Читать книгу: «Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes», страница 6

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2.1.3 Jean-Jacques Rousseaus Confessions

Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau rekurriert mit seinen posthum veröffentlichten Confessions (1782/1789) expressis verbis auf den Hypotext des Augustinus und schreibt den vom spätantiken Autor etablierten autobiographischen Beichttopos zu einer Entblößung des Selbst vor den Augen der Öffentlichkeit um. Um den Enthüllungsgestus seiner Bekenntnisschrift zu untermauern, exponiert Rousseau einen intertextuellen Verweis auf den 2. Brief an die Korinther. Im biblischen Text spricht der Apostel Paulus die Korinther mit der Gewissheit an, dass sie „ein Brief Christi“ seien, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens“ (2. Kor. 3, 3). Ob in Kenntnis oder Unkenntnis der Apostrophe des Paulus an die Menschen als göttliche Herzensschrift war Rousseaus autobiographisches Projekt ebenso dazu angetan, die Inskription seines Herzens offenzulegen. „Ich allein. Ich lese in meinem Herzen“1, lautet Rousseaus Versprechen an den Leser, das mit einem unbedingten Wahrhaftigkeitsanspruch an seine autobiographische Darstellung einhergeht. Der verführerische Topos des entblößten Herzens regte noch die ironisch gebrochenen Offenbarungsgesten Edgar Allan Poes und Charles Baudelaires an, bis sich diese Ende des 20. Jahrhunderts zu massenmedialen Imperativen entwickelt hatten, die Schlingensief schließlich mit widersprüchlichen Implikationen auf die Theaterbühne transferierte.

Mit seiner Versicherung, „das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut erzählt […], nichts Schlimmes verschwiegen, nichts Gutes hinzugefügt“2 zu haben, bietet Rousseau dem Leser an, in seinem unverstellten Ich wie in einem offenen Buch zu lesen. Seine emphatische Reklamation von Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität im Vorwort baut er rhetorisch als Klimax von Handeln und Denken zu einem inklusiven Seinsbegriff auf: „‚Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich!‘“3 Die offensive Geste des Sich-Zeigens setzt er strategisch ein, um den Adressaten seiner Schrift die Möglichkeit einer Interpretation gänzlich zu entziehen. Hierin Augustinus ähnlich, lässt der Autor, dem sich sein Selbst allerdings nicht mehr im Zwiegespräch mit Gott offenbart, keinen Zweifel an der Autorität seines Wortes. Am Ende seiner Bekenntnisse warnt er den apostrophierten Leser im Duktus exekutiver Überwachung gar vor einer Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit des Beschriebenen: „Ich habe die Wahrheit gesagt. Wenn jemand etwas weiß, was dem eben Erzählten widerspricht, und wäre es tausendmal bewiesen, so weiß er nur Lug und Trug.“4 Trotz seines selbstauferlegten Diktats der Wahrheit, das die persönlichen Verfehlungen und charakterlichen Defizite nachgerade betont, muss Rousseau dem Leser dennoch bekennen, dass er bisweilen mit poetischer Erfindungsgabe die Leerstellen in seiner Erinnerung schließen musste: „wenn es mir manchmal begegnete, daß ich einen bedeutungslosen Zierrat verwandte, so geschah es nur, um eine Lücke zu füllen, die mir mangelnde Erinnerung verursachte.“5

Hinter diesem Eingeständnis verbirgt sich Rousseaus Reflexion der Medialität von Schrift, die das gelebte Leben in einem Akt der Konstruktion rückwirkend entwirft. Im Rahmen seines autobiographischen Großprojektes musste sich der Autor darüber bewusst werden, dass sich das Subjekt seiner eigenen Mediatisierung grundlegend widersetzt, da es dem Ich letztlich versagt bleibt, sich gleichsam von außen und mit Distanz objektiv zu betrachten. Im Bewusstsein über die existierende „Spannung zwischen der Angst vor dem Selbstverlust und der Unerschütterlichkeit der Selbstgewissheit“6 formuliert Rousseau unweigerlich einen Subjektbegriff, der aus der Sicht Peter Bürgers „erstmals das moderne Ich in seiner Widersprüchlichkeit zu Darstellung“7 bringt.

Entgegen des im Vorwort der Confessions artikulierten ehrgeizigen Programms, zwischen seinem subjektiven und einem allgemein anthropologischen Erkenntnisinteresse zu vermitteln, nämlich „das einzige Bild eines Menschen, genau nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit“8 gemalt zu haben, formiert sich im Autor die Gewissheit, dass die mit Nachdruck reklamierte Einzigartigkeit seiner selbst durch das Medium der Schrift nicht einzuholen ist. Martina Wagner-Egelhaaf sieht in diesem fragilen Verhältnis von Wahrhaftigkeit und sprachlicher Repräsentation die eigentliche Problematik des Rousseauschen Unternehmens:

Die repräsentierende Sprache, so virtuos er sie handhabt, ist seinem eigenen Bekunden nach nicht in der Lage, die verwirrende Komplexität seiner Gefühle darzustellen, gleichwohl ist es aber nur diese so unzureichende Sprache, die von der Existenz seiner inneren Gefühlswelt überhaupt Kunde zu geben vermag. So kreist Rousseaus Schrift um jenen immer entzogenen Punkt, an dem Außen- und Innenwahrnehmung, Repräsentation und Repräsentiertes idealiter zusammenfallen könnten.9

An der technischen Unmöglichkeit, das Herz („jenen immer entzogenen Punkt“), als der emphatisch aufgeladene Vorstellungskomplex von Rousseaus Innerlichkeit, über die Sprache nach außen zu transportieren, zeigt sich das grundlegende Dilemma jedes autothematischen Kunstwerks. Weil es auf die Wirklichkeit verweisen soll, muss es sich selbst zwingend in ein referentielles Verhältnis zur ihr setzen. Da es das Leben allerdings naturgemäß sprachlich nicht fassen kann, kommt das autobiographische Werk seiner aus hermeneutischer Sicht essentiellen Bestimmung niemals nach. Rousseau ist der erste Autobiograph der abendländischen Kulturgeschichte, der an der sprachlichen Undarstellbarkeit seiner Identität scheitert. Aufgrund der unüberwindbaren medialen Differenz der Schrift gerät sein Versuch, sich selbst als idealtypisches Unikum darzustellen, zu einem regelrecht quälenden Verpassen seines Selbst. Die verschriftlichte Repräsentation seines Lebens führt ihm die Grenzen der eigenen Sprachfähigkeit und mithin jene Nicht-Identität in der Doppelposition des Betrachters und des Betrachteten vor Augen, die Schlingensiefs Autobiotheatralität schließlich zum Ich-Darstellungsdispositiv nobilitieren wird. „Ich kann mich nicht begreifen“, lautet die Erkenntnis, die Schlingensief im Fluxus-Oratorium vorbringt und damit sein ästhetisches Bekenntnis der geschichteten Selbstkonstruktion existentiell untermauert.

2.1.4 Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit

Mit seinem autobiographischen Werk Dichtung und Wahrheit (1811–1833) komplettiert Goethe das von Dilthey aufgezeigte autobiographische Dreigestirn.1 Im Unterschied zu Rousseau war Goethe nicht die Kompensation seiner Verkennung durch seine Mitmenschen Anlass einer Selbstverschriftlichung, sondern vielmehr der Wunsch, eine künstlerische Bilanz seines Lebens zu ziehen. So ist Dichtung und Wahrheit aus der an die Adressaten gerichteten Hoffnung heraus entstanden, „in der Person des Dichters Mensch und Werk als eine innere Einheit wahrhaft ernst zu nehmen“2. Gleichzeitig sollte Goethes Autobiographie dem Leser Erkenntnisse über die Zeit seines Lebens vermitteln. Sein im Vorwort dargelegtes Ansinnen zielt auf nichts Geringeres als die Abbildung seines Ichs als Spiegel und Ausdruck der Zeit, nämlich

[…] den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter und Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.3

Indes löst das Werk trotz seines Memoiren-Gestus das von Werner Mahrholz formulierte Desiderat einer Autobiographie, die über die sozialgeschichtliche Kontextualisierung des Ichs das „Zeugnis der Lebensstimmung einer Zeit“4 ablegt, nur bedingt ein. Grund dafür ist in erster Linie die auktorial vollzogene subjektive Transformation der historischen Ereignisse. Auch Diltheys Bewunderung für den greisen Goethe, dem im literarischen Rückblick „jeder Moment seiner Existenz in doppeltem Sinne bedeutend [ist]: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang seines Lebens hineinwirkende Kraft“5, gründet unzureichend auf der Auffassung, der Autor habe Geschichte gegenwärtig anschaulich gemacht und die kontinuierliche Entwicklung seines Lebens dargestellt. Die Perspektive Diltheys, der Dichtung und Wahrheit als Musterbeispiel hermeneutischer Selbstlektüre ausgewiesen hat, unterschlägt das von Goethe selbst angesprochene Dilemma seiner literarischen Unternehmung. Zugleich mit dem Memoiren-Charakter seiner Autobiographie fordert der Autor, wie er selbst erkennt, „Unmögliches“ von sich, nämlich, dass er „sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben“6 ist.

In Konsequenz dieser Einsicht in die Unkenntnis seiner selbst verfasst Goethe seine Autobiographie schlechterdings als Roman, der die Zeitumstände für die Darstellung seiner künstlerischen Ich-Werdung funktionalisiert und sein künstlerisches Schaffen im Gegenzug als Manifest seines Entwicklungsweges entwirft. Dichtung und Wahrheit inszeniert ein Ich als alles überblickenden Beobachter, der durch den Blick auf die historischen Gegebenheiten seiner Zeit zu einer umfassenden Reflexion über sein Leben gelangt. Die beiden Sphären der Dichtung und der Wahrheit sind im Werk insofern wechselseitig aufeinander bezogen, als dass die Dichtung als Abstraktion des Gewesenen die Wahrheit hervorbringt, die Wirklichkeit umgekehrt allerdings – Goethes Selbstverständnis als Schriftsteller entsprechend – lediglich als Dichtung, als „höhere Wahrheit“7 zum Ausdruck gebracht werden kann. Im Unterschied zu Rousseau tritt Goethe mit einem dezidiert poetischen Anspruch an die Gattung der Autobiographie heran. Die dichterische Selbststilisierung des Autors, die das Leben in den Rang des Profanen herabsetzt, um ihm durch den dichterischen Schreibakt erst zu seinem eigentlichen Recht zu verhelfen, regte nicht lediglich eine Reihe an parodistischen Hypertexten an, die etwa von Jean Pauls Selberlebensbeschreibung (1826, posthum) bis hin zu Thomas Manns Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1954) reichen, sondern stellt überdies den unfreiwilligen Fluchtpunkt der erst im Laufe des 20. Jahrhunderts theoretisch fundierten literarischen Selbstbeschreibungsstrategie der Autofiktion dar. Das poetologische Konzept geht dabei selbstredend entschieden über Goethes romaneske Stilisierung des Ichs hinaus, indem es die fiktionale Konstitution des erschriebenen Subjekts, das keinen Ort außerhalb seiner textuellen Manifestation besetzt, selbstbewusst zur Disposition stellt. Mit Serge Doubrovskys Autofiktion und Alain Robbe-Grillets Programm der Nouvelle Autobiographie gelangt das autobiographietheoretisch problematische Verhältnis von Referenzialität und Fiktionalität in das Zentrum der autothematischen Schreibpraxis. Die Einheit des autobiographischen Ichs wird erzähltechnisch in die Mehrzahl von verschiedenen Sprecherpositionen aufgelöst und findet in Schlingensiefs letzten Inszenierungen schließlich seinen intermedialen Echoraum.

Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts deklariert der Schriftsteller Carl Einstein mit Blick auf Goethes Dichtung und Wahrheit die autobiographische Selbstlektüre zur „Halluzinatorik“. Einstein blieb nicht verborgen, dass Goethe, gerade indem er auf seine dichterische Fähigkeit zur Wahrhaftigkeit vertraute, an einem emphatischen Ich-Bekenntnis festgehalten hatte. In seinem Nekrolog 1832–1932 polemisiert er gegen den dichterischen Autobiographen, dem bei allem Bekenntnis zur Fiktion offensichtlich nicht bewusst gewesen ist, „daß das Denken in Wirklichkeit ein Auflösen der Erkenntnis“8 bedeutet und „daß alle Kontinuität aus Angst vor dem Tode fabriziert wird.“9 Besessen von seiner Eigenliebe, so Einstein, trachtete Goethe letztlich danach, seine Person in Dichtung und Wahrheit zu konservieren und hat dabei übersehen,

daß das Ich in der Tätigkeit untertaucht und vergessen wird, daß wir nur soweit handeln, als das Ich zerstört wird. Denn das Ich ist nichts weiter als eine nachträgliche Rückschau; alles Tun ist ekstatisch und kann nur durch Zerstörung des Ichs eintreten.10

Einsteins Verdikt gegen die autobiographische Überheblichkeit Goethes kommen die darstellungstechnischen Zweifel des Autors selbst entgegen, die er in seiner captatio benevolentiae an die Leser zum Ausdruck bringt.

Wie Goethe, der sein Ich (nur) dichterisch zum Leben erweckt, so waren sich auch Rousseau und bereits Augustinus über die Insuffizienz ihrer Mittel zur Darstellung von Wahrhaftigkeit bewusst: Augustinus über die Vergeblichkeit, sich selbst in rückschauender Erinnerung ansichtig zu werden; Rousseau über die mangelhafte Darstellungskraft seiner Sprache, die dem Ich in seiner Widersprüchlichkeit nicht gerecht werden kann. Die prominenten Autobiographen der europäischen Kulturgeschichte bis hin zu Goethe treten, obwohl sie einen transparenten Zugang zum Ich herstellen wollten, somit mehr oder weniger explizit als „Autopseusten“11 (griech. pseustes, Lügner) auf. Friedrich Schlegel kreierte diesen Neologismus für jene aus seiner Sicht merkwürdige Spezies an Schriftstellern, die im Versuch, literarisch Zeugnis über ihr Leben abzulegen und rhetorisch ihre Identität zu befestigen, da sie „sich selbst nicht ohne Erläuterungen aus der Welt gehen lassen können“12, doch nur Konstruktionen ihrer selbst formen.

So erscheint Autobiographie seit ihren Anfängen als „verhüllendes Entschleiern“13 der Diskrepanzen im schreibenden Ich. Der vergebliche und doch existentielle Anspruch der Selbstmodellierer von Augustinus bis Goethe liegt in der Rückbindung des Schreibenden an das Beschriebene, mit der die von Einstein erwähnte, notwendige „Zerstörung des Ichs“ gerade kaschiert wird. Schlingensief prolongierte diesen Diskurs des sprachlichen Aufschubs von Präsenz zugunsten einer Simulation des transparenten Ichs mit seinen literarischen Selbstzeugnissen, dem Intimität suggerierenden Krebstagebuch, der posthum erschienenen Autobiographie Ich weiß, ich war’s, seinen zahlreichen Beiträgen in Blogs und Printmedien, im Zeichen „eines Flehens um Ewigkeit“14. Aus all diesen Texten spricht ein Autor, der sich selbst dort noch emphatisch zu seiner Identität bekennt, wo er seine Einzigartigkeit im Scheitern seiner stabilen Identität verortet und – im Geiste Rousseaus – die öffentliche Verkennung seiner Person beklagt. So unterliegt seine Autobiographie ebenso wie sein zu Lebzeiten avisiertes und nach seinem Tod von seiner Lebensgefährtin weiter vorangetriebenes Projekt zur Erbauung eines „Operndorfes“ in Burkina Faso letztlich dem unbedingten Willen, ein Vermächtnis zu stiften, durch das die Gesellschaft der Post-Mortem-Identität des Künstlers in der noematischen Struktur des „Es-ist-so-gewesen“15 ansichtig werden kann.

Da sie sich nicht an die chronologische Vermittlung von Lebensabschnitten (von der Geburt bis hin zum Tod) hält, sondern die Knotenpunkte des Lebens anhand wiederkehrender Motivstrukturen aufreiht, täuscht Schlingensiefs autobiographische Vermittlung des Lebens auf den ersten Blick darüber hinweg, dass sie von der Inszenierung jenes integralen Ich-Bildes lebt, an dem schon Augustinus, Rousseau und Goethe scheiterten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich durchaus, dass der Autobiograph Schlingensief lediglich ein anderes Ordnungsschema wählt, um das „Beharrende im Wechsel“ seines Lebens schriftlich zu erfassen. Die topologisch orientierte Rückschau auf sein Leben zeichnet Verbindungslinien zwischen zentralen künstlerischen Etappen und der Entwicklung seiner Person nach, konstruiert mithilfe autobiographischer loci communes – von der Genese seiner Künstlerexistenz über die Verkennung durch die Umwelt bis hin zu persönlichen und künstlerischen Defiziten und Bekehrungserlebnissen – ein wechselseitiges mythologisches Verhältnis zwischen Künstler und Person.

Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz zementiert diesen Anspruch auf Selbstlegitimation, um erneut darauf zurück zu kommen, nachträglich in das Vorwort seiner Autobiographie. Sie erklärt darin, Schlingensief „ohne große Eingriffe zu Wort kommen zu lassen, ihn selbst seine Gedanken gewichten zu lassen“16, gibt, in Radikalisierung von Schlingensiefs Grundsatz der Selbsthaftbarkeit, sogar ein kompliziertes Lektüreversprechen, das mit demjenigen Rousseaus vergleichbar ist. So könne der Leser sicher sein, „dass Christoph sich dem Bekenntnis ‚Ich weiß, ich war’s‘ verpflichtet fühlte.“17

Demgegenüber nobilitiert Schlingensief die Sezession des Ichs in unterschiedliche Sprecherpositionen in den theatral-medialen Collagen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa schließlich zum grundlegenden Darstellungsprinzip seiner Autobiotheatralität. Trotz der offensichtlichen darstellungsästhetischen Diskrepanz zwischen Schlingensiefs hermetischer literarischer Ich-Mythologie und der multifokalen theatralen Rekapitulation seines Lebens bleibt auch diese auf die von Augustinus bis Goethe konstitutive konzentrische Kraft der epimeleia heautou bezogen: so ist die Selbstsorge der Motor seines autobiotheatralen Unterfangens. Die große Metaerzählung der Sorge um sich selbst kreuzt sich bereits in der Antike mit dem delphischen Imperativ „Erkenne dich selbst!“ (gnothi seauton), der dem Subjektdenken seit Descartes und seinem literarischen Modellfall der Autobiographie zentrale Impulse liefert. In dem von Michel Foucault ermittelten kleinsten gemeinsamen Nenner dieser antiken Aufforderungen an das Subjekt, die dem Ich entgegen seiner sprachlichen Zuschreibung als Unterworfenes (lat. subiectum, Untergeordnetes) die Funktion einbrennen, „Herrscher über sich selbst zu sein, sich selbst vollkommen in der Gewalt zu haben“18, ist die Widersprüchlichkeit von Schlingensiefs letzten Inszenierungen eingeschlossen. Obwohl sich Schlingensiefs theatral-mediale Selbstbehauptung phänomenal betrachtet ausschließlich als Dekonstruktion des Ichs zu erkennen gibt, bleibt sie der Selbstsorge als dem Fundament seiner Identität in höchstem Maße verpflichtet. „Die Dinge sagen ICH in den Arbeiten von Christoph Schlingensief“, schreibt Georg Seeßlen. Sie tun dies allerdings nicht, wie der Filmkritiker meint, als „Anarchisten in eigener Sache“19, sondern nach dem Willen ihres Schöpfers: durch alle seine medialen Masken hindurch sagt Schlingensief „ich“.

2.2 Exkurs zum Denken des Subjekts – Von der Selbsterkenntnis zur Selbstverkennung

Die Aufforderung, sich selbst zu erkennen, bildet die Basis für die Subjektphilosophie seit René Descartes. Als erster neuzeitlicher Philosoph verlagert er die Frage nach der Bestimmung des Subjekts radikal auf jene nach dessen Selbstverhältnis. Im Modus der Deduktion stößt der Philosoph auf das Ich als den irreduziblen Ausgangs- und Bezugspunkt jeden Denkaktes. Selbst die Möglichkeit, dass alles Denken – verstanden als Tätigkeit des Überprüfens und Zweifelns – einem Trugbild unterliegen könnte, vermöge, so Descartes, dem Sich-Selbst-Denken im cogito als unerschütterlichem Grund des Subjekts nichts anzuhaben.1 In der Beherrschung des Zweifels liegt also die Selbstgewissheit des Ichs. Die res cogitans, der Geist als Träger seines Denkens, stellte fortan das fundamentum inconcussum des cartesischen Systems dar und bildete die Opposition zur res extensa, der im Raum ausgedehnten Materie, dem Körper.

Das von Descartes ermittelte Subjekt, das in der Philosophiegeschichte um die Mitte des 20. Jahrhunderts als Produkt einer Unterwerfung der Natur und Resultat eines Durchgangs durch den Wahnsinn erkannt wird,2 integriert mit dem Zweifel auch die dem Subjekt drohende Nicht-Identität in das geschlossene System des Ichs. Der affektiven, von Leidenschaften beherrschten Seite des Subjekts, der philosophiegeschichtlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine konstruktive Funktion im Vorgang der Erinnerns zukommen sollte, denkt das erkenntnistheoretische Konstrukt Descartes’ dabei allerdings keine Eigenständigkeit zu. Laut Peter Bürger brachte jedoch gerade der Akt der Selbstdisziplinierung durch das Phantasma instrumenteller Vernunft „dessen Widerpart: die Innerlichkeit“3 hervor. Der im cartesischen Vernunft-Begriff somit gleichsam eingeschlossene Bereich des affektiven Ichs lebt „als ennui und als gleichermaßen rast- und zielloses Verlangen“4 fort.

Einer der ersten Kritiker dieser einseitigen Fokussierung auf das Vernunftsubjekt findet sich mit Blaise Pascal bereits in direkter Nachfolge von Descartes. Der dezidiert christlich geprägte Denker weist das Desinteresse an Gott, das er in Decartes’ philosophischem Gebäude zu erkennen glaubte, in seiner aphoristischen, posthum veröffentlichen Textsammlung Pensées (1670) als Folge beispielloser Vernunftzentrierung aus. Für Pascal hinterließ die Abwendung von Gott offensichtlich eine Lücke, die den Menschen in den Zustand einer fundamentalen Langeweile (ennui) versetzt und ihn dazu veranlasst, fortwährend nach Zerstreuung (divertissement) im Diesseits zu suchen. Die Leere der Menschen fasst er in das zweifelhafte Bonmot, dass ihr „Unglück […] einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können“5.

Das von Pascal geforderte Retour zu Gott aktualisiert, aus der historischen Vogelperspektive betrachtet, die Augustinische Hinwendung zum göttlichen Du. Was neben seiner religiös motivierten Kritik subjektiver Selbstermächtigung überdies zum Vorschein kommt, ist sein grundlegendes Misstrauen gegenüber einer Erkenntnislehre, die mit einem konsistenten und beherrschbaren Subjektbegriff operiert. Pascals Reflexionen im Kapitel „Elend des Menschen ohne Gott“ lesen sich trotz ihrer religiösen Motivierung als eine Subjektkritik, wie sie zum Leitmotiv zahlreicher philosophischer Konzepte im Laufe 20. Jahrhundert avancierte. Sein Gedanke, dass das denkende Ich eines Bezugspunktes außerhalb seiner selbst bedürfe, um dem Nichts am Grund der endlos um sich selbst zirkulierenden Denkbewegung zu entkommen, weist auf moderne und postmoderne Erkenntniskonzepte voraus. Pascal charakterisiert das Ich darin durch zwei Eigenschaften:

[E]s ist unrecht an sich, soweit es sich zum Mittelpunkt von allem macht, und es ist andern unbequem, soweit es sie beherrschen will: denn jedes ‚Ich‘ ist der Feind aller andern und möchte sie alle beherrschen.6

Die Diagnose über das sich selbst zentrierende und folglich alle anderen unterwerfende Ich erscheint als explizite Invektive gegen Descartes’ Ideal einer epistemischen Autorität des Subjekts, mit der die egomanische Seite der Selbstsorge erstmals umfassend zum Ausdruck kommt.

Am Grund der Selbstzentrierung wie der kompensatorischen Suche nach Zerstreuung steht für Pascal die Angst vor dem Angriff auf die Selbstgewissheit des Ichs. Vor Hegel, Nietzsche und Kierkegaard, aber auch vor Freud und Lacan erkennt er in der Angst des Menschen jene unbezähmbare Größe, die das Ich unaufhaltsam ihres scheinbar festen Fundaments beraubt und in verschiedene, widerstrebende Teile zerfallen lässt. Die Angst, so die schlichte und doch den archimedischen Subjektbegriff aus den Angeln hebende These, setzt noch das stärkste Verstandes-Ich außer Kraft. Der von Platon überlieferte selbstgewisse Gang des Sokrates in den Tod müsste vor diesem Hintergrund als philosophische Legende erscheinen. Denn im Zustand der Angst übernimmt der Affekt die Kontrolle über die Vernunft. Das in Angst befindliche cartesische Geist-Ich ist nicht dazu imstande, die ihn umgebende Welt als obiectum verstandesmäßig zu kontrollieren. In letzter Konsequenz, wie sie nur im Angesicht des Todes gegeben ist, müsste jedes rationale Argument, jede philosophische und religiöse Tröstformel zur abgegriffenen Münze und zum Hohn für den Sterbenden werden, da sein Versuch, die Angst zu bezwingen, von dem ungewissen Humanum der Gegen-Vernunft durchkreuzt wird. Für Pascal liegt einzig in der Akzeptanz des Ungewissen ein Ausweg aus der existentiellen Angst. Er artikuliert in den Pensées ebenjenen Imperativ, der auch Schlingensiefs Kirche der Angst als Fanal voransteht: „Fürchte dich nicht, vorausgesetzt, daß du dich fürchtest.“7

Durch den Verlust des göttlichen Gegenübers und die Nicht-Akzeptanz der das Verstandes-Ich außer Kraft setzenden Angst steht das cartesische Ich gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich unter der permanenten Bedrohung, in unvereinbare Einzelteile zu zerstäuben. Im Übergang zum 20. Jahrhundert, lange vor dem strukturalistisch geprägten linguistic turn, wurde im Feld der Psychologie und der Sprachkritik bekanntermaßen die Basis für den erkenntnistheoretischen Zweifel am sich-selbst-denkenden und selbst-beschreibenden Subjekt gelegt: von Nietzsches fundamentaler Subjektkritik und Freuds Erkenntnissen über das menschliche Bewusstsein. Im Umkreis der Wiener Moderne konstatiert Hugo von Hofmannsthal im Rahmen seines sprachkritischen Chandos-Brief (1902) die Unmöglichkeit einer sprachlichen Vermittlung seiner selbst; Robert Musil entwirft in seinem für die Subjektphilosophie des 20. Jahrhunderts einflussreichen Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften (1942, unvollendet) gar das Konzept eines „Möglichkeitsmenschen“8, das der Vorstellung einer Diffusion des Ichs in „Andere“ eine bis heute wirkmächtige Metapher gibt. Dem Subjekt, das sich nicht als abgeschlossenes Ganzes zu fassen bekommt, sondern sich als teilbares Fluidum immer wieder neu entwerfen muss, ist fortan die Unmöglichkeit eingeschrieben, sich als ein Bild mit strikten Rändern zu entwerfen. Die genannten Konzepte sind durchdrungen von der im Rimbaudschen „Je est un autre“9 gefassten Gewissheit, dass sich das Ich „als Ort der Täuschung und Durchgangsstation einander ablösender oder durchdringender Sprachen“10 nicht disziplinieren kann und dem Fremden im Selbst bedingungslos ausgeliefert ist. Mit der Auflösung des Identitätsbegriffs hat das Subjekt allerdings zugleich die Möglichkeit gewonnen, in einen scheinbar endlosen metamorphotischen Prozess der Sinnstiftung einzutreten.

Die Diagnose über den Verlust einer konsistenten und konstanten Position des Subjekts zugunsten seiner Sedimentierung in zahlreiche, sich kontrastierende Partikel ist spätestens seit der vielbeschworenen Rede vom auseinanderfallenden postmodernen Subjekt zu einem Allgemeinplatz philosophischer und kulturwissenschaftlicher Reflexion geworden.11 Schließlich hatte das auf der Grundlage moderner Psychoanalyse und Sprachskepsis entstandene Sprachparadigma im Umfeld poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Positionen die bis dahin gesetzte Relation zwischen dem Subjekt und seiner Sprache erheblich torpediert. Der poststrukturalistischen Idee von der umfassend sprachlichen Strukturierung des Wirklichen entsprechend, ist das „Ich“ – entgegen seiner autoritären Position im syntaktischen Satzgefüge – dem Sprechen keineswegs vorgeordnet, sondern vielmehr „Effekt dezentrierter textueller Mechanismen“12 und kann für sich keinen erkenntnistheoretisch extraterrestrischen Standpunkt in der Welterschließung beanspruchen. Gemäß dieser Lesart bildet Sprache keine Substanz mehr ab, sondern Bedeutung wird, umgekehrt, zuallererst durch Sprache hervorgebracht. So erzeugt erst der Sprechakt des Ichs im Prozess der Semiose das Subjekt.

Mit der Überzeugung, dass jeder Welt- und Wirklichkeitsbezug a priori sprachlich verfasst und folglich konstruiert, das Subjekt in Anbetracht des umfassenden Sprachparadigmas nicht mehr „Herr in seinem eigenen Hause“13 und letztlich auch die Möglichkeit eines Sich-Selbst-Zur-Sprache-Bringens verloren sei, sind die Fluchtpunkte der postmodernen Subjektkritik abgesteckt. Der Verlust der Macht über die Sprache als setzender Kraft hat schließlich zur raumgreifenden Einsicht geführt, die der Subjektvorstellung Descartes’ diametral entgegengesetzt ist, nämlich dass das Subjekt Effekt von Unbewusstem und Ideologie sei.

Durch die Umkehrung der Pole von subjektiver Essenz einerseits und ihrer medialen Abbildung andererseits hat das postmoderne Denken nicht nur einen Reflexionsprozess über jene diskursiven Mächte ausgelöst, welche die menschliche Individualität und Autonomie konstituieren, sondern zugleich auch die Möglichkeiten begrenzt, philosophisch sinnvoll über den Menschen als Einzelnen und gesellschaftliches Wesen gleichermaßen zu sprechen. Auf den von Nietzsche ausgerufenen „Tod Gottes“14 folgte in rasanter Fortsetzung der dekonstruierenden Kahlschläge die Proklamation des „Tod des Subjekts“15, die Diagnose über das „Verschwinden des Menschen“16, den „Tod des Autors“17 und das „Ende der großen Erzählungen“18. Die großen philosophischen Grablegungen des 20. Jahrhunderts provozierten und provozieren vehement geführte Debatten über die Frage, ob und in welcher Weise überhaupt noch sinnvoll von einem Subjekt gesprochen werden könne und wenn ja, wie dieses nach seiner „postmodernen Selbstzerlegung“19 überhaupt aussehen könnte. Mit diesem methodischen Zweifel am Subjekt hat auch das gnothi seauton einen gegenüber der hermeneutischen Subjekt-Vorstellung vollkommen veränderten Bedeutungshorizont erhalten, der nicht mehr im abendländischen Diskurs der Vernunft verankert zu sein scheint. Nicht nur, mit welcher Sprache das Subjekt überhaupt noch zu erkennen sei, sondern auch, ob es überhaupt noch ein zu erkennendes Subjekt gebe, steht seither in Diskussion. Dieser philosophischen Nichtung des Subjekts Folge leistend, müsste der Satzteil „Ich bin“, der gemeinhin die eigene Position und Relation zu etwas oder jemandem kennzeichnet, gänzlich aus dem Wortschatz des Ichs verbannt werden.

Da mit einem derart endgültigen und wörtlich gefassten Tod des Subjekts allerdings weder auf sprachpragmatischer noch auf philosophischer Ebene weiter zu kommunizieren ist, zeitigt die Destruktion des Subjekts nach den Gesetzen der Dialektik mittlerweile dessen sukzessive Rekonstruktion. In diesem Sinne hebt Roland Hagenbüchle den Umstand hervor, dass die Leerstelle des poststrukturalistisch destruierten Subjekts bald neu gefüllt wurde: „Dem angeblichen Verschwinden des Subjekts und seinem Aufgehen in einem transsubjektiven kulturellen Zeichensystem steht nämlich das Faktum seiner hartnäckigen Existenzbehauptung gegenüber.“20 Die „Wiederauferstehung des Subjekts“21 erfolgte selbstredend in gewandelter Gestalt, nach Jochen Schütze gar mit dem Gestus der narzisstischen Selbstbehauptung, durch den das Ich den Verlust seiner festen Konturierungen kompensiert:

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9783823300489
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