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Die Judenräte beraten inzwischen über die weitere Vorgangsweise und beschließen, eine Abordnung von drei Leuten zu Gebietskommissar Hingst zu schicken, um die festgenommenen Kameraden wieder freizubekommen. Vor dem Gebietskommissariat stoßen die drei neuerlich auf Murer, der sich nun etwas umgänglicher zeigt – von einer Übergabe des gesamten Betrags noch an diesem Tag ist keine Rede mehr, er verlangt jedoch, dass in den nächsten Tagen weiter gesammelt wird, die Erlöse sollen jeweils auf der Bank deponiert werden. Um 13 Uhr werden auch die festgenommenen Mitglieder des Judenrats freigelassen. Auch Mascha Rolnikaite kann aufatmen: „Wir werden also am Leben bleiben!“, notiert sie in ihrem Tagebuch.

Die Sammelaktion dauert noch einige Tage an, schließlich sind es 1,490.000 Rubel, 33 Pfund Gold und 189 Uhren, die Murer übergeben werden, für die Wertgegenstände gibt es keine Empfangsbestätigungen – all das nährt den Verdacht, dass die von Murer eingetriebene „Kontributionszahlung“ keinen offiziellen Charakter hatte, sondern eine „private“ Aktion von ihm, Hingst und Polizeichef Wysocki war, möglicherweise dazu vorgesehen, einen Teil des jüdischen Geldes in die eigenen Taschen zu lenken. Indizien dafür sind, wie schon Yitzhak Arad in seinem Buch Ghetto in Flames vermutet, die eher versteckten Treffpunkte und die Tatsache, dass Murer das Geld selbst eintreibt und offenbar keine weiteren deutschen Beamten zur Seite stehen hat. Dazu existiert eine interessante Zeugenaussage: Im Verfahren gegen Angehörige des Einsatzkommandos 3 berichtet 1971 eine Frau Frances Penny, geborene Papierbuch, die im Gestapogebäude gearbeitet und den Haushalt von SS-Oberscharführer Horst Schweinberger besorgt hat, dass sie im Gebäude „mehrere Kisten, voll mit Gold, Schmuck und dergleichen,“ gesehen habe (zitiert nach Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik). Reichskommissar Hinrich Lohse sanktioniert jedenfalls am 21. August nachträglich alle Aktionen zur Beraubung der Juden, bereits zuvor, am 9. August, teilt Bronius Draugelis, der Kreischef für Vilnius-Stadt und Vilnius-Land, den Polizeiführern mit, dass die eingetriebenen Gelder auf eine staatliche Bank eingezahlt werden müssen, der jeweilige Gebietskommissar verfüge über die beschlagnahmten Gold- und Wertsachen. Lässt Lucian Wysocki diese Kisten in das Gebietskommissariat bringen oder „verwaltet“ er sie selbst? In diesem Fall hat er dazu nur wenig Zeit, denn am 11. August 1941 wird er von Himmler zum SS- und Polizei-Standortführer für den Generalbezirk Litauen mit Dienstort Kowno ernannt und muss Wilna verlassen.

Bestärkt durch den Erlass des Reichskommissariats, versucht Murer der jüdischen Bevölkerung Wilnas auch noch die letzten Wertsachen abzupressen. Am 22. August weist er Petras Buragas, den Nachfolger von Jonas Čiuberkis als litauischem „Beauftragten für Judenangelegenheiten“, an, dass der Judenrat innerhalb einer Woche alle Bargeld-, Gold- und Silberbestände „anmelden“ müsse, das gelte auch für alle in jüdischem Besitz befindlichen Warenlager (LCVA, R-643-3-4152, Bl. 128). Am 3. September 1941 verfügt das Gebietskommissariat schließlich, dass Bargeld, Wertpapiere, Aktien, Schuldverschreibungen, Wechsel, Sparbücher, Wertsachen und diverse Warenvorräte in den litauischen Polizeirevieren abgegeben werden müssen. Behalten dürfen die Juden einen Betrag bis maximal 300 Rubel. Nach bewährtem Muster werden die Leiter der einzelnen Polizeireviere in die Pflicht genommen: Sie sind für die „erfolgreiche“ Durchführung der Aktion verantwortlich. All jenen, die Informationen über Judenvermögen verschweigen und dem Gebietskommissariat vorenthalten, droht mit Bekanntmachung vom 23. Oktober 1941 die Todesstrafe.

Jakob Wygodzki (1856–1941), seit zwanzig Jahren die Stimme der Juden Wilnas, wird am 24. August verhaftet. Obwohl er schwer krank ist, bringt man ihn ins Gefängnis, ein Versuch, über die litauische Zivilverwaltung seine Befreiung zu erreichen, scheitert, auch sein junger Freund Mendel Balberyszski kann nichts für ihn tun. Der 85-Jährige stirbt nach wenigen Tagen Haft im Lukiškes-Gefängnis – nach anderer Darstellung wird er ermordet. Sein Tod ist ein schwerer Schlag für den Judenrat: Mit Jakob Wygodzki, ehemals Minister für jüdische Angelegenheiten der Republik Litauen, verliert man die herausragende Persönlichkeit dieser Tage, einen Mann, der durch seine Integrität und Haltung in der Auseinandersetzung mit den Nazis zum Vorbild geworden ist.

Vor Gericht in Graz 1963 wird Murer die von ihm mit so viel Elan betriebene Beraubung der jüdischen Bevölkerung beharrlich leugnen. 15 Jahr zuvor, in den Verhören durch den sowjetischen Untersuchungsrichter in Mai und Juni 1948 in Wilna, ist seine Erinnerung noch bedeutend besser – er räumt im Verhör ein, dass er an der Eintreibung der „Kontribution“, die man über die Juden verhängt habe, beteiligt gewesen sei: „Die Wilnaer Juden mussten eine Million Rubel oder Reichsmark zahlen, ich kann mich an die Währung nicht mehr erinnern. Sie hatten die Summe in drei Raten innerhalb von ein, zwei Tagen zu zahlen.“ Das Geld wäre als adäquates Angebot für eine Garantie gedacht gewesen: Die Juden sollten dadurch davon abgehalten werden, etwas gegen die Deutschen zu unternehmen. Die Idee zur Kontribution sei allerdings von SS- und Polizeiführer Lucian Wysocki gekommen, er habe vorgeschlagen, die erzielte Summe in die Kasse des Gebietskommissariats einzuzahlen. Zum vorgegebenen Zeitpunkt hätten die Juden „500 bis 600.000 Rubel und 15 kg Gold “ abgeliefert, aber das sei zu wenig gewesen. Auf Weisung des Gebietskommissars habe er jedoch diesen Betrag akzeptiert und in die Kasse des Hauses eingezahlt.

Die Namen von SS-Standartenführer Karl Jäger, Gebietskommissar Hans Christian Hingst und seinem Stabsleiter Franz Murer sind in der jüdischen Bevölkerung Wilnas inzwischen bekannt, auch in der Familie des Buchhalters Mosche Anolik in der Pohulankastraße werden sie aufmerksam registriert. Vater Mosche ist dafür, die „Befehle“ der Deutschen zu befolgen, da man ohnehin keine Wahl habe und ihnen keinen Vorwand geben dürfe, gegen die Juden vorzugehen. Die beiden Söhne sind kämpferischer – so erinnert sich der 15-jährige Benjamin Anolik, genannt „Benja“, später an ein Gespräch mit seinem älteren Bruder Nissan, in der Familie kurz „Nisja“ gerufen: „‚Wir werden uns diese Namen merken‘, sagte Nisja, ‚wir werden später mit ihnen abrechnen!‘ – ‚Hoffentlich‘, sagte ich, ‚hoffentlich werden wir das erleben!‘ – ‚Siehst du, Benja, manche Namen sind kein Zufall: Ein ‚Jäger‘ jagt, und ‚Murer‘ hört sich wie Mörder an!‘“ (Zitiert nach Benjamin Anolik, Lauf zum Tor mein Sohn.)

Die Große Provokation

In seiner autobiografischen Skizze erzählt Franz Murer die Geschichte so: Eines Tages, an das genaue Datum könne er sich nicht mehr erinnern, habe sein Chef Hingst ein Schreiben vom vorgesetzten Generalkommissariat in Kaunas bekommen, in dem ihm von Adrian von Renteln mitgeteilt worden sei, dass die Gestapo bereits Beschwerde über ihn geführt habe. Der Grund dafür: Da der Gebietskommissar noch keinen Platz zur Verfügung gestellt habe, könne die Gestapo die jüdische Bevölkerung nicht wie in den Richtlinien vorgesehen in einem Ghetto zusammenfassen. Die Rüge aus Kaunas habe hektische Aktivitäten ausgelöst: Hingst gibt seinem Adjutanten Murer Befehl, das Ghetto zu „organisieren“, und lädt Bürgermeister Dabulevičius zu sich ein, um die Frage der Ortswahl für das Ghetto zu besprechen, Murer bekommt dann den Auftrag, „mit den Herren der litauischen Stadtverwaltung Wilna abzufahren, mit dem Zweck festzustellen, welche Plätze oder Stadtviertel sich für die Bildung eines Ghettos eignen würden. Wir kamen auch zu einem Stadtviertel, wo sich eine Straße noch Ghettostraße nannte. Dort war einst unter der Herrschaft der Russen ein Ghetto.“ Hingst, so Murer, sei dafür gewesen, das Ghetto in der Innenstadt zu errichten, so erreiche man, dass die Gestapo „nicht machen könne, was sie wolle“, und setzt sich damit auch durch. Eine weitere Sitzung wird angesetzt, dieses Mal eine „große Runde“ mit Gestapo, Polizei und der litauischen Stadtverwaltung, an der Murer, wie er später behauptet, nicht teilnimmt – sehr unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass er das betreffende Stadtviertel in der Altstadt Wilnas bereits inspiziert hat und damit rechnen muss, dass Hingst ihn auch weiterhin für die Betreuung des Ghettos heranziehen wird. Vor dem sowjetischen Untersuchungsrichter wird er denn 1948 auch behaupten: „In Ausführung des Befehls habe ich zusammen mit dem Wilnaer Bürgermeister Dabulevičius den Platz für das Ghetto ausgewählt.“ (Documents Accuse, Dokument Nr. 94 – Übersetzung J. S.)


Sie organisieren die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung Wilnas: Gebietskommissar Hans Christian Hingst und sein Adjutant Franz Murer.

Die für die beiden Ghettos vorgesehenen Straßenzüge beiderseits der Deutschen Straße stehen fest, doch nun gibt es ein Problem: Es gilt Platz zu schaffen für die 45.000 Menschen, die hierher umziehen sollen. Hingst und Murer „arbeiten“ an der Lösung: Polen und Litauern muss man neue Wohnungen zuweisen, was die jüdischen Bewohner des Viertels betrifft, so käme eine Art Großrazzia gerade recht, doch wie rechtfertigt man diese? Da es keinen Vorwand gibt, muss einer nach bewährtem Nazi-Muster geschaffen werden: Am Sonntag, dem 31. August 1941, um zwei Uhr nachmittags, betreten zwei in Zivil gekleidete litauische „Partisanen“ eine Wohnung im Haus an der Ecke Stekljannajastraße/Bolschajastraße. Vom Fenster dieser Wohnung, die keinem Juden, sondern einem Christen (!) gehört, hat man beste Sicht auf den Eingang des Pan-Kinos, vor dem zahlreiche deutsche Soldaten auf die nächste Filmvorführung warten. Die beiden litauischen Kollaborateure feuern aus dem Fenster zwei Schüsse ab, die niemanden verletzen, dann stürzen sie auf die Straße und rufen, dass gerade zwei im Haus lebende Juden auf die Deutschen geschossen hätten – das Signal zur Lynchjustiz: Gemeinsam mit einigen deutschen Soldaten dringen die beiden Litauer in eine jüdische Wohnung des Hauses ein, zerren zwei Juden, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, auf die Straße, prügeln sie halbtot und erschießen sie dann.

Alles läuft nach Plan: Der „Volkszorn“ der litauischen „Aktivisten“ – Angehörigen der im März 1941 in Berlin gegründeten rechtsradikalen „Litauischen Aktivisten-Front“ (LAF) – und „Partisanen“ ist nun geweckt, es beginnt ein Pogrom, das im Bereich des vorgesehenen Ghettogeländes die Nacht über bis Montagmittag andauert. Mit Kolbenschlägen prügeln die Litauer die Juden erbarmungslos aus ihren Wohnungen hinaus auf die Straße, Tausende müssen überstürzt ihr Heim verlassen, haben kaum Zeit, etwas einzupacken. Die 20-jährige Jüdin Rachel Margolis, die bei einer christlichen Familie lebt und sich später der jüdischen Widerstandsbewegung F. P. O. anschließen wird, beobachtet das Geschehen: „Aus dem Fenster einer Wohnung in der Trockastraße sah ich in der Nacht eine endlose Kolonne von Menschen – Kinder, Greise, Frauen mit Babys auf dem Arm, mit Bündeln, Töpfen, Eimern, Kissen – eine schreckliche graue Masse, die kein Ende nahm. Niemand wusste zunächst, wohin man die Menschen trieb und was mit ihnen geschehen sollte.“ (Zitiert nach Rachel Margolis und Jim Tobias, Die geheimen Notizen des K. Sakowicz.)


Tausende müssen überstürzt ihr Heim verlassen, niemand weiß, wohin es geht …

Unter den Beobachtern dieser „Aktion“ ist auch der jüdische Journalist Grigorij Schur, geboren 1888 in Wilna: „Alle wurden hinausgetrieben – die Alten und die Kranken, die Kinder und die Frauen mit Säuglingen auf den Armen. Vielen wurde es nicht gestattet, sich anzuziehen; nur in ihrer Unterwäsche standen sie auf der Straße. Die Wohnungen blieben offen für alle, die sie zu plündern wünschten.“ (Zitiert nach Grigorij Schur, Die Juden von Wilna.)

Das Gebietskommissariat zeigt sich – wenig überraschend – gut vorbereitet: Noch am 31. August wird eine Ausgangssperre von 15 Uhr nachmittags bis 10 Uhr vormittags gegen „alle Juden beiderlei Geschlechts“ verhängt, nur jene Juden dürfen ihre Wohnung verlassen, die ausdrücklich zu einem Arbeitseinsatz befohlen sind. Und ein Plakat wird in Druck gegeben, eine „Bekanntmachung“, in der es mit zynischer Verlogenheit heißt: „Am gestrigen Sonntag nachmittag wurde in der Stadt Wilna aus dem Hinterhalt auf deutsche Soldaten geschossen. Zwei der feigen Banditen konnten festgestellt werden. Es waren Juden. Die Täter haben ihr Leben verwirkt. Sie wurden sofort erschossen. Zur Verhütung derartiger feindseliger Akte sind bereits weitere schärfste Gegenmaßnahmen getroffen. Die Vergeltung trifft die Gesamtheit der Juden.“

Die „Vergeltung“ heißt Mord: Die zusammengetriebenen Juden werden zum Teil ins berüchtigte Lukiškes-Gefängnis gebracht, zum Teil müssen sie in langer Kolonne direkt den Weg nach Ponary antreten. Noch weiß niemand, was sie hier erwartet. Viele glauben, dass sie „umgesiedelt“ und in ein Arbeitslager gebracht werden … Opfer der „Großen Provokation“ werden auch zehn Mitglieder des ersten Judenrates, unter ihnen auch Shaul Pietuchowski, mit dem Murer noch vor wenigen Wochen über die „Kontribution“ verhandelt hat. Am 2. September erhält der Judenrat vom litauischen Mordkommando Ypatingas Burys noch Befehl, in der Straszunstraße Fuhrwerke bereitzustellen, wenig später werden die zehn Männer von EK-3-Verbindungsmann Horst Schweinberger festgenommen, nach Ponary gebracht und erschossen. Die Büros des Judenrats werden geschlossen und versiegelt, in der jüdischen Einwohnerschaft Wilnas breiten sich Panik und eine „unerträgliche Hilflosigkeit“ (Christoph Dieckmann) aus. Man schickt eine Delegation zu Bürgermeister Dabulevičius, doch der schiebt alles auf die deutschen Besatzer, sie trügen die Verantwortung, er könne nichts tun. Ihrer gewohnten Führung beraubt, taumeln die Juden Wilnas der Ghettoisierung entgegen.

Der Ort des Todes: Ponary

Kazimierz Sakowicz, Jahrgang 1894, ist Journalist und Herausgeber der Wilnaer Wochenzeitung Przegląd Gospodarczy („Wirtschaftsrundschau“). Zusammen mit seiner Frau Maria bewohnt er ein kleines Haus in der Gemeinde Ponary, etwa zehn Kilometer von Wilna entfernt. Neben dem Schreiben widmet er sich der Arbeit auf den Feldern, die zum Haus gehören. Das Dorf Ponary ist umgeben von dichten Wäldern, für die Bewohner von Wilna ist die Gegend vor dem Krieg ein beliebtes Ausflugsziel gewesen.

Als Kazimierz Sakowicz am 11. Juli 1941 Schüsse hört, die vom Wald herkommen, glaubt er zunächst an militärische Übungen. Es ist vier Uhr nachmittags, die Schüsse dauern eine, dann sogar zwei Stunden an. Auf der Grodzienka, der Landstraße, die an Ponary vorbei Richtung Grodno führt, erfährt er dann von Bauern aus der Umgebung die Wahrheit: Man hat Juden in den Wald getrieben, etwa 200 hat man gesehen und nun werden sie erschossen.

Von einem Versteck auf dem Dachboden seines Hauses aus verfolgt er am nächsten Tag die Hinrichtungen – wieder wird eine große Gruppe Juden, etwa 300 Menschen, in den Wald geführt, jeweils 10 Personen werden auf einmal erschossen. Sakowicz notiert seine Beobachtungen auf herausgerissenen Seiten von Schulheften und Kalenderblättern, Tag für Tag dokumentiert er von nun an die Massenmorde im Wald von Ponary. Da niemand von diesen Aufzeichnungen erfahren darf, steckt er die beschriebenen Zettel in leere Limonadenflaschen, stöpselt diese zu und vergräbt sie in seinem Garten. Der letzte Eintrag, den Sakowicz in seinem „Tagebuch“ macht, stammt vom 6. November 1943; der Journalist befürchtet zu diesem Zeitpunkt schon, dass ihn die Szaulisi, die litauischen Kollaborateure der Nazis, im Visier haben würden. Sakowicz, der sich der polnischen Untergrundarmee AK – Armia Krajowa – anschließt, wird am 5. Juli 1944 auf einem Waldweg von unbekannten litauischen Tätern angeschossen und erliegt am 15. Juli 1944 seinen Verletzungen. Seine Aufzeichnungen werden ausgegraben, jüdische Historiker übergeben sie dem Jüdischen Museum Wilna, von dort gelangen sie ins Staatliche Zentralarchiv Litauen.

Der 2. September 1941 ist ein kalter, regnerischer Tag. Kazimierz Sakowicz hat von den Szaulisi bereits eine Woche zuvor erfahren, dass in der „kommenden Woche“ in Ponary so viele Menschen erschossen werden würden wie zuvor den ganzen August über nicht – nun muss er erkennen, dass die Mörder recht hatten: Bereits um halb acht am Morgen erblickt er auf der Landstraße eine „auseinandergezogene Menschenschlange“, „mit Sicherheit“ 2 km lang. Vom Dachboden seines Hauses aus beobachtet er dann den Massenmord: „Wie es sich später erwies, waren es 4000 Personen (…) lauter Frauen, viele Babys. Als sie (…) in den Weg zum Wald einbogen, begriffen sie, was sie erwartete und schrieen: ‚Rettet uns’. Säuglinge in Wiegen, auf dem Arm usw.

Die Leute wurden geschlagen, bevor sie erschossen wurden (…). Die Männer wurden separat erschossen, die Frauen mussten sich bis auf die Unterwäsche ausziehen. Viele Sachen, Pelze und Wertgegenstände (hatten die Juden mitgenommen), da sie dachten, dass sie ins ‚Ghetto‘ gehen würden. (…) Bei den Hinrichtungen ging man so vor, dass sich die (zur Erschießung vorgesehene) Gruppe auf die Körper der vorher Getöteten stellen musste. Sie (die Opfer) gingen und gingen (buchstäblich) über die Leichen! Die Gräber wurden gleich am nächsten Tag zugeschüttet.“ (Zitiert nach Rachel Margolis und Jim Tobias, Die geheimen Notizen des K. Sakowicz.)


Die Massenerschießungen im Wald von Ponary (litauisch: Paneriai) beginnen im Juli 1941. Von den Sowjets ausgehobene Gruben für ein Benzinlager werden zu Massengräbern – deutsche und litauische Mordkommandos töten hier etwa 100.000 Menschen.

Was die Beobachtung „lauter Frauen, viele Babys“ betrifft, so wird Sakowicz durch den sogenannten „Jäger-Bericht“, die „Gesamtaufstellung der im Bereich des EK 3 bis zum 1. Dez. 1941 durchgeführten Exekutionen“, von SS-Standartenführer Karl Jäger (1888–1959) bestätigt – Jäger, ein penibler Buchhalter der Mordaktionen seines Einsatzkommandos, vermerkt für den 2. September im Bereich Wilna-Stadt „864 Juden, 2019 Jüdinnen, 817 Judenkinder“, exekutiert von einem „Teilkommando“ des EK 3, und vergisst nicht zu erwähnen, dass es sich um eine „Sonderaktion“ gehandelt habe, da „von Juden auf deutsche Soldaten geschossen wurde“.

Wie Sakowicz berichtet, läuft der Handel mit Damenkleidung am 3. und 4. September bei den Bauern aus der Umgebung „auf Hochtouren“, auch aus Wilna kommen Litauerinnen, um sich vor allem warme Sachen zu holen. Von manchen Bekannten erfährt er noch Einzelheiten, so habe man im Wald ein Kind gefunden, das bei einer Grube im Sand spielte – man habe es in die Grube geworfen und erschossen. In einem anderen Fall habe man ein Kleinkind von der Mutterbrust weggerissen und erschossen. Die Szaulisi feiern am 2. und 3. September mit einem Saufgelage – das Morden hat sich ausgezahlt: Da man den Juden gesagt hat, sie könnten alles mitnehmen, haben sie ihren Opfern viele Wertsachen abnehmen können.

Der Massenmord in Ponary ist „geheime Reichssache“ und soll auch geheim gehalten werden, was die Deutschen aber nicht wissen: Zwei Mädchen, die 16-jährige Pesia Szlos und die 11-jährige Judyta (Yehudit) Trojak, haben das Massaker in Ponary überlebt und sind nach Wilna zurückgekehrt. Sie waren durch die Schüsse nur verletzt worden, hatten sich totgestellt und konnten aus der Grube entkommen. Ihr Bericht stößt bei den Ghettoinsassen zunächst auf ungläubiges Erstaunen, viele wollen es nicht wahrhaben, dass die „Kulturnation“ Deutschland zu einem derartigen Verbrechen fähig sei. Die Nachricht vom Massaker in Ponary gelangt auch zu Herman Kruk, der sie kaum fassen kann und in seinem Tagebuch notiert: „Diese entsetzliche Sache ist schwer zu beschreiben. Die Hand zittert, die Tinte ist blutig. Ist es möglich, dass alle, die man von hier weggebracht hat, in Ponary ermordet wurden, erschossen?“ Dann hält Herman Kruk den Bericht der kleinen Judyta Trojak in seinem Togbukh fest: „Was erzählt Judyta Trojak? Von der ganzen Familie – Mutter, Vater, drei Jungen und zwei Mädchen – sind nur unsere Erzählerin Judyta und ihr Vater übrig, der im Torf in Riese arbeitet. Und ein Bruder floh mit den Bolschewisten. Was ist geschehen?

Am Sonntag, dem 1. September, gab es einen Tumult. Worin der Tumult bestand, weiß sie nicht, sie weiß nur, dass man über Ereignisse auf der Glezerstraße redete. Am nächsten Morgen erfährt sie, dass man nicht weit von ihrer Wohnung entfernt viele Leute mitgenommen habe; alle hätten sich bei einem Nachbarn getroffen und jeder habe Neuigkeiten über das Geschehene mitgebracht. Um acht Uhr morgens tauchten plötzlich Litauer auf und befahlen sich anzuziehen und in den Hof zu gehen. Dort stellte man sie in Reihen auf. Die Hausmeister nahmen alle Wohnungsschlüssel an sich und dann führte man sie ins Gefängnis. Im Gefängnis blieben wir von Montag bis Dienstag. Dienstag früh hat man uns alle in den Gefängnishof geführt, und wir waren alle sicher, dass wir freigelassen würden. Aber es wurde angeordnet, alle unsere Sachen zurückzulassen und die wartenden Lastwagen zu besteigen. Während wir in den geschlossenen Lastwagen fuhren, sah eine Frau, dass wir an einem Wald vorbeifahren. Später haben wir eine Schießerei gehört. Wehklagen begann. Wir haben nicht verstanden, was mit den Männern geschah, denn sie wurden zu Fuß weggeführt. Als wir aus den Lastwagen stiegen, hat man uns in einen Wald abgeführt, zwischen Sandhügel, und dort haben wir gewartet. (…) Den ganzen Tag hörte man das Schießen. Es gab einigen Streit. Menschen haben geweint. Erst um fünf Uhr nachmittags hat man zehn von uns weggeführt. Von dort sind wir etwa fünf Minuten gegangen. Man hat uns dort die Augen verbunden und vor eine Grube gestellt. (…) Ich habe das Tuch so angelegt, dass ich sehen konnte. Da in der Grube sind viele Tote gelegen, ein ganzer Berg.“ (Herman Kruk, The Last Days of the Jerusalem of Lithuania, zitiert nach Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen.) Judyta Troyak wird von einer Kugel am linken Arm getroffen, eine ebenfalls verwundete Frau schleppt sie aus der Grube, die Nacht verbringen die beiden auf einem litauischen Bauernhof, die Bäuerin führt sie am nächsten Tag zurück in die Stadt, wo Judyta im Jüdischen Spital operiert wird. Unter den behandelnden Ärzten ist auch Dr. Avraham Weinryb, der die Infektionsabteilung des Ghettokrankenhauses leiten wird – er ruft den jungen Aktivisten Abba Kovner ins Spital, um sich die Erzählung des Mädchens anzuhören.

Trotz dieser ersten Augenzeugenberichte von Überlebenden bleiben bei der in Wilna verbliebenen jüdischen Bevölkerung Zweifel – man weigert sich, das Ungeheuerliche zu glauben, dazu kommt, dass die deutsche Verwaltung den Massenmord geschickt verschleiert. Sie spricht in ihrer Korrespondenz offiziell von einem „Lager Ponar“, gefälschte „Dokumente“, die man im September der neu geschaffenen jüdischen Polizei und ihrem Chef Jakob Gens zuspielt, sollen die Illusion schüren, dass im Wald von Ponary tatsächlich ein „Ghetto Nr. III“ existiert. Die jüdische Polizeiführung und auch der Judenrat sind bestrebt, die Augenzeugenberichte geheim zu halten, wie die Überlebende Pnina Arkian bestätigt, der es im Oktober 1941 gelingt, einem Massaker in Ponary zu entkommen: „Als ich zurück ins Ghetto kam, sah mich die jüdische Polizei und ließ mich bei ihr eintreten. Dann fragte mich einer: ‚Wo bist du gewesen?‘, und ich sagte: ‚Ponary …‘ Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Mutter nicht, was ich erlebt hatte … Nur zehn Minuten waren vergangen, dann kam die jüdische Polizei … Sie brachten mich zu Gens … Er fragte mich: ‚Wo warst du?‘ Ich erzählte ihm alles, was ich erlebt hatte, wie wir mitgenommen wurden und wie es mir gelang zu entkommen. Er fragte mich: Willst du, dass deine Eltern und deine Familie leben? Dann erzähle kein Wort von dem, was du gesehen hast. Ich helfe dir, Arbeit zu bekommen, aber halte einfach still. Du hast nichts gesehen und nichts gehört.‘ Ich versprach es ihm … und habe mein Versprechen gehalten.“ (Yad Vashem Archives, 0-3/2048, zitiert nach Yitzhak Arad, Ghetto in Flames.)

Die nächsten großen Massenexekutionen in Ponary finden am 12. und 17. September 1941 statt, jetzt bringt man auch die Juden aus dem Lukiškes-Gefängnis nach Ponary.

Auch für diese beiden Tage hält der „Jäger-Bericht“ mit bürokratischer Akribie die Mordzahlen für Wilna fest: Liquidiert werden am 12. September 993 Männer, 1670 Frauen und 771 Kinder, in Summe 3334 Personen. Am 17. September tötet man 1271 Menschen: 337 Männer, 687 Frauen und 247 Kinder.

Kazimierz Sakowicz, der heimliche Beobachter auf dem Dachboden, notiert zum 12. September lakonisch: „Wieder wurden circa 2000 erschossen” und liegt mit dieser Schätzung viel zu niedrig …


Das Mahnmal für die in Ponary ermordeten Juden.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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335 стр. 76 иллюстраций
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9783990404669
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