Читать книгу: «Himmelberg», страница 2

Шрифт:

Als der weißhaarige Reiter auf Daoud zudonnert, in immer schnellerem Tempo, die Nüstern des Pferds atmen Dampf, Nebel umweht die Gestalt, Dunstschleier schließen die Szene nach allen Seiten ab, da verkrampft sich sein Herz.

„Schieß!“, ruft sein Herr Dschamal, „schieß ihn ab!“

Auch Massud, der Onkel, zetert im Hintergrund. Doch im Gegensatz zu Dschamal zeigt Massud große Furcht.

„Tu was, Daoud, du hast die Waffe!“, kreischt er.

Da entdeckt der zögernde Schütze, dass auch der Geisterreiter bewaffnet ist. Einen Moment lang überlegt er, ob er sich dem Unbekannten zu Füßen werfen soll; aber nein, mit solchem Ingrimm kommt dieses Wesen da herangestürmt, wer wollte da auf Gnade hoffen? Gesträubten Haars lässt Daoud die Waffe fallen und stürmt davon. Nach wenigen Metern bemerkt er, dass jemand neben ihm ist. Seit an Seit mit seinem Onkel sucht Daoud in Panik den Weg in das Wäldchen hinein. – Dschamal schreit, sie sollen stehen bleiben; doch eher würden die Fliehenden versuchen, einen Ölfrachter in voller Fahrt aufzuhalten als dieses rauchende Höllenpferd. Was weiß, Daoud schon von den Geistern des Westens? Nichts weiß er. Nie hat er sich Gedanken darum gemacht, was so weit drüben, hinter dem Kaukasus, vor sich geht. Seitdem der Auftrag des Ältesten an ihn ergangen ist, Dschamal Parhez in dieser grässlichen Stadt mit den Turmhäusern aufzuspüren, ergeht es Daoud sowieso fürchterlich. Wie gerne hätte er in diesem Monat Verlobung gefeiert; stattdessen reist er auf unbequemste Weise, schläft seit Wochen ohne Obdach in der Kälte, jederzeit darauf gefasst, morden zu müssen oder selbst gemordet zu werden, ausgesetzt den Grobheiten dieses gestörten Chaleb, eines Emporkömmlings und Schikanierers, dessen Sadismus selbst vor seinen eigenen Leuten nicht Halt macht. Selbstverständlich bleibt Daoud keine Wahl als mitzumachen, als treuer Vasall; andernfalls verlöre er sein Gesicht. Aber dass es so schrecklich lange dauern würde, das hat ihm keiner gesagt. Und dass es hier so mächtige Geister gibt!

Dschamal Parhez aber hat den Glauben an übernatürliche Erscheinungen längst verloren. Da überwindet er den Schrecken augenblicklich – doch es ist schon zu spät, um die kleine Pistole aus der Jacke zu ziehen. Rasch greift er nach einem der verdorrten Rebstöcke, die auf einem Haufen übereinander liegen: Damit wird er diesen Angreifer aus dem Nichts vom Pferd hauen. Während hinter Dschamal das Feuer unter dem Hochsitz weiter vorankriecht, bereitet er sich auf den Moment des Aufeinanderpralls vor. Aber der junge Mann unterschätzt das Tempo von Ross und Reiter, die mit tobendem Getrappel auf ihn zujagen. Bevor Dschamal zuschlagen kann, sinkt ihm der Knüppel aus der Hand: Ein beißender Schmerz in der Schulter ergreift von seinem Körper Besitz. Sofort spürt er, dass ihm das Blut den Arm hinunterläuft. Mit der anderen Hand fasst er nach der verwundeten Stelle. Dschamal stellt fest, dass der Arm noch dran ist; aber die Schnittwunde blutet heftig.

Indessen Dschamal Parhez mit den Folgen der Attacke beschäftigt ist, springt Rüdiger Reichsgraf zu Hoensbroech vom Pferd und eilt auf den Verletzten zu. Den Degen hält er auf dessen Kehle gerichtet. Selber überrascht vom Erfolg seines Angriffs, steht er auf einmal vor dem Feind seines Freundes. Unversehens hat er einen Gefangenen gemacht. Den ursprünglichen Plan, die Übermacht nur abzulenken, vom Hochsitz wegzulocken, musste er mitten im Ritt aufgeben; weder hätte er zur Seite ausweichen können, da die Rebzeilen dies verhinderten, noch wäre es möglich gewesen, bei dieser Geschwindigkeit umzuwenden. Kaum kam ihm dies zu Bewusstsein, gewahrte er, dass zwei der Fremden, warum auch immer, die Flucht ergriffen. Mit dem einen, der übrig blieb, so hoffte er, würde er fertig werden. Als er sah, wie der Mann sich mit einem Holzstück wappnete, ließ Hoensbroech den rechten Arm vorschnellen, und die Degenspitze traf mit der Wucht des vollen Galopps. Am festen Leder rutschte das Metall ab, sonst wäre der Arm wohl amputiert worden.

„Machen Sie das Feuer aus, sofort!“ Graf Hoensbroech treibt den Fremden vor sich her, zum Hochsitz hin, dessen hölzerne Leiter bereits lodert und glimmt. „Jacke ausziehen. Ersticken sie damit die Flammen!“

Während der Graf mit den Füßen das mehr rauchende als brennende Reisig beiseiteschiebt, gehorcht der Gefangene, streift seine Jacke ab und drückt sie gegen den Schwelbrand. Erst jetzt erkennt der Graf, dass es mit dem Feuer gar nicht so weit her ist; das Material war wohl viel zu feucht, um richtig in Flammen aufgehen zu können.

„Nasir, du kannst runterkommen! Aber pass auf, die Sprossen sind angekokelt.“

Vorsichtig steigt Nasir Shansab hinunter. „Wo sind die andern?“

„Keine Ahnung. Weggerannt.“

„Respekt. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Einer gegen drei!“

„Glücksache. – Halt, keinen Schritt!“ Entschlossen nähert sich der Graf dem Gefangenen, den Degen unverwandt vorgestreckt. „Bleiben Sie stehen! Halt, sage ich! Ach so, sprechen Sie überhaupt deutsch?“

„Natürlich“, flüstert Dschamal Parhez und hält ruckhaft inne.

„Lauter! Ich verstehe Sie nicht.“

„Natürlich spreche ich deutsch!“

„Gut. Sind Sie schwer verletzt?“

„Nein.“

„Zeigen Sie mal her.“

Dschamal rührt sich nicht.

„Sie sollen mir das zeigen!“

Widerwillig nimmt der Verletzte die Hand von der Wunde. Nachdem Graf Hoensbroech die Verletzung in Augenschein genommen hat, den Kavalleriedegen nach wie vor gegen den Besiegten gerichtet, überrascht er diesen mit einem Vorschlag. „Kann ich mich auch darauf verlassen, dass Sie das Gastrecht achten?“

„Bitte?“

„Werden Sie als mein Gefangener auf Gewalttätigkeiten verzichten, wenn ich Sie mit in mein Haus nehme und dort verarzte?“

„Ich brauche keinen Arzt.“ Der junge Parhez blickt seinen Überwinder wütend an.

„Ich bin auch kein Arzt. Bei mir geht das ohne Betäubung. Aber immerhin habe ich einen Verbandskasten im Haus. Geben Sie mir Ihr Wort?“

Dschamal überlegt. Blickt starr vor sich hin. Dann nickt er langsam. So sehr es ihn schmerzt, aus heiterem Himmel überwunden worden zu sein, ehrt es ihn doch, dass ein Wildfremder seinem Wort Glauben schenkt. Was jetzt kommt, weiß Gott allein! So eine Schmach ... Während Dschamal den Weinberg hinabsteigt, die blankgezogene Klinge immerfort in seinem Rücken wähnend, murmelt er ein Gebet. Aber es kommt ihm nicht so richtig über die Lippen. Die Wunde brennt außerordentlich stark, fest presst er die gesunde Hand dagegen.

„Haben Sie eine Waffe?“, will der Mann hinter ihm wissen.

Dschamal schüttelt den Kopf.

Leise bittet Hoensbroech seinen alten Freund Nasir, das Pferd mit nach unten in den Stall zu führen. Bald blickt er nach hinten, ob nicht die beiden Geflohenen wieder auftauchen, bald nach vorn, auf diesen merkwürdigen Menschen, der so unerwartet schnell aufgegeben hat. Wie alt mag er sein? Siebenundzwanzig vielleicht? Wie ein Auftragsmörder sieht er jedenfalls nicht aus. Filigran ist er gebaut, gelenkig, die Figur eines Balletttänzers. Wären sie bloß schon unten am Haus ...

Als Nasir Shansab, den Schimmel an der Hand, Graf Hoensbroech einholt, ist er außer Atem. „Ich kann gar nicht sagen, wie ich dir danke. Hast du wirklich keine Polizei verständigt?“

„Unsinn, selbstverständlich nicht.“

„Und deine Frau?“

„Du kennst sie doch.“

„Gut. Auch dafür danke ich euch. Und jetzt?“

„Gehen wir erst mal ins Warme.“

Aus der Dachluke spähend, das Fernglas in Händen, hat Gräfin Maria den Hergang verfolgt. In der Jackentasche hielt sie ein Handy bereit, eingeschaltet, die Notrufnummer bereits vorgewählt. So irrsinnig sie die Idee fand, auf solch altertümliche Weise dem Freund zu Hilfe zu kommen, so sehr fühlt sie nun Erleichterung. Nein, mehr noch, es ist nicht zu verhehlen: Das hat ihr ganz prachtvoll gefallen, wie ihr Gatte diese haarsträubende Situation gemeistert hat. Ganz bestimmt wird sie ihn nicht sofort dafür loben, sonst reißt das noch ein. Aber zu gegebener Stunde wird sie die richtigen Worte finden. Mit einem Mal hat die Gräfin Zutrauen gefasst; die Hauptgefahr scheint einstweilen überstanden. Zwar weiß sie noch nicht, wie dies alles nun vor sich gehen soll, aber inzwischen traut sie dem Gatten zu, auch hierfür eine Lösung zu finden. Als sie den Männern entgegengeht und ihrem Gemahl zunickt, meint sie ein ungläubiges Lächeln um seine Augen wahrzunehmen. Sie begrüßt Nasir, indem sie ihm mit beiden Händen um die Rechte greift, flüstert ihm ein paar Worte zu. Und dann kümmert sie sich um den Schimmel.

„Das hat er brav gemacht“, kommertiert Graf Hoensbroech nach hinten gewandt. „Eine Belohnung hätte er sich verdient.“

„Genau das hatte ich gerade vor“, lautet die Antwort, und die Gräfin führt das ruhig vor sich hin trottende Pferd in den Stall. „So, mein Guter“, tätschelt sie ihm den Hals, „was magst du lieber: Rüben oder Äpfel?“

Ohne die Antwort abzuwarten, greift sie in einen Jutesack voll dicker Gelberüben. – Durch die Stalltür kann sie erkennen, wie Nasir Shansab die Tür zum Degustationsraum zuerst durchschreitet, gefolgt von diesem jungen Kerl mit dem schmalen Wuchs. Hinterdrein kommt ihr Mann. Ein bisschen erschöpft sieht er aus, wie er sich niederbeugt, um den Degen draußen gegen die Hauswand zu lehnen. Nun, ist ja kein Wunder. Eine Kavallerieattacke reitet man heutzutage wirklich nicht mehr so oft.

Die Geschichte des Tuchhändlers

Verwirrt sieht sich Dschamal Parhez um. Der Empfangsraum des Weinguts der Reichsgrafen zu Hoensbroech schimmert in sanftem Rot. Mehrmals war er auf Schlössern zu Besuch, doch eines kommt ihm seltsam vor: Draußen hat er gar keins gesehen! Vielleicht besteht es ja nur aus diesem einen Saal? Kurz blickt er zu den mächtigen Ahnenporträts hinüber, mustert den Tisch mit den aufgeschlagenen Büchern, einen weiteren, langgestreckten, mit glänzender Platte, worauf Gläser stehen, wie Billardkugeln in ein Dreieck geordnet, daneben ein Körbchen mit Brezeln. Im Eck befindet sich ein Schreibtisch, auch dieser antik, ehrwürdig; eine sepiafarbene Fotografie hängt darüber, die eine Militärparade zeigt: Kavallerie, aufmarschiert in breiter Front. Dass man sich in diesem Hause auf solche Dinge zu verstehen scheint, musste Dschamal soeben am eigenen Leibe erfahren.

Widerstreitende Gedanken verknäulen sich in seinem Kopf. Wenn er jetzt, da der Graf Dschamals Feind einen Stuhl anbietet, zur Tür springt und hinausrennt, werden ihn die älteren Herrschaften bestimmt nicht aufhalten können. Sicher, er hat sein Wort gegeben; aber in welchen Zeiten leben wir denn! Haben solche Dinge noch so ein Gewicht, wie es ihm seine Onkels unablässig vorhalten? Offenbar geht doch eine gewisse Wirksamkeit davon aus – denn Dschamal Parhez bringt es nicht fertig zu fliehen. Noch einmal überlegt er, ob er die Pistole aus der Jacke ziehen soll, um die beiden einfach über den Haufen zu schießen. Aber auch das erscheint ihm für den Augenblick unmöglich. Wenn es gar nicht anders geht, kann er ja später immer noch ...

„Bitte, nehmen Sie Platz.“

Der weißhaarige Herr deutet auf einen Stuhl mit geschwungenen Lehnen. Dschamal blickt den Mann, dessen Gefangener er ist, nicht an. Langsam lässt er sich auf den Sitz sinken, dem Feind, dem entkommenen Opfer gegenüber. Als er den verwundeten Arm auf die Lehen legt, läuft Blut aus dem Ärmel.

„Einen Augenblick. Bin sofort wieder da.“

Während der halben Minute, die der Graf benötigt, bis er aus dem Nebenraum mit dem Verbandskasten zurückkehrt, herrscht Schweigen. Überdeutlich kann Dschamal die Atemzüge dieses Mannes hören, den er nicht kennt. Den er töten sollte. Den er immer noch töten könnte, jetzt zum Beispiel. Doch wie gebannt von einer fremden Macht bleibt er sitzen. Gibt keinen Laut von sich. Rührt sich nicht.

„So. Sie müssen die Jacke ausziehen.“

Dschamal stößt einen Schmerzensschrei aus, als der Graf ihm aus der Lederjacke hilft. Es ist der ärgste Moment. Sofort beginnt das Blut üppiger aus der Wunde zu quellen. Mit einer Schere schneidet der Gastgeber den Hemdsärmel des Verletzten auseinander, bis zur Schulter.

„Drücken Sie das da dagegen.“

Eine dicke Mullbinde, bestreut mit weißem Pulver, schiebt Dschamal über die tiefe Schnittwunde. Augenblicklich verstummt der Schmerz.

„Wir müssen das noch zweimal wiederholen. Mindestens. Bis es aufgehört hat zu bluten. Dann mach ich Ihnen einen Druckverband.“

„Kann ich selber“, murmelt Dschamal bockig – und schaut voreilig nach, ob der Blutstrom bereits gestoppt ist. Selbstverständlich nicht. Er stößt einen leisen Fluch aus, nicht auf Deutsch, sondern in Paschtu, der Sprache, die er als Kind gelernt hat.

Nasir Shansab blickt auf. Bislang schien er nach nichts als nach Erholung zu verlangen, doch diese Verwünschung lässt ihn hochschrecken. In knappen Worten gibt er dem jungen Mann zu verstehen, er solle sich zügeln in diesem Hause. Dschamal reagiert mit einem Schimpfwort.

„Darf ich wissen, worum sich’s handelt?“, erkundigt sich der Graf, der mehrere Mullbinden aus dem Verbandskasten herausfischt und vor dem Verwundeten auf den Tisch platziert.

„Er hat geflucht“, erklärt Nasir Shansab.

„Das würde ich an seiner Stelle auch“, signalisiert Graf Hoensbroech Verständnis. Dann verlässt er noch einmal kurz den Raum ... und kehrt zurück, eine schlanke grüne Flasche in der Hand. Eines der Weingläser zieht er über die blankpolierte Tischplatte zu Nasir hinüber und schenkt ihm ein, bevor er für sich selber ein Glas füllt.

„Ich glaube, das tut jetzt ganz gut.“

Nasir nickt. Dann riecht er an dem Wein. „Wundervoll. Du erlaubst, dass ich das erste Glas wie ein Barbar herunterstürze?“

„Bitte. Halt dich nicht zurück.“

Dschamal Parhez stürzt von einem Erstaunen ins nächste. Kann das sein, dass diese beiden Alten in so einer Situation gemütlich ein Fläschchen leeren?

Als der Reichsgraf den erstaunten Blick des Fremden registriert, fragt er zuvorkommend: „Sie dürfen ja wahrscheinlich nicht?“

„Ich tu’, was ich will“, entgegnet Dschamal missmutig. Und fügt etwas leiser hinzu: „Ich bin kein Taliban, wenn Sie so was vermuten. Aber ich trinke grundsätzlich keinen Alkohol.“

„Ein Glas Wasser?“

„Nein.“

Indessen Dschamal Parhez den finstersten Gedanken nachhängt – wie er diese Wendung wohl seiner Familie beibringt, was dann folgen wird, und was dies für seine eigene Zukunft bedeutet, wenn er hier versagt –, unterhalten sich die alten Freunde doch tatsächlich erst einmal über den Wein, der sie labt.

„Ich dachte, Traminer beruhigt etwas“, hebt der Graf das Glas gegen’s Licht.

„Eine gute Wahl. Die Alten hatten doch recht: Nichts gibt mehr Kraft, zur rechten Zeit getrunken“, zeigt sich Nasir vollkommen einverstanden. „Was für ein Jahrgang?“

„Oh, der hat fast zehn Jahre auf dem Buckel. Ein guter Traminer braucht das. Verstehe überhaupt nicht, wie man so etwas jung trinken kann ...“

Noch einmal irrt Dschamals Blick durchs Zimmer. Was tut er hier eigentlich? Was soll diese Veranstaltung? Wie kann er nur diesen Leuten da so still gegenübersitzen: dem einen, den er umbringen und dem anderen, den er vom Pferd hauen wollte? Dschamal ist kurz davor aufzuspringen, als sich der Marquis ihm zuwendet.

„Ich möchte“, beginnt er und stellt sein Glas auf den Tisch zurück, „dass Sie erfahren, wen Sie da gerade aus der Welt schaffen wollten. Ich fürchte, Sie wissen das nicht. Außerdem habe ich ein gewisses Interesse daran zu erfahren, ob Sie es waren, der mir eine Leiche in meinen Weißburgunder gelegt hat. Aber bevor wir anfangen, nehmen Sie doch noch einmal eine frische Mullbinde. Dort steht ein Abfalleimer.“

Beim Abziehen der Binde frischt der Schmerz auf. Schnell betupft Dschamal die Wunde mit dem Mull, betreut eine weitere Kompresse mit Pulver und klemmt sie fest.

„Warum?“, stößt er hervor. „Wozu soll das gut sein?“

Dem Reichsgrafen, der eben vom Traminer nachgegossen hat, fällt etwas auf. „Da, sehen Sie: Deswegen.“ Einhändig drückt er den Korken zurück in die Flasche und stellt sie zu Nasir hinüber. „Du bedienst dich?“

Dschamal wird es sonderbar zumute. Sogleich hat er die Geste verstanden: den Korken in die Flasche stecken! Verblüfft sieht er seinem Überwinder in die Augen. Zumindest ist dies kein Unwürdiger, das versteht er jetzt. Allein dieser kleinen symbolischen Handlung ist es zu verdanken, dass sich der junge Mann zusammenreißt und sich endlich dazu zwingt, auch Nasir Shansab anzuschauen: ein hochgewachsener Mann, so wie er viele Afghanen kennt, formvollendet gekleidet, mit exquisiten Manieren. Ganz und gar ein „Westler“, wie seine Onkels die Abtrünnigen zu nennen pflegen. Trotz seines Alters, das Dschamal auf siebzig schätzt, ist das Haar noch nicht vollständig ergraut. Auch der gestutzte Bart zeigt dieses zart durchscheinende Silber. Doch was Parhez am meisten beschäftigt, ist dieser Akzent: Der Mann hört sich an wie so viele Landsleute, die lange im Exil gelebt haben, ja, er klingt exakt wie zwei seiner eigenen Onkels.

Noch einmal riecht Nasir an dem Traminer, dann betrachtet er sein Gegenüber so ausgiebig, bis es Dschamal unangenehm wird. „Bevor ich etwas von mir erzähle“, beginnt Shansab, „möchte ich fragen, welcher Familie Sie entstammen.“

Dschamal gibt keine Antwort.

„Sehen Sie“, insistiert der Freund des Grafen, „es ist für mich von großer Bedeutung, ob ich vielleicht jemanden aus Ihrer Familie kenne.“

„Parhez“, murmelt Dschamal und presst die Mullbinde fester auf die Wunde.

„Bitte? Ich habe Sie nicht verstanden.“

„Dschamal Parhez!“, fährt der Gefangene auf und petzt die Augen vor Schmerz zusammen.

„Parhez ... Nein, da kenne ich niemanden näher. Nur diesen Dichter, aber mit dem hat er wohl nichts zu tun“, erläutert Nasir dem Grafen gegenüber, der sich in seinen Sessel zurücklehnt. „Entschuldigung, aber ich fühle mich noch ein wenig schwach“, fährt er fort, „ich muss erst eine von diesen Brezeln essen.“

„Greif nur zu“, ermuntert Hoensbroech den alten Gefährten. „Oder soll ich was Gescheites bringen lassen?“

„Nein, nein, das genügt mir fürs Erste.“ In aller Ruhe kaut Nasir Shansab eine Brezel. Für längere Zeit ist nur dieses Knuspern im Zimmer zu hören. Dschamal ärgert sich über diese große Ruhe, die von seinem Kontrahenten ausgeht. Wann fängt der endlich an?

„Sie sollen wissen, junger Mann“, setzt Nasir von Neuem an, „ich bin Ihnen keineswegs gram. Es ist mir vollkommen klar, dass Sie in irgendeinem Auftrag gehandelt haben, irgendeiner Verpflichtung Genüge tun mussten, was weiß ich. Ich kenne das so gut – und habe es immer gehasst. Jede Gesellschaft hat ihre Zwänge, und die unseren sind besonders widerlich. Nun, wir können sie uns nicht aussuchen; aber wir könnten unsere Lebenszeit dazu nutzen, ein bisschen Müll wegzuräumen, nicht wahr? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin ein sehr traditioneller Mensch, wenn man so sagen darf. Aber – das ist ja keine neue Erkenntnis – ich finde, man erweist sich nur als würdig, wenn man an die Nachkommen eine leicht gereinigte Mischung weitergibt. Den Schund, das Brutale, Unmenschliche ganz auszumerzen, das schaffen wir sowieso nicht mehr – das zu glauben wäre Hybris, nicht wahr? Aber hätten wir nicht schon viel erreicht, wenn unsere Enkel etwas weniger Angst und Qual ausstehen müssten als unsere Großeltern?“

Irgendetwas steigt auf in Dschamals Innerem, er weiß nicht, ist es Empörung oder Hass oder Ekel ... Es lässt sich nicht einmal unterscheiden, wem diese Empfindungen gelten. Die Einsicht, dass dieser Fremde, den auszulöschen der unhinterfragbare Auftrag ist, durch und durch Recht hat, kann unter keinen Umständen zugelassen werden. Gedanklich erschöpft von so vielen Widersprüchen, bringt der junge Mann nur eine schwächliche Unverschämtheit zustande.

„Hören Sie auf zu predigen.“

Nasir Shansab übergeht den Kommentar mit einem Schmunzeln, indes der Reichsgraf zu Hoensbroech kaum merklich den Kopf schüttelt.

„Wie dem auch sei, ich stamme“, setzt der Erzähler seine Geschichte fort, „wie Sie ja auch, aus Afghanistan, in Zeiten geboren, die sich von den heutigen in allem unterscheiden, nur in einem nicht: Ständig lag irgendwer mit irgendwem in Krieg und Streit. Wenn schon keine Kolonisatoren das Land besetzten, haben wir uns wenigstens gegenseitig die Familien erschlagen und die Dörfer angezündet. Dabei, man sieht, wenn wir Afghanen mal zusammenhalten, dann kann uns keiner was, oder? War Ihre Familie am Khyber-Pass dabei?“

„Selbstverständlich!“

Die Antwort kam schneller als Dschamal darüber nachgrübeln konnte, ob man diesem Mann, diesem Lästerer der Tradition, überhaupt eine Antwort geben darf.

„Ah, sehen Sie. Wir auch.“

„Ich bin nicht ganz orientiert“, mischt sich der Graf in die Unterhaltung. „Sicher irgendwas Militärisches?“

„Aber ja.“ Nasir Shansab nickt dem Freund kurz zu, fixiert aber sofort wieder den verhinderten Attentäter. „Natürlich zeugt es von Tapferkeit, wenn man mit Gewehren bewaffnete Einheiten mit dem Säbel angreift, nicht wahr? Ob es uns allerdings zum Ruhme gereicht, dass wir keinen einzigen Gefangenen gemacht haben, ist doch immerhin die Frage ...“

„Die Engländer waren Invasoren“, zischt Parhez. „Die hatten nichts anders verdient!“

„Gar keine Frage, das waren sie, ja. Aber sie befanden sich auf dem Rückzug. Indische Soldaten übrigens, weniger Briten. Und Zivilisten. In einer unbeschreiblich langen Kolonne“, erläutert er dem Grafen, „sind sie über den Khyber-Pass gezogen, die uralte Pforte über den Kaukasus nach Indien. Das heißt, sie wollten. Denn die vereinigten Stämme aus den Bergen haben sie angegriffen und alle niedergemacht.“

„Wie viele denn?“, fragt der Gastgeber leicht zurückgeneigt.

„Sechzehntausendfünfhundert, heißt es.“

„Oh.“

„Ja, alle geschlachtet – bis auf einen: Dr. Brydon. Unsere Familienüberlieferung besagt, dass es einer unserer Vorfahren war, der ihn begnadigt hat, damit er Bericht erstatten kann.“

„Unsere auch“, flüstert Dschamal.

„Na, sehen Sie“, wirft Nasir Shansab ein, „dann sind wir ja vielleicht sogar verwandt.“ Den empörten Blick des Jungen ignorierend, setzt der Hochgewachsene wieder an. „So ist das wohl überall mit den Mythen. Es gibt kein Volk ohne Schweinereien. Und aus den schlimmsten macht man die ehrenhaftesten Geschichten. Bis es einer merkt. Tatsächlich waren die Stämme nicht nur mit Säbeln, sondern mit modernen Gewehren ausgerüstet. Auch ein paar erbeutete Kanonen haben sie gehabt. Damit haben sie aus der Deckung immer munter auf die Wehrlosen hinuntergeschossen. Und den Trupp von hinten angegriffen.“

„Ach ja, ach ja“, erinnert sich der Graf. „Da gibt’s doch so eine Ballade, Fontane, oder? Mit dreizehntausend der Zug begann, einer kam heim von Afghanistan ...“

„Richtig. Tja, wie immer: Die Angaben über die Zahl der Opfer schwanken. Sicher ist jedoch, dass nur zweitausend Soldaten dabei waren. Der Rest: Kranke, Frauen, Kinder.“

Jetzt hält es Dschamal nicht mehr an seinem Platz. Er springt auf. Seine Hand zuckt nach der Jacke, die hinter ihm über dem Stuhl hängt, nach der Innentasche, ergreift den Revolver: „Das ist nicht wahr! Das ist die Propaganda der Engländer! Sie ziehen unser Volk in den Dreck, das lasse ich nicht zu!“

Obgleich Dschamal irgendetwas zurückhält, die Waffe aus dem Futteral zu reißen, ist sowohl Shansab als auch dem Grafen aufgefallen, was der junge Mann vorhatte.

„Ich darf Sie daran erinnern“, bemüht sich Hoensbroech, seinen Ärger niederzuhalten, „was Sie uns versprochen haben.“

Nasir Shansab zeigt sich vollkommen unbeeindruckt. Während Dschamal Parhez noch immer aufrecht steht und ihn hasserfüllt anstiert, fährt er fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. „Wie gesagt also, Frieden hatten wir zu keiner Zeit. Aber der Vorteil während meiner Kindheit war: Da und dort gab es längere Pausen, Unterbrechungen der Kampfhandlungen, der Stammesfehden, was weiß ich. Mein Vater war ein Mann des Windschattens. Sehr gebildet übrigens. Schon als Jugendlicher hat er sich öfter im Ausland aufgehalten, als Gehilfe eines Onkels, dem ein Tuchhandelsimperium gehörte, mal im Austausch mit den Briten, mal mit den Russen, den Türken ... dann wieder geplündert ... neu aufgebaut ... und so weiter. Meinen Vater jedenfalls faszinierte der Handel und die, sagen wir Lebensqualität, die damit einhergehen kann. Kurzum, er entwickelte ein erstaunliches Geschick, sich stets gerade dort aufzuhalten, wo eben eine Art Separatfrieden geschlossen worden war. Wir zogen also sehr oft um.“

Nasir nahm noch einen Schluck vom Traminer. Aus dem Augenwinkel beobachtete er Parhez, der sich ganz langsam wieder hinsetzte. Damit hatte der junge Mann mit Sicherheit nicht gerechnet: dass man ihn einfach ignorieren würde. Nasir Shansab ließ sich nicht stören. Er kam nun ins Erzählen. Weitschweifig beschrieb er das Leben in den Dörfern, wo sie bei Verwandten und Freunden unterkamen. Faszinierender aber sei es gewesen, wenn sie sich in den Städten aufhielten, in Kabul oder Kandahar, damals noch geprägt durch Bauten aus früh- und vorislamischer Zeit. Der Vater führte ihn in die Welt des Tuchhandels ein. In seinen Fabriken gab es genug Licht, damals eine Seltenheit. Es herrschte die größtmögliche Toleranz. Die Frauen, die dort arbeiteten, wurden zu nichts genötigt. Dass Nasirs Vater mehr bezahlen konnte als die meisten anderen, die gewöhnlich grausame Ausbeuter waren, lag an seinem Verhandlungsgeschick. Da gab es Handelsbeziehungen nach England und Deutschland, wo man die Qualität der Stoffe, aber auch die gute Verarbeitung zu schätzen wusste.

Für den kleinen Nasir war es ein einziges Abenteuer, wenn er auf dem Weg zu seiner Privatschule, wo er Englisch, Deutsch und Französisch lernte, über die Bazare strich oder in einer zentral gelegenen Manufaktur vorbeischaute, wo ihn die Näherinnen alle kannten. Es war eine für afghanische Verhältnisse einigermaßen unverklemmte Zeit; um zum Büro seines Vaters vorzudringen, musste er durch den Mittelgang in der großen Halle. Wenn die Arbeiterinnen damit beschäftigt waren, Büstenhalter oder Unterhosen zu nähen, wedelten sie ihm damit gerne vor der Nase herum und ließen es an Anzüglichkeiten nicht fehlen. Zwar bekam er einen roten Kopf, aber irgendwie gefiel es ihm doch, dieses Geschäker, diese Atmosphäre voller Neckereien und guter Laune. Viel später, als alle Textilfabriken längst zerschossen, die weiblichen Angestellten weggesperrt und in Burkas gestopft worden waren, erschien es ihm, dass vor allem dies das Ziel der religiösen Eiferer war: schlechte Laune verbreiten, das Gelächter abstoppen, den Spaß verderben.

Als er zwölf Jahre alt war, hörte dieses bunte Leben plötzlich auf. Kriegerische Handlungen in nahezu sämtlichen Gebieten zwangen seinen Vater, die Textilproduktion ins Ausland zu verlagern. Das war allerdings nur schwer möglich. Außerdem war er zu spät dran: Bei einem Angriff wurde die Familie auseinandergerissen. Wie viele umgekommen waren, man wusste es nicht. Seine Mutter sah Nasir nicht wieder. Nur sein Vater war noch bei ihm. Sie flohen in die Berge des Nordostens, doch der Krieg war schneller. Mit seinem letzten Bargeld kaufte ihm der Vater ein Pferd. Es war mitten in der Nacht, als er aufbrach und Nasir in einem Zelt zurückließ. Eindringlich erklärte er ihm, an wen er sich wenden müsse, wo die Bahnlinie sich befinde, wer ihm von da nach dort vielleicht weiterhelfen könne ... und wo sie sich, mit Gottes Hilfe, wiedersehen würden. Seine neue Schule befinde sich in Deutschland, untergebracht in einem Schloss an einem Meer. Es heiße Salem. Dem Jungen zerriss es die Seele, als der Vater das Zelt verließ. Er lief ihm nach, klammerte sich an seine Füße und weinte, bis er Erstickungsanfälle bekam. Er erwartete, dass ihn sein Vater schlagen würde für diese Schwäche. Doch etwas anderes geschah: Der Mann beugte sich nieder, umarmte seinen Sohn und weinte ebenfalls. Dann sagte er ihm ein Gebet, das er sprechen solle in der Not; es würde gewiss helfen und ein Wiedersehen herbeiführen.

Nasir Shansab schaut zum Fenster hinaus. Seine Stimme ist rauh geworden, die Augen sind glasig. „Ich habe natürlich nicht verstanden, warum er mich alleine ließ. Nach Jahren ist mir klar geworden, dass wir gemeinsam nie und nimmer durchgekommen wären. Man kannte ihn ja – mich nicht. Sie hätten sofort gewusst, dass ich sein Sohn war und auch mir die Kehle durchgeschnitten, wie so vielen anderen. Oder noch Schlimmeres. Es ist unglaublich, was man mit einem Messer alles anrichten kann. – Zurück nach Kabul hat er es noch geschafft, hieß es irgendwann. Gemeinsam mit einigen Angestellten hatte er vor, nach Pakistan zu fliehen. Das hat aber nicht geklappt.“

Nach einer Pause fährt Nasir fort. Er sei damals ins Zelt zurückgekrochen. Dort habe er sich zusammengekrümmt und den Morgen abgewartet. Sein einziger Trost war natürlich das Pferd, kein Rassetier, beileibe nicht, aber ein gutmütiger Zottel, kräftig gebaut, mit Liebe in den Augen. In den ersten Tagen diente ihm das Tierchen durchaus nicht dazu, die Strecke schneller zu meistern, eher im Gegenteil: Das Gelände war so steinig und unwegsam, dass Nasir vollauf damit beschäftigt war, das Pferd zu führen. Er nannte es Rafiki: mein Gefährte. Das pelzige Geschöpf musste viel erdulden; beinahe ununterbrochen schmuste und streichelte er es, gab ihm Kosenamen, erzählte ihm seinen ganzen Kummer und seine Hoffnungen. – Tagelang kamen sie auf keinen Weg, immer wieder begann es zu regnen, und der Wind plagte fürchterlich. Zwar gelang es Nasir recht gut, das Zelt auf- und abzubauen, doch die Plane flatterte so laut, dass an Schlaf nicht zu denken war. In der großen Höhe, wo sein Vater ihn hinaufgeführt hatte, fand das Pferd kaum noch Gras. Sie mussten ins Tal hinuntersteigen, den Höhenkamm verlassen. Davor hatte er ihn gewarnt – und mit Recht.

Denn kaum war eine einigermaßen windgeschützte Schlucht erreicht, wo es Weideflächen gab und einen Bach, jagten ein paar Hirten heran, die ihm durchaus keine Gastfreundschaft erwiesen. Wenige Wochen zuvor hatte man sie ausgeplündert und irgendwie waren sie der Ansicht, sie hätten nun ihrerseits das Recht, sich fremdes Eigentum gewaltsam anzueigenen. Nasir hatte nichts dabei als seinen Rucksack, worin sich nur noch wenige Nahrungsmittel befanden – und eben sein Pferd. Ein Hirte schlug den Kleinen nieder und band ihm die Arme rücklings an einen Baumstumpf fest. Sie packten den Rucksack auf das Pferdchen und führten es fort. Als Nasir ihnen hinterherschrie und heulte und schließlich Flüche ausstieß, drehte sich einer der Hirten um und schoss. Nasir meinte, die Kugel auf sich zukommen zu sehen; doch es schien ihm, als beschreibe sie einen Bogen. Hinter seinem Kopf schlug sie ins Holz ein. Augenblicklich verstummte er. Statt zu jammern, mühte er sich, den Strick durchzureiben, doch es glückte ihm nicht. Der Stamm war glatt, die Schnüre schnitten in die Gelenke.

953,06 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
237 стр. 12 иллюстраций
ISBN:
9783881907071
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают