Читать книгу: «Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes», страница 3
1.1 Das Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir
Schlingensief war sich bereits am 20. Februar 2008 darüber bewusst, dass er die Auflehnung gegen sein mögliches Ende in Kunst überführen müsse und hielt unter diesem Datum in seinem Krebstagebuch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein den Wunsch fest, Fragmente seines Ichs in eine Inszenierung zu montieren: seine Gedanken in szenische Bilder zu transformieren, sich an seinem Freund Beuys abzuarbeiten und mit seinen Lieblingen auszusprechen, seine Altäre aufzubauen und den Leuten, die er verehre, zu huldigen.1 Schon im Juni 2008 inszenierte er als Recherchearbeit zu seinem Fluxus-Oratorium im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters einen zunächst lediglich seinem privaten Umfeld zugänglichen Abend, der im November desselben Jahres unter dem Titel Der Zwischenstand der Dinge einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Seine erste öffentliche theatrale Auseinandersetzung mit dem Tod stellt allerdings die Inszenierung Eine Kirche der Angst im Rahmen der Ruhrtriennale dar. Im Fluxus-Oratorium als einem komplexen „Gewebe von Zitaten“2 bildeten neben Werken von Joseph Beuys und Richard Wagner, der Gattungsbezeichnung entsprechend, auch jene von Fluxus-Künstlern die Grundierung seiner theatralen Collage. Einem Gedanken Ciceros entsprechend, wonach das Alter Ego als zweites Selbst die Position eines katalysatorischen Gegenübers einnimmt, dienten Schlingensief die künstlerischen Vorbilder als Reflexions- und Projektionsflächen seiner eigenen Gedanken.3 Sowohl die Konfrontation mit als auch die Projektion auf verschiedene/n Alter Egos ermöglichte es ihm, nicht nur in seinem eigenen Namen von sich zu erzählen, sondern seine Geschichte als diejenige Anderer zu imaginieren. Die seinen Theaterarbeiten von Anbeginn zugrunde liegende, in den letzten Inszenierungen jedoch um die Dimension seiner prekären Existenz zugespitzte ästhetische téchne des Zusammentragens und -setzens von heterogenem künstlerischen Material bezog er dabei letztlich, entgegen seinem in der Tagebuchnotiz erklärten Programm, nunmehr umfassend auf die Thematisierung seines Ichs. Seiner existentiellen Vagheit hat er auf diese Weise ein ästhetisches Äquivalent abgerungen, das sein Ich in immer andere und neue Kontexte einwob.
Der Zuschauer, der sich im Jahr 2008 in die Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg Nord aufmachte, begab sich der Idee nach sowohl in einen theatral behaupteten Kindheitsraum des Regisseurs, nämlich in den Nachbau der Herz-Jesu-Kirche Oberhausen, wo Schlingensief als Messdiener tätig war, als auch in eine seiner künstlerisch prägenden Etappen zurück, an den Drehort seines Films Terror 2000. Unter dem von Beuys entlehnten Motto der Inszenierung, „Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht geheilt“4, hielt Schlingensief darin eine Kunst-Messe ab. Im Zentrum stand das theatral umgeformte liturgische Moment der von ihm selbst als Priester vollzogenen Wandlung, die den Transformationsprozess vom leidenden zum autonomen Subjekt markieren sollte. Mit seiner Kirche der Angst griff der Regisseur expressis verbis auf das Programm seiner im Jahr 2003 sich firmierenden Church of Fear zurück. Die im Rahmen der Biennale in Venedig gegründete und durch zahlreiche Aktionen bespielte Anti-Kirche verfolgte das selbsterklärte Ziel, die Mechanismen zur Instrumentalisierung von Ängsten durch übergeordnete Sinngebungssysteme wie etwa Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber auch durch Politik und Wirtschaft offenzulegen und den Institutionen des Glaubens durch eine Gemeinschaft von Nicht-Gläubigen entgegenzutreten. Die Parallele zu Wagners Vision einer die Religion inkorporierenden Kunst zeigt sich dabei deutlich. Wie Wagners, in der Regenerationsschrift Religion und Kunst (1880) erdachte ästhetische Kontrafaktur einer Kirche,5 die mit dem Bayreuther Festspielhaus in eine Kirche der Kunst mündete, so stand Schlingensiefs Church of Fear entgegen ihrer autonomen Programmatik nichtsdestoweniger im Zeichen einer fundamentalen religiösen Heteronomie. Schlingensiefs Kirche löste ihr alternatives Versprechen, die Anhänger nicht durch Dogmen zu binden, sondern Menschen zu versammeln, „denen das Glauben misslungen ist“6, nämlich nicht ein, sondern gab den Glaubenden gleichwohl einen dogmatischen Imperativ als Handreichung mit: „Habt Angst!“7 lautete das Gebot der Church of Fear.
In seiner Duisburger Kirche der Angst richtete Schlingensief diesen Appell nunmehr in erster Linie an sich selbst. Zwar blieb dabei die ästhetische Funktionalisierung der betont paradoxen Überschreibung von Kirche als Ort des Glaubens mit dem Gefühlszustand der Angst auch unter den gewandelten Vorzeichen von Schlingensiefs persönlichem Zustand konstitutiv. Die Negation von Glaubensdiktaten, die in der Church of Fear noch durch die ostentative Umkehrung von religiösen Tröstformeln wie „Fürchtet euch nicht“ in „fear is the answer“ zum Vorschein kam, trat im Fluxus-Oratorium allerdings in deutlich zurückgenommener Form in Erscheinung. Der Regisseur nutzte sowohl die Wirkungssphäre des Sakralen als auch das dramaturgische Gerüst des Gottesdienstes, um auf deren Basis das religiöse Glaubenssystem und dessen Riten szenisch nachzustellen und zu hinterfragen. Dementsprechend geriet das theatrale Setting regelrecht überbordend: Die Gebläsehalle bot sowohl Kirchengestühl für die Zuschauer wie einen Altarraum für szenische Aktionen auf. Ein Mittelgang wurde für Ein- und Auszüge des singenden Messpersonals verwendet. Kirchenfenster, religiöse Insignien und der Geruch von Weihrauch intensivierten die sakrale Atmosphäre. Konterkariert wurde der kirchliche Pomp durch Bezugnahmen auf eigene und fremde künstlerische Referenzen sowie ironische Kreuzungen religiöser und persönlicher Devotionalien.
Die Verwandlungen des Bühnenraums, der einmal Krankenzimmer, dann wieder Apsis und doch beides nie ausschließlich war, die Filme, Bilder und Texttafeln, die auf mehrere Leinwände projiziert wurden und das Geschehen auf der Bühne sowohl rahmend kommentierten als auch widersprüchlich übermalten, kreierten ein multimedial codiertes, dissonantes Panoptikum der Schlingensiefschen Existenz. Auf der Grundlage seiner Tagebuchaufzeichnungen, die von verschiedenen Darstellerinnen gelesen wurden, der Einspielung von persönlichen Tonbandaufzeichnungen, dokumentarischen Kinderfilmen sowie Filmen, mit denen er die für ihn künstlerisch prägenden Erlebnisse offenlegte, verknüpfte Schlingensief seinen von Zukunftsangst besetzten gegenwärtigen Zustand mit einer Fülle an vergangenen und fingierten Ichs.
An den Kritiken zu Eine Kirche der Angst zeigt sich paradigmatisch die Schwierigkeit, die Schlingensiefschen Spezifika der ästhetisch wie topologisch „ausstreuenden“ (disseminativen) Inszenierungspraxis und der Evokation des Absoluten im Zeichen der Wiederaufnahme romantischer Kunstphilosophie in einen strukturiert urteilenden Kritiker-Jargon zu überführen. Der Regisseur selbst legte durch die Gattungsbezeichnung des „Fluxus-Oratoriums“ zumindest die Spur zu dem von der Kritik problematisierten Charakteristikum des Montierens von heterogenem Erinnerungsmaterial in den religiösen Rahmen. Die durch den Titel programmatisch angekündigte und im Laufe der Inszenierung tatsächlich vollzogene Vermischung des dynamisch-spielerischen Moments (Fluxus) mit der dem Sakralen eigenen statuarischen Feierlichkeit (lat. oratorium, Bethaus) führte den Großteil der Kritiker zu einer gewissen Unentschiedenheit darüber, ob sie einer überbordenden medial-theatralen Arbeit ansichtig wurden, oder vielmehr an einer parareligiösen Kunst-Messe teilgenommen hatten, die die Rezipienten unweigerlich in den Status von Kirchgängern versetzte. Um diesem eigentümlichen Mischungsverhältnis rhetorisch beizukommen, übernahm das Gros der Rezensenten die im Titel implizierten Terminologien des Fluxus und des (Kunst-)Religiösen, die durch inszenatorische Verweise auf die zentralen spiritus rectores Beuys und Wagner ohnehin deutlich angezeigt waren, und gruppierte die Besprechungen um die semantischen Felder des Schrill-Bunt-Assoziativen und des Andächtig-Rituell-Feierlichen, ohne die Verkettung der beiden Ebenen begrifflich auflösen zu können. Die der Inszenierung zugrunde liegende Verflechtung von Widersprüchlichem wurde von der Kritik folglich ebenso als Leitmotiv aufgegriffen wie die privatreligiöse Aufladung von Kunst.
In den Augen des Kritikers Matthias Heine glich das von Schlingensief inszenierte Weltbild in Eine Kirche der Angst mehr denn je demjenigen einer „Kunstreligion“8. Er sah eine „wilde, synkretistische Messe“9, deren quantitative Dichte an Zeichen sich dem Zuschauer allein deshalb verschloss, weil die Aufführungen „keine Fußnoten“10 hatten. Die Fülle an künstlerischen Referenzen, die Schlingensief im Laufe seiner theatralen Messe aufgeboten hatte, wurde mit unterschiedlichen Implikationen von der Kritik ebenso einhellig aufgegriffen wie die ästhetische Konstruktion von Widersprüchen. So war Dirk Pilz, der die Produktion für NZZ und Berliner Zeitung rezensierte, der Auffassung, dass „das Sakrale und das Profane, das Blasphemische und das Heilig-Ernste“11 in der Tat bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander übergegangen waren und sah den Abend regelrecht „aus dem Geist des Synkretismus“12 entstehen. Anders als Heine allerdings qualifizierte er gerade die vorgeführte „Kunst der Maßlosigkeit“13 zum Prozess der Sinnstiftung. Auch Dorothea Marcus versuchte auf nachtkritik.de die Vereinigung der Gegensätze durch ein kontradiktorisches sprachliches Etikett in den Griff zu bekommen und beobachtete eine „blasphemische Gottessuche, ein ketzerisches und ebenso tiefgläubiges Ritual“14. Ähnlich argumentierten die Kritiker für Spiegel und Tagesspiegel: Wolfgang Höbel verfolgte eine „schrille, herzergreifende […] Totenmesse“15, während Rüdiger Schaper gar ein „bizarres, aufwühlendes Hochamt“16 erlebte, das er rhetorisch in die für Schlingensiefs Arbeitsweise charakteristische paradoxe Trias von „Kitsch, Kampf, Kommunion“17 verkürzte. Andreas Rossmann beurteilte das Vorhaben des Regisseurs, die „eigene Krankheit szenisch-musikalisch zu reflektieren“18, gar als „egomanisch, exhibitionistisch, blasphemisch, kitschig und privat […], aber auch anrührend, beeindruckend, authentisch, experimentell und mutig“19. Mit seiner Auffassung, dass „[d]er Abend […] das alles – einerseits und andererseits, zugleich und zusammen“20 war, verwies er auf die dem compositum-Prinzip Schlingensiefs grundlegende und in den Augen der Kritiker nur schwer zu durchdringende Verknüpfung von selbstinszenatorischem Gestus mit künstlerischer Genuinität und gesellschaftskritischem Auftrag.
Mit Rossmanns Formel der Egomanie war zugleich die künstlerische Selbstthematisierung, in der die Aspekte der Wahrheit, Unmittelbarkeit und Authentizität widersprüchlich in Szene gesetzt wurden, und damit ein weiterer zentraler Angelpunkt der feuilletonistisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Inszenierung angesprochen. Die Rezensenten schlossen dabei das Motiv der Nacktheit mit den Themen des Schmerzes, des Leids und des Todes zusammen. Für Dorothea Marcus etwa eröffnete Eine Kirche der Angst eine „neue Dimension des Authentischen auf der Bühne“21. Nie habe sich Schlingensief „[p]rivater und persönlicher, nackter und trauriger“22 gezeigt und die „Inszenierung seines Lebens“23 auf diese Weise zu einer „Inszenierung um sein Leben“24 ausgestaltet. Auch aus der Sicht Peter Michalziks war der Arbeit deutlich abzulesen, dass da „einer die Wahrheit über sich selbst wissen“25 wollte und dabei nur mehr einen kleinen Schritt von der göttlichen Selbststilisierung entfernt blieb. Aufgrund seiner exhibitionistischen Selbstdarstellung geriet der Theatermacher in seiner „Krebs-Messe und Selbstsuche“26 letztlich allerdings zum „Priester in eigener Sache“27. Rüdiger Schaper deklarierte Schlingensief doppeldeutig zum „Performer vorm Herrn“28 und betonte, dass sich der Regisseur „[m]it seiner gesamten Existenz“29 in eine Produktion hineingeworfen habe, die zugleich „sein radikaler Lebensbeweis“30 war.
Für Wolfgang Höbel hätte der Künstler, um aus der eigenen Krankheit, aus seinem Zorn, aus seiner Hilflosigkeit einen ergreifenden Theaterabend zu machen, allerdings „kein Fluxus-Brimborium“31 gebraucht, da die Kraft des Abends einzig „aus der Sprache von Schlingensiefs Krankenakte, manchmal auch aus dem Kitsch“32 gekommen sei. Höbel bewertete die christlich-rituelle Rahmung als Akzidens, das dem primären Ansinnen Schlingensiefs nach faktualer Lebensdarstellung auf der Basis autobiographischer Dokumente recht eigentlich zuwidergelaufen sei. Die Arbeit, so die Diagnose, habe durch die intermediale Verflechtung nicht an perspektivischer Vielfalt gewonnen, sondern sei ihrer möglichen Klarheit verlustig gegangen. Der Umstand, dass die medizinische Anamnese des Krankentagebuchs im Rahmen der Inszenierung einerseits über Tonbanddokumente zugänglich wurde, was einer nachdrücklichen wie irreführenden Suggestion von Authentizitätseffekten gleichkam, und andererseits durch die Lektüre von Schauspielern verfremdend zur Darstellung gelangte, warf nahezu flächendeckend die Frage auf, ob und inwiefern es sich bei Eine Kirche der Angst um Kunst, Leben oder beides zugleich gehandelt habe. Damit war ebenso zum wiederholten Mal das Bestreben einer ersatzreligiösen Erbauung wie die problematische künstlerische Funktionalisierung der „nackten Wahrheit“ angesprochen –, ein Topos, den schon Nietzsche ganz grundsätzlich in Abrede stellt und Hans Blumenberg im metaphorischen Feld von Bekleidung und Verkleidung verortet, da sich Wahrheit notwendigerweise in die Phänomene des Durchschautseins, der Maskierung und der schamverletzenden Enthüllung differenziert.33 Auf der Grundlage des ästhetisch problematischen Zusammenschießens von Authentizitätsanspruch und Selbststilisierung stellte sich Ulrich Seidler die Fragen, ob es dem Künstler Schlingensief überhaupt möglich war, beides gleichzeitig zu vertreten und, ob sich die Rezipienten seines Fluxus-Oratoriums auf der Seite seiner Kunst und seines Lebens zugleich aufhalten konnten, und gelangte dabei zu einem eindeutig negativen Urteil:
Bei Schlingensief sind die Grenzübergänge zwischen Kunst und Leben vielleicht schlechter bewacht, erlauben ein reges Hin-und-her und ziehen inzwischen einen Großteil der interpretatorischen Aufmerksamkeit auf sich. Aber man kann sich dennoch nicht – auch nicht bei Schlingensief – gleichzeitig auf beiden Seiten aufhalten.34
Peter Kümmel wiederum bezeichnete die theatrale Umspielung der eigenen Krankheit unter dem von Elias Canetti entlehnten Motto „Ihn brennt der Tod“35 als logische Konsequenz des künstlerischen Ansatzes Schlingensiefs, der das Lavieren zwischen Realität und Fiktionalität, zwischen wahrhaftiger Aussage und inszenierter Behauptung schon vor der Krebsdiagnose zum künstlerischen Credo stilisiert hatte:
Er hat sich stets geweigert, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden, er war zu dieser Trennung gar nicht fähig, und so war klar, dass seine verheerende Krebserkrankung, die im Januar öffentlich wurde und die ihn einen Lungenflügel kostete, Teil seines Werkes werden würde.36
Durch die Rede vom Einbrennen verwies Kümmel über den Autor Canetti zugleich auf die philosophisch-ästhetische Topologie des Schmerzes, die der selbstvergessenen Erfahrung von Lust die bewusstseinsfördernde Funktion des Schmerzes entgegenstellt. In diesem Sinne bezeichnet bereits Kant die Pein als „Stachel der Tätigkeit“37, durch die „wir allererst unser Leben“38 fühlen. Sigmund Freud wiederum verortet den Schmerz, in dem das zunächst allumfassende Ich sich in das „enge und schärfer umgrenzte […] Ich-Gefühl“39 zusammenziehe, im konstitutiven Bereich der Subjektwerdung. Nietzsche stellt in der Genealogie der Moral (1887) gar einen Konnex zwischen Schmerz und Erinnerung her, indem er das gewaltsam aufgezwängte Mal als die ewig im Gedächtnis bleibende Spur definiert: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.“40
Von der in das Leben des Regisseurs eingebrannten Wunde des bevorstehenden Todes wurde man auch als Zuschauer des künstlerischen Lebensbeweises tingiert. Der Journalist Dirk Pilz fand angesichts der Theatralisierung des Schmerzens-Ichs Schlingensief in diesem Sinne wieder zum „Kinderglauben“41 zurück, wonach „Kunst noch direkt ins Zuschauerleben eingreifen, es verändern und verwandeln“42 könne. Ebenso sah Peter Kümmel hinter der öffentlichen Zurschaustellung der persönlichen Wunde die Evokation einer Teilhabe der Gemeinschaft der Rezipienten. Mit dem Bild der liturgischen communio initiierte Schlingensief, der im Rahmen der Inszenierung das Brot brach und den Wein trank, demnach eine Ritualisierung des Ichs und sprach damit nicht nur die eigene, sondern die existentielle Angst aller an:
Im Lauf des Abends begreift man seine Aktion immer weniger als den Akt eines wahnwitzigen Narzissten, der in unseren Blicken baden will. Man kommt dahin, Schlingensiefs Aktion auch als Akt der Großzügigkeit zu begreifen: Ein Mann vergesellschaftet seine Angst, er stellt sie uns wie einen Überschuss an Wärme zur Verfügung.43
Die vom Regisseur in einem Interview selbst als „Kampfsituation“44 bezeichnete kritische Reflexion über seinen Glauben rief schließlich auch eine katholische Tageszeitung auf den Plan. So kritisierte Johannes Seibel von Die Tagespost den Umstand, dass Schlingensief seine Krankheit nicht in stiller Kontemplation erdulde:
[I]m Prinzip tut Schlingensief genau das, was er angesichts der Wucht der Krankheit, an der er leidet, vorgibt, nicht länger tun zu wollen, nämlich ein simuliertes Leben zu leben. Er simuliert die Nichtsimulation seiner Krankheit, und das Denken an das Sterben wird schon wieder dramatisch, es wird inszeniert. Anstatt zu verstummen, sich zurückzuziehen, Gedanken zu fassen, was die angemessene Reaktion auf die angeblich von Schlingensief gewonnene Einsicht wäre, wie hinfällig doch das Leben sei, übernimmt er sofort wieder die Rolle, die nämlich des Leidensbeauftragten. Und schon wieder wird das Sterben öffentlich als Tragödie verhandelt, als heroische Kampfsituation, als Herausforderung für echte Berserker.45
Dem von katholischer Dogmatik durchdrungenen Kommentar Seibels, der die anthropologische Konstante von Selbstinszenierung ebenso verschweigt wie das im Ritual sich ereignende Moment des Offenen, der Transgression, steht das Abwägen einer Vielzahl von Rezensenten gegenüber, ob Schlingensief sich selbst in Anbetracht der konkreten Möglichkeit des Todes unmäßig wichtig genommen habe – wobei die Parallelisierung seines Leids mit der Passion Christi dem Eindruck der Hypertrophie Vorschub leistete – oder, ob gerade im schonungslosen Exhibitionismus nicht doch die unerhörte und brisante Qualität der Inszenierung lag. Diese Unentschlossenheit hatte ganz offensichtlich damit zu tun, dass das Ich selbst zum Träger einer dem Gesamtkunstwerksgedanken eingeschriebenen Überwältigungsstrategie und mithin einer Idee des Absoluten wurde. Auf das von Bazon Brock ausgeführte Dispositiv von „Totalkunst“46, dem in Radikalisierung des Gesamtkunstwerks die Absorption von Allem unausweichlich zugrunde liegt, rekurrierte implizit Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung. Der Kritiker stand dem Abend zwar „bewundernd ob [seiner] Schonungslosigkeit“47 gegenüber, stellte letztlich jedoch irritiert fest, dass der Künstler keine offene Kommunikation über seine Ängste in Gang setzen konnte, da „[a]lles an diesem Abend […] Schlingensief und nur er“48 gewesen sei.
Die Einbettung des persönlichen Zustands in die liturgische Form evozierte letztlich höchst zwiespältige Reaktionen unter den Kritikern, die zwischen Bewunderung und Irritation changierten. In den Augen vieler Rezensenten war die schonungslose Thematisierung von Schlingensiefs Angst, die in erster Linie Anteilnahme provozierte, zumindest verantwortlich für die Unkritisierbarkeit des Abends. Da sich eine Messe nicht kritisch distanziert rezipieren, sondern lediglich feiern lasse, entzöge sich die kunstreligiöse Ritualisierung des Privatmenschen Schlingensief in Eine Kirche der Angst von vornherein des begrifflichen Inventars der Theaterkritik.49
Eine beträchtliche Anzahl an Schreibern kreiste schließlich um die mit dem rituellen Rahmen verbundene Praxis der Selbstaussprache. Durch seine Formulierung vom „Requiem auf das eigene Schaffen“50 versah Egbert Toll die autobiographische Redefigur des Resümees mit einer religiösen Implikation. Dem ähnlich hob Rossmann das von Schlingensief generierte Moment der „größtmögliche[n] Bilanzsituation“51 angesichts der existentiellen Erfahrung von Todesnähe hervor und rückte die Inszenierung auf diese Weise ebenso in die Nähe der Autobiographie. Julian Weber glaubte im Fluxus-Oratorium gar ein „Glaubensbekenntnis des Künstlers“52 erkannt zu haben.
Durch das Verweben von introspektiver Selbstsuche und extrovertierter Invokation Gottes kombinierte Schlingensief im Rahmen der Inszenierung in der Tat zwei Grundformen autobiographischer Praxis: die Beichte und das Bekenntnis. Die rückblickende Betrachtung auf das hinter sich gebrachte Leben, die in den Augustinischen Confessiones noch eine Selbstentblößung vor Gott gewesen war, entwickelte sich in der abendländischen Kulturgeschichte erst mit Rousseaus Confessions zu einer mit unbedingtem Wahrheitsanspruch verbundenen Selbstdarstellung vor den Mitmenschen. Im Messritual von Eine Kirche der Angst blieben beide Formen autobiographischer Praxis präsent. So gestaltete Schlingensief sein Spiel mit der intimen Ansprache Gottes im stilisierten Kirchenraum zu einer performativen Aussprache mit sich selbst vor den Augen der Öffentlichkeit um, die die existentielle mit der künstlerischen Selbstbefragung kurzschloss.
Einen derartigen Konnex zwischen autobiographischem Bekenntnis und religiöser Beichtpraxis etablierte Dirk Pilz. Seine Rezensionsformel „[i]ntime Beichte und künstlerische Bilanz“53 verweist auf das seit Goethes Dichtung und Wahrheit autobiographisch institutionalisierte Künstlerbekenntnis. Der Kritiker der Welt schließlich entdeckte in Eine Kirche der Angst das Moment künstlerischer Konzentration, das Schlingensief „vom Pfad der blödsinnigen Zerstreuung“54 abgebracht und auf das zurückführt habe, was ihn wirklich angehe. Damit war nicht zuletzt der Topos des Bekehrungserlebnisses benannt, der seit Augustinus als autobiographisches nunc stans figuriert, in dem sich das gesamte Leben zusammendrängt, und der das Subjekt dazu anregt, sein Leben zu ändern und in eine neue Richtung zu führen.