Читать книгу: «Angefühlt», страница 2

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Bruno lächelte und ließ seinen Kopf gegen das Polster der Lehne sinken. Er genoss, was er sah. »Sei so lieb und nimm deine Hände in den Nacken«, meinte er in einem Tonfall, als wolle er sich angewärmte Pantoffeln bringen lassen.

Julia verstand es als Anweisung wie alle anderen Sätze zuvor. Unmittelbar hob sie die Arme, bis ihre Ellenbogen eine Linie mit den Augen bildeten. Ihre Hände legte sie hinter ihren Hals und verschränkte dort die Finger.

»Was meinst du, Alexander?« Bruno sprach mich an, sein Blick ruhte aber auf Julia. Abschätzend. Gedanklich umspannte er ihre Taille. »So außergewöhnliche Wünsche wie deine begegneten mir bisher selten. Es wird einige Zeit in Anspruch nehmen, dieses Korsett zu nähen und zu komplettieren. Damit wir uns bei jedem Schritt gemeinsam ein Bild machen können, sollten wir es regelmäßig am lebenden Objekt begutachten, oder?«

Er hatte recht. Ich war zu ihm gekommen, weil ich ein Korsett suchte, das perfekt meinen Vorstellungen entsprach. Solche Kleidungsstücke liegen nicht im normalen Textilgeschäft aus, nicht einmal in einschlägigen Boutiquen war ich fündig geworden. Es gab kein Muster, an dem ich Bruno erklären und er sich orientieren konnte. Ganz bestimmt wäre es vorteilhaft gewesen, Brunos Bemühungen regelmäßig mit meinen Forderungen zu vergleichen. Auszuprobieren, ob meine Vorstellungen sich überhaupt umsetzen ließen. Trotzdem musste ich ihm widersprechen. Es gab keine Möglichkeit, das Korsett vor seiner Fertigstellung anzuprobieren.

»Nein«, antwortete ich also, »es tut mir leid. Die Frau, die ich in dieses Korsett verschließe, wird es spüren. Aber nie zu Gesicht bekommen.« Das stand für mich fest. Der wunderbare Anblick meiner ledergewordenen Fantasien sollte allein mir vorbehalten bleiben. Die Trägerin würde sich mit dem Gefühl begnügen müssen. Dieses Geschenk erschien mir wertvoll genug.

Bruno legte noch immer gedanklich Maß an Julias Taille. Er redete mit mir, ohne mich anzusehen. »So meine ich es nicht.« Er hielt den Kopf schräg und ich bemerkte, dass seine Blicke Julias Rücken hinauf und hinab wanderten. »Ich denke«, fuhr er fort, »wir haben hier eine vortreffliche Möglichkeit, das Korsett zu probieren. Zu jeder Zeit.«

Überrascht sah ich zu der Frau, die mit den Händen im Nacken neben dem Tisch stand. Ich war froh, dass sie scheinbar teilnahmslos an mir vorbei blickte – und so nicht sehen konnte, dass ich zurückhaltend ihren Körper begutachtete. Es war mir trotzdem unangenehm. Gewiss ahnte sie, was ich in diesem Augenblick tat.

»Also, was meinst du?«, fragte mich Bruno erneut, während er sich nach vorn beugte und die Augenbrauen nach oben zog.

Julia war schlank, fürwahr. Das konnte auch nicht das weiße Hemd verbergen, welches ihre Taille locker umhüllte. Trotzdem zweifelte ich. Mein Korsett sollte eine Frau tragen, die geschätzt fünfzehn Jahre jünger sein würde als Julia. Vielleicht sogar zwanzig. Es fiel mir schwer, Bruno darauf hinzuweisen. »Du kennst die genauen Maße«, antwortete ich ihm salomonisch. Das konnte er sowohl auf Julia beziehen als auch auf die Angaben, die ich ihm zur Anfertigung des Korsetts gegeben hatte.

Er nickte, aber beteiligte sich nicht an meiner Feinfühligkeit. »Sie wird in den nächsten Tagen abnehmen«, legte er wenig distinguiert fest. »Dafür sorge ich.«

Ein Seitenblick zu Julia bestätigte mir, dass sie diese Verhandlung über ihre Körpermaße – nicht anders musste es ihr vorkommen – regungslos hinnahm. Ich gebe zu, dass mich das beeindruckte. Sie hatte offensichtlich die Kontrolle und Bestimmung über ihren Körper abgegeben. In Brunos Verantwortung gelegt. Wie sehr musste sie ihm Vertrauen entgegenbringen. Und wie weit hatte sie ihm ihre Seele geöffnet, dass er davon Gebrauch machen konnte.

Bruno klatschte in die Hände und riss unser aller Aufmerksamkeit an sich. »Wann beginnen wir?«, fragte er tatendurstig und es schien, als wolle er auf der Stelle einen Lederballen aus dem Regal holen.

»Und wann beginnst du?« Alexander zeigt auf die Tasse, die vor Sarah auf dem Tisch steht. »Dein Tee wird kalt, wenn du länger wartest.« Er reckt den Kopf, als könne er die Temperatur optisch prüfen. »Wenn das nicht schon passiert ist«, ergänzt er dann.

Wortlos greift Sarah zu der Tasse, hebt sie an ihren Mund und trinkt einen Schluck. Sie bemerkt nicht, dass Alexander während des Erzählens – wenn auch spät – den Teebeutel für sie aus der Tasse gehoben hat. Sie spürt nicht, dass der Tee tatsächlich schon kälter geworden ist. Sie nimmt nicht einmal den leicht herben Geschmack auf der Zunge wahr. Sie begreift nur, dass sie schon wieder in dieses faszinierende Universum aus Bruno und Lia eingetaucht ist. So, wie es ihr geschah, als auch Bruno von ihm erzählte. Ebenso vor einem Vierteljahr, als sie bei Julia weilte. Sie fühlt sich in die feinstofflichen, geheimnisvollen Erlebnisse hineingezogen wie in einen übermächtigen Strudel. Ein nicht enden wollender Vortex, dem man ein Leben lang nicht entrinnen wird und dessen Fuß auf dem tiefsten Grund dunkler Leidenschaften aufsetzt. Faszinierend und gefährlich zugleich wie der Marianengraben. Lia hatte oft erwähnt, wie sehnsüchtig sie sich dorthin gewünscht hatte, nur ein einziges Mal, auch auf die Gefahr hin, dabei ohnmächtig zu werden. Erschrocken überlegt Sarah, ob sie selbst ebenso von einem Sog aus tiefem, dunklen Grund angezogen wird. Einer, der sie ins Verderben führen wird.

Als Alexander sie unvermittelt anspricht, verschüttet sie fast vor Schreck ihren restlichen Tee.

»Weißt du, Sarah«, beginnt er, »ich habe dich beobachtet. Als wir im Sommer bei Julia waren und sie aus ihrem Leben erzählte. Du wirktest auf mich wie ein junges, zartes Pflänzchen, dessen Wurzel zum ersten Mal die Nähe eines Flusses spürt. Du warst so aufmerksam, so sensibilisiert, dass du jeden Tropfen der Erzählungen von Julia herbeigesehnt und aufgesaugt hast. Damals dachte ich, dass du deinen Nährboden gefunden haben und auf ihm gedeihen wirst.« Alexander lehnt sich zurück. »Das ist schon ein Vierteljahr her.«

Sarah nimmt noch einen Schluck Tee. Als sie schluckt, empfindet sie das Geräusch furchtbar laut.

»Während ich dir eben erzählt habe, wie ich Julia kennenlernte, beobachtete ich dich erneut.« Alexander wirkt wie ein Juror, der das Zustandekommen eines Prüfungsergebnisses erläutern möchte. Seine linke Hand liegt auf einem Oberschenkel, mit der rechten reibt er konzentriert Daumen und Zeigefinger aneinander. »Was glaubst du, welchen Eindruck du heute vermittelst?«

Sarah setzt sich aufrecht. »Ich war etwas gedankenversunken«, antwortet sie schnell und will sich für den fast verschütteten Tee entschuldigen. »Bitte verzeih mir das.«

»Unsinn.« Alexander sieht ihr scharf in die Augen. Er legt seine Hand flach auf den Tisch und sie klopft wie der Hammer eines Richters, der das Urteil verkündet. »Du bist das gleiche zarte Pflänzchen wie vor ein paar Monaten. Vollkommen identisch. Das meine ich. Du sehnst und reckst dich weiterhin. Aber obwohl du längst weißt, wie greifbar nah das Flussbett ist, wächst du nicht.« Die Hand klopft ein letztes Mal. Laut. »Du hast Angst, dass dich die Strömung in die Tiefe reißt.«

Marianengraben, denkt Sarah. Immer wieder. Marianengraben. Der dunkle Grund. Nie hat sie Julias Faszination für den Sog nach unten besser nachempfinden können als jetzt. Es fehlt nur ein Windhauch, um sie endlich in die Fluten zu stürzen. Innerlich bettelt sie darum, dass Alexander auch das erkennt. Mit zittrigen Fingern stellt sie ihre Tasse ab.

Alexander beugt sich nach vorn. »Ich verrate dir etwas«, raunt er. Seine Augen werden schmal und sein kantiges Gesicht besteht aus tief überzeugter Ernsthaftigkeit. »Du wirst es anfühlen.«

Da ist er, der Hauch. Sarah weiß, dass sie gerade jede Form von Halt verliert. An diesem Nachmittag mit seinem unscheinbar trüben Herbstwetter ändert sich ihr Leben. Sie wird den Fluss kennenlernen. Der Mann, der ihr gegenüber sitzt, hat sich hinter ihren Rücken geschlichen und sie vom Ufer gestoßen. Die Frage, wann sie sich in das kalte Wasser traut, stellt sich nicht mehr.

»Aber wie?«, flüstert Sarah und schaut ihm in die Augen. In ihrer rechten Halshälfte pumpt ein bleischwerer Puls, der fast keine Kraft zum Atmen lässt.

Alexander verschränkt die Arme. Überlegt. Mindestens sechzig Pulsschläge lang. Dann beginnt er, langsam mit dem Kopf zu nicken. »Ich kann dir helfen«, sagt er. Es klingt nicht wie eine Option, sondern wie ein Entschluss.

Sarah sitzt regungslos. Ihr »Wie« behält Gültigkeit. Stocksteif wartet sie auf sein Angebot. Und die Bedingungen.

Alexander greift mit der Hand nach hinten. Als er sie wieder auf den Tisch legt, hält sie ein dünnes Notizbuch in schwarzem, weichem Einband. Es ist kaum größer als eine Streichholzschachtel. Sorgsam schiebt Alexander einen Zeigefinger zwischen die Seiten und klappt das Büchlein auf. »Ich denke, Sarah«, sagt er langsam, während er blättert und sich in den Winkeln seiner Augen Fältchen bilden, »ich denke, dass ich dich mitnehme auf eine kleine, private Feier.« Er tippt mit dem Finger auf einen kritzeligen Eintrag in dem Büchlein. »Da haben wir es doch«, meint er zufrieden. »Dort begegnest du Menschen, die deine Fantasien nicht nur tolerieren, sondern auch verstehen.« Alexander hebt den Kopf und pfählt seinen Blick direkt in Sarahs Augen. »Und ausleben.«

Sarah weicht zurück. Ausleben? Sie stellt sich fremde, nackte Körper vor, die sich klebrig verschwitzt an sie drängen. Nach ihr greifende, fleischige Hände. Das unangenehm aufkeimende Bewusstsein, nicht mehr »Nein« sagen zu können. Das geht ihr zu weit. Das ist ihr zu schlammiges Wasser. Für den Moment jedenfalls.

»Du brauchst keine Angst haben«, versichert Alexander, der Sarahs unscheinbare Körperbewegung bemerkt hat. »Ich werde unablässig an deiner Seite bleiben. Niemand wird es wagen, dich anzurühren.«

Sarah stellt sich in Alexanders Begleitung vor. Er ist beeindruckend groß, kräftig, sein kantiges Gesicht flößt Respekt ein. In seiner Obhut sieht sie sich inmitten der gierigen Menschenmenge, doch vor ihnen öffnet sich stets eine Gasse. Sie wird in seinem Kielwasser keinen weiteren Schutz brauchen. Ihr Einsatz reduziert sich auf den notwendigen Mut. Ohne diesen, ahnt sie, wird es nie einen Anfang geben. Und kein Wurzelwachstum.

»Was denkst du darüber?«, erkundigt sich Alexander. Mit einer Handbewegung klappt er den schwarzen Einband zu. »Ich gehe davon aus, dass du das Angebot annimmst.«

Sarah weiß, dass sie nicht ablehnen kann. Sie erinnert sich an den Brief von Bruno, der gefaltet in ihrer Manteltasche ruht. Sie wird den Einen nur finden, solange sie sucht. Wann will sie damit beginnen, wenn nicht jetzt?

»Vielleicht«, taktiert sie.

»Vielleicht?« Alexander lacht brüskiert. »Ein besseres Angebot wirst du nicht bekommen!« Er schüttelt den Kopf und lässt das Büchlein auf die Tischplatte fallen. »Weißt du … Du kannst fürwahr auch ohne Begleitung und Schutz deine ersten Versuche unternehmen. Ich sage dir aber eines, Sarah. Das sichere Anschleichen ist vorüber. Jetzt musst du springen. Tust du es allein, wirst du keinerlei Deckung haben. Ich kenne einige, die sich dabei heftig verschätzt haben und nicht mit heiler Haut davongekommen sind.« Abschätzend blickt er über den Tisch. »So, wie du hier vor mir sitzt, so schüchtern, still und unentschlossen, reißen dich die Krokodile im Fluss auseinander. Sofort. Das meine ich ernst.« Alexander überlegt kurz, dann beugt er sich nach vorn. Er spitzt die Lippen und spricht mit tiefer, langsamer Stimme: »Du bist Frischfleisch.« Das wirkt so furchteinflößend, als zöge er nasse Lefzen nach oben.

Sarah schaudert es. Krokodile. Sie sehen aus wie dieser Mann, von dem Julia vor einem Vierteljahr erzählt hat. Der Lia verfolgte und missbrauchte. Ein Krokodil namens Robert im langen, schwarzen Ledermantel und mit ekelerregender Gelhaarfrisur. Und sie, Sarah, will solchen Ungeheuern kühn vor das Maul springen?

»Samstagabend. Nur unter meinem Schutz.« Selbstsicher lehnt sich Alexander zurück und verschränkt die Arme. »Gib mir deine Adresse und ich hole dich ab.«

Sarah nickt. Wenn das der Weg ist, gefahrfrei schwimmen zu lernen, sollte sie nicht länger zögern. Alexander ist zuverlässig. Freundlich. Kein Krokodil. »Vielleicht«, sagt sie mutiger. »Samstagabend vielleicht.«

Alexander löst seinen Blick. Seine ernsthafte Mimik ist für eine Sekunde mit einem Lächeln glasiert. Dann blättert es schon wieder ab. Er hebt die Hand. »Zahlen bitte!«, ruft er und es dauert nur einen Augenblick, bis die blonde Frau mit dem Notizblock neben ihm steht.

Sarah fühlt sich plötzlich unwohl. Sie weiß nicht, wie sie das Lächeln interpretieren soll. War es mitleidsvoll? Freudig? Oder dämonisch? Sie fragt sich, ob sie zu viel Vertrauen in einen Mann setzt, den sie zum zweiten Mal in ihrem Leben begegnet ist. Ob sie überhaupt in der Lage ist, Krokodile zu erkennen, selbst wenn sie an Land sind.

»Einmal Kaffee, einmal Tee. Geht das einzeln?« Die blonde Frau kratzt sich mit der Rückseite des Kugelschreibers hinter dem Ohr und blickt hin und her.»Auf keinen Fall«, antwortet Alexander unmittelbar. »Die hübsche Frau gehört zu mir.« Er greift in die Hosentasche und legt ein paar Münzen auf den Tisch. »Das stimmt so.«

Sarah genießt dieses »zu mir gehören«. Es klingt aus Alexanders Mund besitzergreifend und beschützend zugleich. Weicher Honig fließt über raue Zweifel.

»Sehr freundlich«, sagt die Frau, streicht mit der Handkante die Münzen ein und lässt sie in ihr Portemonnaie fallen, das seitlich an ihrem Gürtel hängt. An den Henkeln zieht sie die Tassen vom Tisch. »Danke für Ihren Besuch«, verabschiedet sie sich schließlich ebenso diplomatisch, wie ihre Begrüßung klang.

Alexander kommentiert es diesmal nicht. Stattdessen erhebt er sich, schiebt sein Büchlein in die Hosentasche und holt die Mäntel von der Garderobe.

»Es wird Zeit«, sagt er, während er Sarah in die Ärmel hilft und ihr fürsorglich den Kragen im Nacken zurechtrückt. »Draußen wird es schon dunkel.«

Sarah bedankt sich leise. Sie ist beeindruckt von der Aufmerksamkeit, mit der Alexander sie umgibt. Das schmeichelt ihr. Und es macht ihn noch attraktiver. Als er ihr die Tür öffnet und sie an ihm vorübergeht, lächelt sie ihm zu. Mit einem platzierten Augenaufschlag.

»Wie kommst du nach Hause?« Er schaut ihr nach und lässt dann den Türknauf aus der Hand rutschen. Schnell ist er wieder an ihrer Seite.

Wahrscheinlich, denkt Sarah, wird er sie ein Stück mitnehmen wollen, denn sie ist zu Fuß unterwegs. Nicht, weil die Entfernung zum Friedhof kurz gewesen wäre. Sondern weil sie sich auf dem Weg hierher Zeit genommen hatte. Für eine letzte langsame Annäherung an den Menschen, der das Epizentrum all jener Dinge bildete, die sich seit ihrem Zusammentreffen verändert hatten. Es gab Bruno nicht mehr, aber er blieb ein seismografisches Ereignis in ihrem Leben. All dem hatte sie nachgespürt, als sie durch das neblig trübe Wetter und mehrere Parks spaziert war.

»Ich spaziere zu Fuß«, antwortet sie, denn sie möchte in Ruhe einen sicheren Stand finden nach dem neuerlichen Nachbeben.

»Wie weit?«, bohrt Alexander nach. Im Gehen schließt er seinen Mantel und angelt sich dann ein Lakritzbonbon aus der Tasche.

Sarah überlegt. Die einsamen Parks wird sie auf dem Rückweg meiden, denn es ist bereits dunkel und der Nebel hat stark zugenommen. »Eine Stunde werde ich unterwegs sein.« Das ist kühn geschätzt.

Alexander zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Nicht bei dem Wetter. Ich will, dass du sicher nach Hause findest.« Er wendet sich zur Seite, hebt einen Arm und winkt einem Taxifahrer, der am Ausgang des Friedhofs neben seinem Fahrzeug steht.

Sarah ist beeindruckt, wie kompromisslos Alexander ihre Zustimmung annimmt. Sein unumstößliches Selbstverständnis. Sie spürt die Fürsorge, die von ihm ausgeht. Eine verlässliche und beständige Aura aus wohliger Wärme, innerhalb derer ihr nichts zustoßen kann. Am liebsten würde sie sich komplett einhüllen lassen von diesem Mann.

»Übrigens«, sagt Alexander, »habe ich der Bedienung im Café mit keiner Silbe gesagt, dass wir auf den Zucker verzichten. Du hattest vollkommen recht. Und ich wusste das auch.« Er lächelt so spitzbübisch, dass seine Augen schmal werden und sich die kantigen Backen heben.

Sarah ist irritiert. Sie erinnert sich, wie vehement er es abgestritten hatte, als sie ihn auf den vermeintlichen Fehler hinwies. Fragend schaut sie zu ihm herauf.

»Ich wollte sehen, wie du reagierst, wenn du zwar im Recht bist, aber keinesfalls in der Position, darauf zu bestehen. Du hast es nicht auf einen Streit ankommen lassen. Stattdessen hast du klug verzichtet, eine Nichtigkeit zu diskutieren. Die Blonde im Café beherrschte das nicht. Ihr hätte es gut gestanden, mich freundlich zu grüßen, anstatt belehrend zu erklären, warum sie es bis dahin nicht getan hatte. Ich wusste im voraus, dass du anders reagieren würdest. Wie angekündigt wollte ich dir das demonstrieren.« Alexander hebt die Hände. »Voilà. Da hast du den Beweis.«

Sarah schweigt. Es gibt nichts, was sie hinzufügen möchte. Lediglich den Umstand, nicht in der Position für einen Hinweis gewesen zu sein, wird sie noch überdenken.

Das Taxi fährt schwungvoll vor. Alexander öffnet galant die Tür auf der Beifahrerseite und deutet Sarah, Platz zu nehmen. »Deins«, erläutert er kurz und knapp. »Und zwar bis vor die Haustür. Keine Widerrede.«

Sarah nickt. »Danke für die Einladung«, sagt sie und überlegt, ob sie aus Höflichkeit einen Knicks machen sollte. Doch bevor sie zu einem Entschluss kommt, spürt sie Alexanders Hand auf ihrer Schulter, die sanft nach unten drückt. Wie ein Blitzlicht taucht in ihren Gedanken Lia auf, die vor Bruno auf die Knie sinkt, seiner Hand und seinem Druck folgend, wie sie schließlich ein kleines Stück Boden zu seinen Füßen in Anspruch nimmt und den Kopf senkt. Als sich Sarah rückwärts fallend auf den Beifahrersitz rettet, fühlt es sich an wie eine Ohnmacht.

Sie hört die Stimme des Taxifahrers, aber sie ist in Gedanken, weiß gar nicht, ob er sie gemeint und was er gesagt hat. Um sie herum zieht ein Strudel nach unten.

Alexanders Worte dringen zu ihr durch. »Er braucht das Fahrtziel.«

Natürlich, die Adresse. Sarah sagt sie ungelenk auf wie einen auswendig gelernten Text, während sich Alexander in das Fahrzeuginnere beugt.

Er nickt, dann reicht er dem Taxifahrer einen Geldschein. »Das stimmt so.«

Sarah greift nach Alexanders Unterarm. Im gleichen Moment verstummt ihr Dschungel aus Wurzeln, Krokodilen und reißendem Wasser. »Ja«, sagt sie unvermittelt in die Stille und sieht herauf. »Ja. Ich nehme dein Angebot an.«

Sein Blick wandelt sich in ein Lächeln. Aber diesmal empfindet es Sarah nicht als dämonisch. Eher als wissend. Als habe er längst geahnt, wie sie sich entscheiden wird.

»Wir sehen uns«, antwortet er und nickt ihr zu. Nicht mehr und nicht weniger. Dann schließt er die Tür von außen und bleibt mit den Händen in den Taschen am Straßenrand stehen, bis das Taxi den Platz verlassen hat.


Kapitel Zwei

Der Abend ist klar und kalt wie pures Eis. Sterne stechen wie glänzende Nadelspitzen Licht in den tiefschwarzen Nachthimmel.

Sarah schließt ihren Mantel, aber die frostige Luft kriecht von unten herauf, beißt sich an den Waden vorbei bis in die Oberschenkel. Elegant, hatte Alexander gebeten, elegant solle sie sich kleiden, und als sie gefragt hatte, was er darunter versteht, hatte er ihr einen außergewöhnlichen Theaterbesuch als Vergleich genannt. Nicht glamourös sollte sie wirken, aber besonders.

Nach einigen Überlegungen hatte sie sich für das lange, ärmellose Neckholderkleid entschieden, aus unschuldig weißem Taft, mit einem nicht zu weiten Ausschnitt, dafür im Rücken geschnürt mit breiten, sich überkreuzenden Stoffstreifen. Die Haare hat sie eingedreht und hochgesteckt, sodass der Verschluss des Kleides sichtbar bleibt, der ein breites Band um ihren Hals bildet. Als sie sich vor dem Spiegel drehte und dabei erahnte, wie sehr sie auf dem Weg zur Veranstaltung die kalte Luft aufwirbeln wird, mussten ihre Pumps Schnürstiefeletten mit Absatz weichen. Und schließlich griff sie im letzten Moment noch zu einem schmalen Gürtel, den sie locker um die Taille legte.

Alexander streckt sich, beugt den Körper vor und zurück. Eine Stunde sind sie gefahren bis hierher, in seinem flachen Sportwagen, dessen Schnelligkeit er lobte, während er die Enge verschwieg. »Du kommst zurecht?« Seiner Stimme folgt ein feiner, hauchgewordener Atem.

Sarah nickt. »Mir ist ein wenig kühl«, untertreibt sie und verschränkt die Arme vor dem Mantel. Unter ihm verbirgt sie ein Zittern, das nicht nur von Kälte, sondern auch von Aufregung getrieben wird. Sie war noch nie zu einer Veranstaltung eingeladen, auf der ihre Leidenschaft eine wesentliche Rolle spielt. Es geschieht überhaupt zum ersten Mal in ihrem Leben, dass sie sich zu ihrer Neigung so öffentlich bekennt. Seit Tagen hat sie überlegt, wie es sich anfühlen wird, plötzlich Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein. Nicht nur von Anderen zu wissen, sondern auch damit umzugehen, dass man über sie weiß. Stets erlag sie kleinen, aber hinterhältigen Panikattacken, wenn sich der näherrückende Termin im Kalender aufdrängte. Mehrfach erwog sie, die Einladung doch noch auszuschlagen, ihre Zusage zurückzunehmen, sich notfalls zu verkriechen. Aus Angst vor den Menschen, denen sie begegnen wird. Was, fragt sie sich, sollten es lauter Krokodile mit Gelfrisur sein, die sich im Schlamm abartiger Fantasien suhlen und auf Frischfleisch warten? Wie soll sie mit ihrer blütenweißen Neugier vom Flusswasser probieren, während es von unten her nach ihr schnappt?

»Sie sind alle wie du«, versichert Alexander. Ihm ist Sarahs Zittern nicht entgangen und er weiß, dass ihr die Kälte nur ein Vorwand ist. »Du brauchst dich niemandem erklären.« Kurz überlegt er und lächelt dann. »Wenn du in die Oper gehst, musst du deinen Musikgeschmack nicht vor dem Sitznachbarn rechtfertigen, oder?«

»In der Oper«, kontert Sarah, »gibt es keine Krokodile.« Es klingt schärfer, als es gemeint ist, weil ihr die Kälte auf den Oberkörper presst.

Alexander überlegt kurz, dann begreift er. »Du stehst heute unter meinem Schutz. Das habe ich dir versprochen.« Er legt eine Hand an Sarahs Oberarm und reibt über den Stoff des Mantels. »Vertrau mir.«

Würde sie das nicht tun, denkt Sarah, bliebe sie nicht hier. Bislang hat sie keinen Grund, misstrauisch zu sein. Letztendlich wäre es dafür ohnehin zu spät, nachdem sie Alexander im Taxi unfreiwillig ihre Adresse genannt hatte. Als er sie heute abholte, überzeugte er in einem feinen Smoking, mit einer weißen Fliege, die unabgesprochen zu ihrem Kleid passte. Und mit einem Kompliment, das so spontan aus seinem Mund kam, dass es nichts anderes als ehrlich gemeint sein konnte. »So schön und geheimnisvoll wie eine Seerose siehst du aus«, hatte er gesagt. »Fürwahr. Wunderschön.« Und dann fehlten ihm einen Moment lang die Worte, bis er sich schließlich guter Manieren entsann und sie höflich begrüßte.

»Ich vertraue dir«, bestätigt Sarah. Sie schaut zu Alexander auf und versucht ein sicheres Lächeln. Es gelingt ihr halbwegs.

»Eines noch. Ich werde dich heute Abend nicht mit deinem richtigen Namen anreden. Jeder hier macht das so. Selbst wenn man sich persönlich bekannt ist.« Alexander sieht sie eindringlich an. »Es geht um Diskretion. Und um Sicherheit. Auch um deine.«

Sarah holt tief Luft. Plötzlich fühlt sich der Abend doch nach Risiko an. »Ich vertraue dir«, wiederholt sie schnell. Ein Mantra, mit dem sie sich selbst Mut zuspricht. »Aber das hättest du mir wirklich früher sagen können.«

»Wozu?«, entgegnet Alexander ungerührt. »Es ist rechtzeitig genug.« Er schaut an ihr herab, überlegt kurz und kneift dabei die Augen zusammen. »Rose wirst du heißen. Das passt.« Er spricht das Wort amerikanisch, höhlt das O und unterdrückt das E. »Rose.«

Das klingt furchtbar pathetisch, denkt Sarah und kann sich trotz ihrer Unruhe ein Lächeln nicht verkneifen.

»Dein Kleid«, erklärt Alexander, »fiel mir zuerst auf, als ich dich heute Abend abholte.«

Sarah nickt verlegen. »Eine frierende Seerose in eiskaltem Wasser«, komplettiert sie sein Bild. Bereits bis zur Hüfte hinauf fühlt sie sich unterkühlt.

Alexander reibt die Hände aneinander und atmet eine weitere Nebelwolke in die Luft. »Du hast recht. Wie unaufmerksam von mir. Wir sollten gehen.« Entschlossen reicht er ihr den Arm. »Bist du bereit, Rose?«

»Bringen wir es hinter uns«, antwortet Sarah diplomatisch. Als würde sie zu einer Schlachtbank gebracht. Und ein wenig kommt sie sich auch so vor. Sie hakt sich ein und lässt sich von Alexander führen.

Sie verlassen den kleinen Parkplatz durch ein seitlich gelegenes, offenstehendes Tor. Ein Kiesweg, der nur spärlich von alten Laternen beleuchtet ist und beständig unter den Schuhen knirscht, führt durch ungepflegte Ligusterhecken. Ihre blattlosen Äste werfen knöchrige Schatten, die sich – während man an ihnen vorübergeht – ineinander verhaken und ein lebendiges Spinnennetz aus Strichen bilden. Sarah findet das gruselig und rückt näher an Alexander. Gerade will sie ihn an seinen Vergleich mit dem außergewöhnlichen Theaterbesuch erinnern und fragen, ob er sich vielleicht in der Vorstellung vertan hat, als sich der Weg unerwartet nach rechts wendet.

Sarah bleibt stehen. Überrascht und beeindruckt zugleich. Sie hat die Spinne entdeckt, die im Zentrum des schaurigen Netzes aus Ligusterhecken wartet. Denn vor ihr öffnet sich eine Wiese, über die der Kiesweg zu einer einzeln stehenden Villa führt. Er ist gesäumt mit Kerzenlichtern, deren Flämmchen aufgeregt zappeln und mit Schatten um sich werfen. Wie kleine Leuchtfeuer, die zum Eingang des Gebäudes locken.

»Das ist …« Sarah fällt kein passendes Wort ein. Ihre Aufregung vervielfacht sich.

»Romantisch?«, versucht es Alexander. »Opulent? Damit hättest du nicht gerechnet?«

Sarah schüttelt den Kopf.

»Dann warte ab, bis wir drinnen sind.« Alexander setzt sich schmunzelnd in Bewegung und zieht Sarah ungefragt mit sich.

Jeder Schritt, mit dem sie sich dem Gebäude nähern, offenbart neue Details. Vor der Villa enthüllt sich eine Steintreppe aus dem Schatten. Ihre breiten Stufen führen, gesäumt von Skulpturen, zu einer massiven Holztür. Rechts und links des Eingangs leuchten Fackeln unruhig gegen die Wände und manchmal spiegelt sich ihr Lichtschein in einem der dunklen Fenster der unteren Etage. Im ersten Stock dagegen sind die zugezogenen Vorhänge von Licht durchdrungen. Auf ihnen mäandern Schatten aus unscharfen Umrissen von Menschen.

»Hast du noch Fragen?« Alexander schaut kurz zu Sarah, während sie sich der Villa nähern. »Gibt es etwas, das du jetzt geklärt haben möchtest?«

Sarah fühlt sich aus ihrer Faszination über das alte Gebäude gerissen. Fragen? Natürlich hat sie Fragen, sehr viele, und sie ahnt, es werden nicht weniger heute Abend. Aber sie versteht nicht, was mit Alexander zu besprechen wäre, bevor sie sich von dem Eingang oberhalb der Steintreppe schlucken lassen. Für was es nach diesem Moment zu spät sein könnte. Was sie Alexander nicht mehr mitteilen könnte, wenn sie sich erst in sein Fahrwasser begeben hat. Plötzlich erheben sich in ihrem Magen unzählige saure Monster und stellen unverdauliche Fragen. Was hat Alexander mit ihr vor? Wie wird er sie überhaupt vorstellen und gegenüber den anderen Gästen erklären? Als was betrachtet er selbst sie? Welche Rolle spielt sie hier für ihn? Warum, um alles in der Welt, hat sie sich auf diesen Abend eingelassen?

Und dann entdeckt sie das Schild, nicht breiter als zwei Handflächen nebeneinander in den Steinen der Mauer neben der Treppe. Die eingravierte Schrift ist bemoost, aber gut lesbar. »Villa Crocodile«, liest Sarah und erinnert sich an alles, was sie zuvor über Krokodile gesprochen hatten.

Sie spürt ihren Magen krampfen. Atmet tief ein, aber die eiskalte Luft schmerzt in den Lungen. Unvermittelt stoppt sie. Sie kann nicht in diese Villa. Die massive Tür erscheint ihr wie ein Damm, der beim Öffnen alles Flusswasser mit einem Mal entfesseln wird. Sie wird ertrinken darin, denn sie hat doch gar nicht schwimmen gelernt. Noch gar nichts hat sie gelernt und der Mann an ihrer Seite, der sie am Arm hält, stellt sich ihren Sprung ins Wasser vielleicht ganz anders vor als sie.

»Sarah?« Alexander schaut sie an. Überrascht und besorgt. »Was ist?«

»Ich kann nicht mitkommen. Tut mir leid«, presst sie heraus und hat Mühe, sich dabei nicht zu übergeben. »Ich glaube, ich bin gar keine richtige Sklavin. Oder was immer erwartet wird. Das waren doch alles nur Geschichten.« Sie drückt sich die Hand vor den Mund.

»Das kommt gar nicht in Frage«, antwortet Alexander resolut und greift ihren Arm fester. »Du gehst jetzt weiter.«

Sarah schüttelt den Kopf. »Bitte«, versucht sie es noch einmal, »können wir heute Abend etwas anderes unternehmen?«

»Nein.« Alexanders schroffe Antwort fällt im gleichen Moment, in dem er sich wieder in Bewegung setzt und Sarah mit sich zieht.

»Ich bezahle dir die Karte.« Sarah starrt wie gebannt auf die erste Stufe aus Stein, der sie immer näher kommen. Villa Crocodile. Der Kies unter ihren Schnürstiefeletten knirscht kurz und unregelmäßig.

Alexander lacht. »Ich muss hier doch keine Eintrittskarte kaufen.« Er zieht Sarah unbeeindruckt weiter. »Das würde übrigens auch nichts an meinem Entschluss ändern. Wenn ich dir jetzt das Recht einräume, über den Abend zu bestimmen, wirst du falsch wählen. Dann verpasst du die beste Gelegenheit für den Sprung in den Fluss. Das werde ich nicht zulassen.«

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