicher Hinsicht sind gravierend: Die in Handelsvertreterverträgen vorgenommene Absatzsteuerung mittels Preis-, Kunden- und Gebietsbeschränkungen führt unweigerlich zu Kernbeschränkungen, sollte der Absatzmittler wegen der von ihm zu tragenden Risiken doch als Händler anzusehen sein.

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Die richtige Ausgestaltung von Handelsvertreterverträgen und die dort enthaltene vollständige Risikoübernahme durch den Prinzipal ist deshalb in der Praxis stets genau zu überprüfen.

1.2 Vertikale Preisbindung

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Verboten und sowohl von der Kommission195 als auch vom Bundeskartellamt196 regelmäßig mit substanziellen Bußgeldern belegt sind direkte oder indirekte Beschränkungen des Verkaufspreises des Abnehmers in einer vertikalen Vereinbarung, die die Wirkung eines Fix- oder Minimumpreises haben. Unverbindliche Preisempfehlungen und Höchstpreisbindungen sind dagegen zulässig, solange sie nicht wie Fix- oder Mindestpreisbindungen wirken (vgl. Art. 4 lit. a Vertikal-GVO).

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Das Verbot der Preisbindung im Vertikalverhältnis gehört zu den allgemein bekannten kartellrechtlichen Verboten. In Vertriebsverträgen finden sich direkte vertragliche Preisbindungen daher mittlerweile eher selten. Ein Einfallstor für eine Preisbindung können jedoch Regelungen zur Vorlage von Marketingplänen sein, wenn diese konkrete Pläne zur Vermarktung der Vertragsprodukte einschließlich Verkaufspreisen und/oder Rabatten enthalten. Auch sonstige vertragliche Regelungen, die entsprechend dem soeben gebildeten Beispiel einen Dialog oder einen irgendwie gearteten Konsens zwischen Lieferant und Vertriebspartner voraussetzen, um zu der aus Lieferantensicht richtigen Preissetzung zu gelangen, sind stets unzulässig. Die Praxis hat gezeigt, dass besonders hohe Bußgeldrisiken durch Marktstrukturen begünstigt werden, in denen Preistransparenz, Preisüberwachung und kontinuierliche preisbezogene Kommunikation zwischen Hersteller/Lieferant und Händlern stattfindet, die oft auch von horizontalen Elementen geprägt ist. Letzteres ist insbesondere dann der Fall, wenn z.B. konkurrierende Händler Markt-Konditionen beobachten und Lieferanten auffordern, „Preisbrecher“ unter Kontrolle zu bringen, um einen – auch aus Lieferantensicht – unerwünschten Preisrutsch zu vermeiden. So hat das Bundeskartellamt in seinem bisher größten vertikalen Verfahrenskomplex im Lebensmitteleinzelhandel (LEH) in den Jahren 2014 bis 2016 insgesamt 27 Hersteller von Bier, Süßwaren, Kaffee, Tiernahrung, Körperpflegeprodukten, Babynahrung und Kosmetik sowie die großen deutschen Lebensmittelhandelsketten mit Bußgeldern von insgesamt EUR 260 Mio. für vertikale Preisbindung sanktioniert.197 Die aus den Verfahren gezogenen Erkenntnisse für die Grenze zwischen zulässiger Preisempfehlung und unzulässiger Preisbindung veröffentlichte das Bundeskartellamt anschießend am 12.7.2017 in einem Hinweispapier zum Preisbindungsverbot im LEH.198 Dieses Papier ist, wenngleich auf den LEH zugeschnitten, auch in anderen Branchen von praktischer Bedeutung. Trotz der aktiven Rolle, die die großen Einzelhandelsketten in diesen Verfahren spielten, konnte das Bundeskartellamt letztlich keine ausreichenden Beweise für ein umfassendes horizontales Zusammenwirken in Form eines durch den Hersteller gemittelten Hub-and-Spoke-Kartells beibringen, was dann als horizontale Absprache geahndet worden wäre.199 Das Phänomen des Hub-and-Spoke-Kartells erfährt in Rn. 59f. des Hinweispapiers des Bundeskartellamtes dennoch eine eigene Erwähnung. Vergleichbare Formen von Preiskoordinierung haben auch in anderen EU Mitgliedstaaten sowie in Großbritannien in der Vergangenheit eine Rolle gespielt und zu hohen Bußgeldern geführt.200

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Im Zusammenhang mit der Aufdeckung und dem Abstellen vertikaler Kartellrechtsverstöße ist in der Praxis insbesondere auf indirekte Preisbindungsklauseln zu achten. Zu Beginn der Compliance-Maßnahmen muss deshalb vor allem klar sein, ob unverbindliche Preisempfehlungen (UVP) im Unternehmen eine Rolle spielen und, wenn ja, wie diese kommuniziert und genutzt werden. Liegen Umstände vor, die vom Abnehmer als Druck oder Anreiz verstanden werden, die UVP einzuhalten, birgt dies hohe kartellrechtliche Risiken für den Lieferanten.

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Indirekte Preisbindungen kommen zudem in Form von Festlegung bestimmter Höchstrabatte, Margen oder Gewinnspannen für den Abnehmer vor. Unzulässige indirekte Preisbindungen sind auch gegeben, wenn der Lieferant Mechanismen einsetzt, mit denen die Einhaltung bestimmter Verkaufspreise durch den Händler zwar nicht rechtlich bindend vorgegeben, aber inzentiviert oder bei entsprechenden Abweichungen sanktioniert wird.201 Kommission und nationale Behörden werten also auch Kündigungen oder angedrohte Kündigungen eines Vertriebsvertrages als Preisbindung, wenn diese vom Preisverhalten des Vertreibers motiviert sind.202 Das Bundeskartellamt hat in seinen jüngeren Bußgeldentscheidungen auch komplexe Rabattkalkulationen für den Vertreiber bzw. Folgegespräche zu vermeintlich zu geringen Preisen des Händlers als Verstoß gegen das Preisbindungsverbot mit Bußgeldern geahndet.203

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Ein interessantes Beispiel für die Verfolgungsarbeit des Bundeskartellamtes stellt das bereits 2012 durch das Amt abgeschlossene Bußgeldverfahren gegen TTS Tooltechnik wegen Preisbindung dar. Der Fallbericht des Bundeskartellamtes wurde von diesem selbst mit der Überschrift „Mündlichkeit schützt vor Strafe nicht“ betitelt:

Das Bundeskartellamt hat am 20.8.2012 eine Geldbuße in Höhe von EUR 8,2 Mio. gegen die TTS Tooltechnic Systems Deutschland GmbH (TTS D), wegen eines unzulässigen vertikalen Preisbindungssystems mit Druckausübung verhängt. Nachdem das Bundeskartellamt bereits im Jahr 2008 Beschwerden von Händlern erhalten hatte, die TTS D vorwarfen, sie unter der Androhung von Repressalien zur Einhaltung von Festpreisen zu zwingen, kontaktierte das Amt zunächst das Unternehmen. Nachdem die Beschwerden anhielten, eröffnete das Bundeskartellamt 2011 ein Verfahren. Anstatt das Unternehmen auf Beweise zu durchsuchen, startete das Amt eine Vernehmungsserie von Händlern als Zeugen204 des Preisbindungssystems. Diese waren als Zeugen nun verpflichtet, wahrheitsgemäß und vollständig zur Sache auszusagen.

Das Amt ermittelte aufgrund der Zeugenaussagen, dass das Preisbindungssystem mit Druckausübung durch TTS D zumindest seit dem Jahr 2000 angewendet wurde. Von den Händlern wurde die strikte Einhaltung der „unverbindlichen Preisempfehlung“ gefordert. Nötigenfalls wurde mit Drohungen gearbeitet – die Händler mussten mit Konditionenverschlechterung (Herabsetzung bis auf 0 % Einkaufsrabatt) bzw. der Kündigung ihres Vertrags rechnen. Dies wurde von den Außendienstmitarbeitern sowie von deren Vorgesetzten stets mündlich kommuniziert, um den Nachweis zu erschweren. Teilweise wurden die Drohungen tatsächlich umgesetzt, wenn Händler die UVP nicht einhielten. Die Kontrolle der Wiederverkaufspreise wurde durch Testkäufe von TTS D selbst überprüft. Außerdem gingen die Außendienstmitarbeiter den Beschwerden „preistreuer“ Händler nach und ließen sich von abweichenden Händlern z.B. deren Rechnungsunterlagen vorlegen. Händler mussten zudem ihre Werbemaßnahmen mit dem jeweiligen Gebietsverkaufsleiter der TTS D vorher abstimmen.

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Aus der jüngeren Vergangenheit ist insbesondere ein Bußgeldkomplex der Kommission aus 2018 geeignet, die ganze Bandbreite der „modernen Preisbindung“ aufzuzeigen.205 Die Entscheidungen dokumentieren sehr klar, dass es keine kartellrechtlich zulässige Interventionsmöglichkeit für Hersteller gegenüber Händlern gibt, um ein gewünschtes Preisniveau „zu sichern“. Dies gilt in verstärktem Maße in einem Wettbewerbsumfeld wie dem Online-Handel, in dem die Händlerschaft aufgrund der Nutzung von Algorithmen und Software besonders sensibel auf aggressive Angebote von Wettbewerbern reagiert, diese nahezu in Echtzeit beobachten und natürlich den Hersteller selbst durch Nachforderungen eigener Bezugskonditionen oder die direkte Aufforderung zur Intervention gegenüber anderen Händlern fortwährend unter Druck setzen kann. Um nicht in einen Strudel von Kartellrechtsverstößen zu geraten, sind klare Vorgaben zur richtigen Marschroute gefordert, die auch die Unternehmenskommunikation einschließen.

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Die Kommission hat am 24.7.2018 in vier verschiedenen Verfahren die Elektronikkonzerne Asus, Denon & Marantz, Philips und Pioneer mit Gesamtbußgeldern von EUR 111 Mio. für illegale Preisbindung gegenüber ihren Händlern in verschiedenen EU Mitgliedstaaten belegt. Die Unternehmen nahmen unabhängig voneinander vertikale Preisbeschränkungen in Form von Fest- oder Mindestpreisbindungen vor, indem sie die Möglichkeiten ihrer Online-Einzelhändler beschränkten, die Einzelhandelspreise für gängige Elektronikprodukte wie Küchengeräte, Notebooks und Hi-Fi-Geräte eigenständig festzulegen. Die vier Hersteller schalteten sich besonders bei Online-Einzelhändlern ein, die ihre Produkte zu niedrigen Preisen anboten. Wenn sich diese Einzelhändler nicht an die von den Herstellern verlangten Preise hielten, sahen sie sich mit Drohungen oder Sanktionen konfrontiert, wie etwa einem Belieferungsstopp. Viele Online-Einzelhändler, auch die größten, setzen Preisalgorithmen ein, durch die ihre Einzelhandelspreise automatisch an die Preise der Wettbewerber angepasst werden. Daher wirkten sich die Beschränkungen für die Online-Einzelhändler des Niedrigpreissegments auf die gesamten Online-Preise aus. Die Hersteller konnten durch hochentwickelte Überwachungssoftware die Wiederverkaufspreisbildung im Vertriebsnetz verfolgen und im Falle von Preissenkungen rasch eingreifen. Alle vier Unternehmen arbeiteten mit der Kommission zusammen. Ihre Geldbußen wurden von der Kommission entsprechend dem Umfang dieser Zusammenarbeit um 40 % (für Asus, Denon & Marantz und Philips) bzw. 50 % (für Pioneer) ermäßigt. Asus erhielt danach eine Geldbuße von EUR 63,5 Mio., Denon & Maranz von EUR 7,7 Mio., Philips von EUR 29,8 Mio., und Pioneer von EUR 10,2 Mio.

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Die Entscheidungen sind mit Beispielen für belastende interne und externe Unternehmenskorrespondenz gespickt, die die Preisbindungsstrategien der Hersteller dokumentieren.

1.3 Weiterverkaufsverbote

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Ein Per-se-Verbot an den Abnehmer einer vertikalen Vereinbarung, Vertragsprodukte außerhalb des zugewiesenen Vertragsgebietes oder einer zugewiesenen Kundengruppe zu verkaufen, ist ebenfalls eine kartellrechtswidrige Kernbeschränkung. Wie bei Preisbindungen ist das Risiko von Bußgeldern bei der Vereinbarung kartellrechtswidriger Gebiets- oder Kundenbeschränkungen hoch.206 Dies gilt insbesondere, wenn der grenzüberschreitende Handel durch ein Weiterverkaufsverbot betroffen ist, da die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes zu den erklärten Zielen der Kommission gehört.207

Die Kommission verhängte bereits im Oktober 2002 gegen den japanischen Videospielhersteller Nintendo und sieben seiner offiziellen europäischen Vertriebshändler Geldbußen in Höhe von insgesamt EUR 167,8 Mio. wegen der Einschränkung des Parallelhandels.208 Unter der Anführerschaft von Nintendo hatten die Unternehmen die Absprache getroffen, die Ausfuhr von Produkten aus Niedrigpreis- in Hochpreisländer zu verhindern und so die Preisunterschiede innerhalb des EWR künstlich hochzuhalten. Zwischen den Mitgliedstaaten unterschieden sich die Preise für bestimmte Spielekonsolen zeitweise um bis zu 65 %. Im Rahmen der Absprache verhinderten die Vertriebshändler Grauexporte aus ihren jeweiligen Gebieten, d.h. Exporte über inoffizielle Vertriebswege. Einzelhändler, die Parallelexporte durchgehen ließen, wurden durch Einschränkung der Lieferungen oder Lieferboykott „bestraft“. Das Bußgeld ist das bisher höchste, das die Kommission je für eine vertikale Zuwiderhandlung verhängt hat.209

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Ein weiteres praxisrelevantes Beispiel liefert die bereits zuvor angesprochene Bußgeldentscheidung der Kommission gegen den Elektronikkonzern Pioneer.210 Das Unternehmen hatte nicht nur die Preise für seine Produkte Händlern gegenüber gebunden, sondern auch Parallelhandel kartellrechtswidrig beschränkt. In ihrer Bußgeldentscheidung hat die Kommission zahlreiche Auszüge aus interner Originalkorrespondenz im Unternehmen veröffentlicht, die die Strategie des Unternehmens genau beschreiben. Diese Korrespondenz ist nicht nur eine erneute Ermahnung an Unternehmen, Weiterverkaufsverbote und Parallelhandelsverbote zu unterlassen, sondern belegt auch, wie fatal eine unvorsichtige interne Korrespondenz über Kartellrechtsverstöße ist.

So schreibt unter anderem ein Mitarbeiter von Pioneer France an die Obergesellschaft Pioneer Europa und die Schwestergesellschaft Pioneer Scandinavia wegen Produktlieferungen nach Frankreich (in freier Übersetzung der englischen Originalentscheidung): „Dies ist das dritte Mal, dass wir Produkte in der Rue du Commerce gefunden haben, die von [Händler R] stammen und jedes Mal stelle ich mir vor, wie viele Male dieser [Händler R] tatsächlich hier verkauft, ich nehme nicht an, dass es sich nur um 1 bis zwei Teile handelt. Nun reicht es. Ich muss wissen, was die Situation ist und natürlich welche starken Maßnahmen Pioneer Europe gegen [Händler R] einleiten wird. [...]“ Ein Mitarbeiter von Pioneer Europa schreibt daraufhin an einen Mitarbeiter von Pioneer Skandinavien: „Lieber [...], Leiten Sie sofort die erforderlichen Maßnahmen ein“. Der Mitarbeiter von Pioneer Skandinavien entschuldigt sich daraufhin beim Mitarbeiter seiner Muttergesellschaft Pioneer Europa wie folgt: „Lieber [...], ich bedauere die Umstände, die dies auf dem französischen Markt verursacht haben. Wir haben keine Intention, lokal auf diese Weise hinzuzugewinnen [...] Wir haben inzwischen die Zusage des Händlers, dies einzuhalten und er hat dies akzeptiert. Das Produkt wird nur noch durch sein eigenes Shop Netzwerk vertrieben [...] Bitte informieren Sie mich sofort, sollte es dennoch irgendwo auftauchen.“

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Art. 4 lit. b Ziff. i der Vertikal-GVO sieht praxisrelevante Ausnahmen vom Totalverbot der Gebiets- oder Kundenkreisbeschränkung für den sog. Alleinvertrieb oder exklusiven Vertrieb211 sowie für selektive Vertriebssysteme212 vor. Diesen Ausnahmen ist gemein, dass sie wörtlich und damit eng zu verstehen sind, eine Interpretation ihrer Grenzen also stets mit hohen Risiken behaftet sind. Des Weiteren kommt das Eingreifen der Ausnahmen nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen für ein exklusives bzw. selektives Vertriebssystem im Sinne der Vertikal-GVO überhaupt vorliegen.

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In einem Alleinvertriebssystem darf der Lieferant einem Händler bzw. Abnehmer nach Art. 4 lit. b Vertikal-GVO den aktiven Verkauf, d.h. die aktive Ansprache einzelner Kunden,213 in dem Gebiet bzw. an die Kundengruppe untersagen, die sich der Lieferant selbst exklusiv vorbehalten oder die er exklusiv einem anderen Händler zugewiesen hat (sog. Exklusivgebiete oder Exklusivkundengruppen). Dadurch dürfen Kunden des Händlers jedoch nicht im Weiterverkauf beschränkt werden. Stets frei bleiben muss zudem der sog. passive Vertrieb, d.h. die Reaktion auf unaufgeforderte Kundenbestellungen, zu dem auch der Internetvertrieb mittels einer Webseite zählt. In der Praxis bedeutet dies, dass ein absoluter Gebiets- oder Kundenschutz im Alleinvertriebssystem nicht möglich ist. Versuche, diesen durchzusetzen, sind mit hohen Risiken verbunden.

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Auch in Vertriebsverträgen neueren Datums finden sich in der Umsetzung dieser Vorgaben grobe Fehler, weil die Voraussetzungen der Vertikal-GVO missverstanden oder ignoriert werden. So wird z.B. ein aktives Weiterverkaufsverbot ausgesprochen, obgleich es innerhalb der EU überhaupt keine oder keine durchgängig exklusiv zugewiesenen Kundengruppen oder Gebiete gibt; oder es wird ein Weiterverkaufsverbot vereinbart, ohne dass in erforderlicher Weise zwischen dem aktiven, d.h. vom Vertreiber selbst veranlassten Verkauf und dem passiven Vertrieb, d.h. der Reaktion auf unveranlasste Kundenanfragen unterschieden wird. Schließlich wird der Händler nicht selten unzulässig verpflichtet, ein für ihn gültiges aktives Weiterverkaufsverbot auch an seine Abnehmer weiterzugeben.214

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Im selektiven Vertrieb muss es dem Händler stets freistehen, innerhalb des Gebiets, für das der selektive Vertrieb gilt, alle Endkunden, ungeachtet ihres Wohnsitzes, zu beliefern. Sowohl die aktive als auch die passive Weiterverkaufsbeschränkung ist innerhalb des Systems damit eine unzulässige Kernbeschränkung. Der Händler muss zudem frei bleiben, Querlieferungen an und Querbezüge von anderen zugelassenen Händlern im System zu tätigen, auch wenn diese in anderen Ländern angesiedelt sind. Ein Weiterverkaufsverbot innerhalb des selektiven Vertriebssystems ist damit auf den Verkauf an nicht zugelassene Händler beschränkt.215

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Wie im Falle der Preisbindung ist auch im Hinblick auf Weiterverkaufsbeschränkungen sorgfältig darauf zu achten, dass Exportbeschränkungen nicht indirekt vereinbart werden. Als indirekte Exportbeschränkungen qualifizieren u.a. die duale Preisstellung (d.h. die Vereinbarung höherer Preise für Produkte, die der Abnehmer exportiert, bzw. günstigerer Preise für vom Abnehmer im Inland vertriebene Produkte),216 die Verweigerung von Rabattgewährung für im Ausland verkaufte Produkte,217 Gewinnausgleichsverpflichtungen für Exporte an die in diesem Gebiet ansässigen Vertreiber218 oder Verweisungspflichten für Kundenanfragen von außerhalb des zugewiesenen Gebiets bzw. der zugewiesenen Kundengruppe.219 Von der Kommission als indirekte Exportbeschränkung gewertet wird auch die herstellerseitige Zusage von Garantieleistungen, die nur im Ursprungsland ihre Gültigkeit haben.220 Auch Verwendungsbeschränkungen stellen, etwa in der Form, dass der Abnehmer ein Produkt nur zur Weiterverarbeitung oder zum Eigenbedarf erwerben darf, eine unzulässige Weiterverkaufsbeschränkung dar.221

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Angesichts von Bußgeldern nationaler Behörden außerhalb der EU, wie insbesondere der Schweiz,222 ist zudem genau zu prüfen, inwieweit Exportverbote in Nicht-EWR-Länder gegen dortiges nationales Kartellrecht verstoßen und danach ebenfalls bußgeldpflichtig sein können. Ein Verstoß gegen EU-Kartellrecht ist bei Exportverboten außerhalb des EWR nur dann anzunehmen, wenn diese Exportbeschränkungen Reimporte in den EWR verhindern.

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