Читать книгу: «Der Pfeiler der Gerechtigkeit», страница 6

Шрифт:

»Ich … ich … ja, natürlich! Seid bedankt, Herr Apotheker«, stammelte Simon.

Zunftmeister Wachter erklärte, Simon müsse dann die Bäckerzunft verlassen, und die Zusammenkunft galt als beendet. Nach und nach verließen die Genossen den Zunftsaal. Als Simon ins Freie trat, packte Wulf ihn plötzlich am Ärmel.

»Das hast du dir ja fein ausgedacht. Du weißt ganz genau, dass ich zu Sterzing wollte. Das wirst du mir büßen, verlass dich drauf«, zischte sein Stiefbruder ihn an.

»Ich hatte keine Ahnung davon, dass er mich als Lehrling annehmen will. Lass mich endlich zufrieden«, fauchte Simon zurück und riss sich los.

Bevor Wulf noch etwas entgegnen konnte, rief der Apotheker nach Simon. »Komm, wir gehen nach Hause.«

Simon bezog eine winzige Kammer neben dem Laboratorium und lernte täglich all die lateinischen Namen der Pflanzen auswendig und für welchen Zweck sie zu Elixieren und Salben verarbeitet wurden. Sterzing war ein strenger, aber geduldiger Lehrer. Lehrgeld bekam er nicht, solange er das Bürgschaftsgeld nicht abgearbeitet hatte. Wenigstens hatte der Apotheker ihm gezeigt, wie man Marzipan herstellte, nachdem er lange genug gebettelt hatte.

Julia bekam er außerhalb der gemeinsamen Mahlzeiten wenig zu Gesicht. Das Mädchen ging ihrer Mutter zur Hand und erfuhr, wie man die Bücher zu führen hatte. Doch immer öfter suchte sie einen Vorwand, um zu ihm ins Laboratorium oder in die Schneidekammer zu kommen. Dort wurden Wurzeln mit einem Wiegemesser zerkleinert, Samen und Früchte zerstoßen. Ihre Besuche währten nie lange, aber sie erhellten Simons Tag. Einmal hatte sie seine Hand geführt, als er sich ungelenk mit dem Pistill angestellt hatte. Die Berührung hatte sein Herz schneller schlagen lassen, und ihm war ganz heiß geworden. Seither mimte er den Ungeschickten, wann immer Julia auftauchte. Überhaupt hatte sich sein Körper in den letzten Monaten verändert. Seine Stimme besaß nun einen tiefen Klang und er war mindestens einen Kopf größer, sein Rücken war breiter geworden, während die Hüften schmal geblieben waren. Und auf seinen Wangen zeigte sich ein dunkelblonder Bartwuchs. Simon war nicht entgangen, dass Julia zur Frau heranreifte. Kleine runde Brüste zeichneten sich deutlich unter ihrem Kleid ab, und er ertappte sich wieder und wieder bei dem Gedanken, wie sie wohl aussehen und sich anfühlen mochten.

»Simon, das Wollfett geht zur Neige. Lauf zum Markt, und bring außerdem noch Sperma ceti und Castoreum mit«, wies Konrad Sterzing ihn an. »Du weißt, was die Namen bedeuten?«

»Walrat und Bibergeil«, antwortete Simon nach kurzem Überlegen.

Zufrieden mit seiner Antwort gab Sterzing ihm einen Beutel mit Münzen.

Simon liebte es, auf den Markt zu gehen. Die vielen Stände mit ihren unterschiedlichen Waren und die durchdringenden Rufe der Marktschreier, vermischt mit zahlreichen anderen Geräuschen, erfüllten diesen Teil der Stadt mit prallem Leben. Schweine quiekten, Hühner gackerten aufgeregt, Schafe blökten und Gänse schnatterten. Menschen lachten, andere stritten sich, wieder andere feilschten lauthals, und Spielmänner entlockten ihren Flöten und Schalmeien Töne, die mal mehr, mal weniger die Ohren erfreuten. Über all dem schwebte eine Wolke aus verschiedensten Gerüchen. Roch es an einer Ecke nach warmen Fleischpasteten, verströmten ein paar Schritte weiter die Waren der Schuster und Gürtelmacher ihren Ledergeruch. Am wunderbarsten empfand Simon die Düfte der Gewürze aus allen Herren Ländern, von denen er viele nicht benennen konnte.

»Junge, was willst du?«, fragte der Händler, als Simon endlich an die Reihe kam.

»Ein Pfund Wollfett, zwei Seidel Walrat und einen Vierling Bibergeil.«

Während der Händler das Gewünschte abwog und in die mitgebrachten Gefäße füllte, betrachtete Simon das rege Treiben um sich herum. Plötzlich entdeckte er den weizenblonden Schopf seiner Schwester im Gewühl.

»Barbara! Barbara!« Er reckte den Arm in die Höhe, um auf sich aufmerksam zu machen.

Seine Schwester drängte sich weiter durch die Menge. Wahrscheinlich konnte sie ihn gar nicht hören. Was dachte sich Melchior nur dabei, ein kleines Mädchen auf den Markt zu schicken?

Der Händler nannte Simon seinen Preis. Eilig bezahlte er, verstaute die Tontöpfe mit Wollfett und Walrat und ein Säckchen getrockneten Bibergeils in seiner ledernen Tasche und zwängte sich an den Menschen vorbei, um Barbara nachzulaufen. Zuerst glaubte er, sie verloren zu haben, doch nun sah er ihre hellen Haare in der Sonne leuchten, als sie an einem Stand stehen blieb, um Eier und ein frisch geschlachtetes Huhn zu kaufen. Sie löste einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel, um zu bezahlen, als der neben ihr stehende Mann blitzartig danach griff und damit zu entkommen versuchte.

»Haltet den Dieb!«, kreischte Barbara entsetzt.

Die Flucht währte nur wenige Schritte, denn er kam geradewegs auf Simon zu, der ihm ein Bein stellte und zu Fall brachte. Kaum lag der Dieb am Boden, stürzte sich ein wahrer Hüne mit einem dichten Bart auf ihn, riss ihn in die Höhe und drehte ihm einen Arm auf den Rücken.

»Was hat er dir gestohlen, Mädchen?«

»Meine Börse«, schluchzte Barbara, die ihren Bruder noch nicht bemerkt hatte.

»Elender Beutelschneider! Los, gib ihr das Geld zurück«, forderte der Mann und ruckte dessen Arm noch ein wenig höher, was diesem einen Schmerzenslaut entlockte.

Der Dieb nestelte an seinem Hosenbund, hinter welchem der Beutel klemmte. Barbara griff hastig danach und bedankte sich bei dem Hünen.

»Da bin ich ja gerade im richtigen Augenblick zur Stelle gewesen, Schwesterchen«, ließ sich Simon vernehmen.

»Simon!«

Barbara schlang ihrem Bruder die Arme um die Körpermitte und drückte sich an ihn.

»Ich übergebe ihn den Bütteln. Ihr beide müsst mitkommen, damit wir alle bezeugen, was geschehen ist«, meinte der Bärtige.

Unter dem Gezeter des Diebes machten sie sich auf zum Grafeneckart, wo sie den Mann den Stadtknechten übergaben.

»Du Taugenichts, ein kleines Mädchen zu bestehlen«, brummte einer der Knechte kopfschüttelnd und stieß den Dieb in den Rücken, »ab mit dir ins Loch.«

Dreimal in der Woche tagte das Stadtgericht auf der anderen Seite des Mains an der großen Brücke. Neun Schöffen sprachen unter dem Vorsitz des Oberschultheißen Friedrich Albrecht von Heßberg an diesen Tagen Recht über allerlei Straftaten, von Diebstahl und Schlägereien bis zu Mordbrand, Mord, Schändung und Inzucht. Auch peinliche Gerichtsverfahren wurden hier verhandelt, dann allerdings wurden fünf weitere Schöffen hinzugezogen, die aus dem Zent­gebiet Würzburgs stammten. Schulden- und Erbstreitigkeiten hingegen fanden im Kanzleigebäude links neben dem Dom statt, ebenso wie die Lehensgerichte.

Nachdem sie den Dieb abgeliefert, Zeugnis abgelegt und sich noch einmal bei dem bärtigen Hünen bedankt hatten, begleitete Simon seine Schwester zu Melchior Bernbecks Haus.

»Geht es dir gut?«, wollte Simon wissen.

»Ja, mach dir keine Sorgen. Seit du fort bist, muss Vater wieder selbst mehr Zeit in der Backstube verbringen, und manchmal glaube ich«, sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, »er bereut, was er dir angetan hat.«

Simon versetzte es einen Stich, als Barbara von Bernbeck als ›Vater‹ sprach.

»Mag sein, aber das wird er nie zugeben. Wieso hat er Berta nicht zum Markt geschickt?«

»Weil sie ein dickes Geschwür am Bein hat und kaum laufen kann. Es sieht ganz schauderhaft aus und stinkt. Sibylla und ich gehen ihr bei allem zur Hand. Waschen, kochen, das Haus sauber halten. Mutter fehlt mir so, Simon. Und du auch.«

»Ich wünschte, ich könnte dich in Sterzings Haus holen, aber das geht nicht«, erwiderte Simon traurig.

Als sie Bernbecks Haus erreichten, trat ihnen Wulf entgegen.

»Was hast du hier zu suchen? Verschwinde auf der Stelle!«, feindete er Simon an und zischte Barbara zu: »Solltest du nicht Eier und ein Huhn besorgen?«

»Sie kann froh sein, dass sie die Börse noch hat …«

»Ja, das stimmt, Wulf. Ein Dieb hat sie mir aus der Hand gerissen. Wenn Simon nicht da gewesen wäre, dann …«

»Dann pass besser darauf auf. Und nun geh zurück und bring, was ich dir aufgetragen habe.« Drohend machte er einen Schritt auf Barbara zu.

Simon schob seine Schwester ein Stück hinter sich. »Geh doch selbst, du elender Faulpelz. Was hast du dir dabei gedacht, Barbara allein loszuschicken? Bist du verrückt geworden? Du weißt ganz genau, wie viel Gesindel sich dort herumtreibt.«

»Ich habe genug in der Backstube zu tun, und es geht dich einen Dreck an.«

Plötzlich packte er Barbara grob am Arm und zerrte sie hinter Simon hervor.

»Los, mach, dass du zum Markt kommst.«

Barbara kreischte laut auf, und Simon versetzte Wulf eine Ohrfeige. Wutentbrannt ließ Wulf Barbara los und rammte Simon seine Faust in den Magen, der sich daraufhin keuchend zusammenkrümmte. Der Beutel rutschte von seiner Schulter und glitt mit leisem Scheppern zu Boden. Augenblicke später gingen beide aufeinander los, rauften und prügelten sich, bis sie am Boden lagen. Simon gewann die Oberhand und setzte sich rittlings auf Wulf, hielt dessen Arme mit den Knien nieder und packte ihn an der Kehle.

»Nie wieder wirst du meiner Schwester wehtun, hast du das verstanden?« Er verstärkte den Druck seiner Hände. Wulfs Gesicht lief rot an. »Hast du mich verstanden?«, wiederholte Simon diesmal lauter und drückte noch etwas fester zu.

Zwei starke Arme rissen ihn von Wulf herunter, und ein gewaltiger Schlag unter das Kinn schickte ihn zu Boden.

»Willst du ihn umbringen?«, brüllte Bernbeck.

Simon rappelte sich auf, wischte sich das Blut von der Unterlippe und den Staub von den Kleidern.

»Lass dich hier nie wieder blicken! Verschwinde von hier, auf der Stelle!«

»Aber Vater, Simon hat nichts ge…«

»Geh zurück ins Haus, Barbara«, unterbrach Melchior sie wütend.

Der Zorn in seinen Augen ließ sie augenblicklich verstummen, und sie machte auf dem Absatz kehrt. Simon sah ihr unglücklich nach. Er wusste, es war zwecklos, Melchior zu erklären, was vorgefallen war.

Hoffentlich sind die Gefäße heil geblieben, dachte er, als er den Lederbeutel aufhob und sich davonmachte.

Gesenkten Hauptes betrat Simon die Lilien-Apotheke. Zuvor hatte er einen Blick in den Beutel geworfen und erleichtert festgestellt, dass nichts zu Bruch gegangen war.

»Wo hast du so lange gesteckt?«, wollte Sterzing wissen, als Simon die irdenen Töpfe auspackte.

»Ich habe meine Schwester getroffen, verzeiht, Herr«, murmelte er.

»Sieh mich an, wenn du mit mir sprichst«, mahnte der Apotheker. »Geht es ihr gut?«

Seufzend hob Simon den Kopf, doch bevor er eine Antwort geben konnte, sog Konrad scharf die Luft ein. »Du hast dich geprügelt. Warum und mit wem?«

Simon schluckte. »Mit Wulf Bernbeck. Er hat meine Schwester allein zum Markt geschickt. Sie ist erst neun! Nur weil er zu faul ist, selbst zu gehen!«

Konrad rieb sich müde über die Augen. »Wir reden später darüber, Simon. Es gibt noch jede Menge zu tun. Ich treffe mich noch mit einem Kaufmann, und solange ich weg bin, wirst du die Elixiere und das Aqua vitae abfüllen und danach die Gerätschaften im Laboratorium säubern.«

Nach dem Abendbrot rief Sterzing Simon zu sich in die Stube. Verzagt setzte sich der Junge auf einen Stuhl, rutschte unruhig darauf hin und her.

»Es ist besser, du verlässt die Stadt«, eröffnete ihm der Apotheker. »Es wird immer wieder zum Streit zwischen dir und Wulf kommen.«

Simon schien wie vom Donner gerührt, vermochte nichts darauf zu sagen.

»Du wirst mit einer Gruppe von Kaufleuten nach Venedig reisen. Dort lebt ein Vetter meiner Frau. Francesco Tardelli ist Bäcker. Teresa wird dir einen Brief mitgeben, in welchem sie ihn bittet, dich aufzunehmen.«

»Venedig?«

»Es wird dir gefallen, vertrau mir. Dort ist es warm und fast immerzu scheint die Sonne, und du wirst den salzigen Geruch des Meeres riechen können«, geriet der Apotheker ins Schwärmen.

»Aber, meine Schwester …«, wandte Simon ein.

»Sie ist bei Bernbeck gut aufgehoben.«

»Meine Mutter und mein Vater sind hier begraben, ich will nicht von hier fort.« Fest presste Simon die Lippen aufeinander.

Konrad ging nicht darauf ein. »Der Kaufmann Philipp Hansen wird dich mitnehmen, ich kenne ihn gut. Du kümmerst dich um das Pferd, hilfst ihm, den Wagen zu beladen, und passt auf die Waren auf. Dafür bekommst du zu essen und vielleicht auch ein paar Pfennige.«

»Und wenn ich mich weigere?«, traute sich Simon zu fragen.

Sterzing seufzte. »Hör mir gut zu, Simon. Du kannst dich weigern, aber ich werde dich nicht länger unter meinem Dach wohnen und arbeiten lassen. Was dann mit dir geschieht, liegt in deiner und Gottes Hand. Wovon willst du leben, wo wirst du schlafen? Du bist klug und lernst schnell, wie du in den letzten Wochen bewiesen hast. Aber du bist auch ein Hitzkopf, deswegen habe ich diese Entscheidung getroffen. Die Möglichkeit, ein Stück mehr von der Welt zu sehen und viel Neues zu lernen, wird dich reifen lassen wie einen guten Apfel. Denk darüber nach.«

Wie betäubt ging Simon in seine Kammer, setzte sich auf das Bett und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Venedig? Wo sollte das sein? Es hörte sich an wie das Ende der Welt. Tränen schossen ihm in die Augen, und er begann, jämmerlich zu schluchzen. Alles stürzte auf ihn ein. Der Tod seines Vaters, den er immer noch nicht verwunden hatte. Er vermisste seine Mutter, der er zuletzt garstige Worte an den Kopf geworfen hatte. Die Möglichkeit, sie dafür um Verzeihung zu bitten, hatte er vertan. Was sollte aus ihm werden? Warum hatte er nicht, wie viele andere Lehrjungen, einfach stillschweigend die Ungerechtigkeiten hingenommen und gebetet, die Lehrzeit möge schnell vorbei sein? Warum hatte er sich immer wieder aufs Neue von Wulf reizen lassen? Sterzing hatte recht: Er war ein Hitzkopf.

Eine Hand legte sich sachte auf seine Schulter.

»Warum weinst du so bitterlich?«, fragte eine zarte Stimme.

Peinlich berührt sah er mit geröteten Augen auf. Julia stand vor ihm, die Stirn sorgenvoll gefurcht. Er hatte ihr Hereinkommen nicht bemerkt, so versunken war er in seinem Seelenschmerz. Mit dem Ärmel wischte er über sein Gesicht, zog geräuschvoll die Nase hoch.

»Es ist nichts.«

Julia hob vielsagend die dunklen Augenbrauen, setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Warm und tröstend fühlte sie sich an, und Simon vergaß für einen Augenblick sein Selbstmitleid.

»Und wegen ›nichts‹ bist du so traurig?«, ein winziges erheitertes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.

Unwillkürlich verzogen sich Simons Lippen zu einem zaghaften Grinsen.

»Dein Vater schickt mich fort, Julia, und ich habe Angst davor.«

»Ich weiß, Simon«, antwortete sie traurig. »Er hat vorhin mit uns darüber gesprochen. Meine Mutter war dagegen, aber er wollte nichts hören.«

Er entzog ihr seine Hand. »Du solltest nicht hier sein. Wenn dein Vater dich sucht und hier findet, wird er mich noch heute auf die Straße werfen.«

»Nein, das wird er nicht. Vater hat mir erlaubt, zu dir zu kommen, weil er dir vertraut, dass du nicht …« Julia stockte.

»Was?«

»Etwas Unanständiges versuchst.« Flüsternd beendete sie den Satz. Dann räusperte sie sich.

»In fünf Tagen brechen die Kaufleute auf, soll ich dir sagen.«

»Julia, was soll ich tun? Ich will nicht von hier weg, aber wenn ich bleibe, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.«

Wieder nahm sie seine Hand. »Du musst dich entscheiden, Simon. Ich will auch nicht, dass du fortgehst.« Plötzlich beugte sie sich vor, nahm sein Gesicht in beide Hände und drückte einen Kuss auf Simons Lippen. Mit hochrotem Gesicht stand sie auf, fuhr sich mit beiden Händen durch die schwarze Lockenpracht. »Wenn du gehst, werde ich warten, bis du zurückkommst.« Mit diesen Worten eilte sie aus der Kammer.

Verblüfft starrte Simon ihr hinterher, spürte dem süßen Geschmack ihrer Lippen auf den seinen nach. Ein eigenartiges Ziehen machte sich in seinen Lenden breit, ein neues und aufregendes Gefühl, das ein breites Grinsen auf sein Gesicht zauberte. Sterzings Vertrauen in ihn war gerechtfertigt, niemals hätte er gewagt, Julia zu küssen. Doch wüsste der Apotheker, was seine Tochter soeben getan hatte, würde er sie wahrscheinlich einsperren und den Schlüssel in die Fluten des Mains werfen.

In den folgenden Tagen nutzte Julia jede Gelegenheit, um zu ihm zu kommen, wann immer ihr Vater außer Haus war. Ein verstohlener Kuss zwischen Kräutertöpfen und Flaschen mit Elixieren, ein weiterer im kühlen Keller, wo die Salben und Öle aufbewahrt wurden, damit sie nicht so schnell ranzig wurden. Das Verlangen nach mehr war immer stärker geworden, und ihrer beiden Hände hatten sich gegenseitig durch die Kleidung erforscht. Gestern Nacht hatte sich Julia auf Zehenspitzen in Simons Kammer gestohlen, ihr Kleid aufgeschnürt und sein Gesicht an ihre zarte nackte Brust gedrückt. Simon hatte alle Mühe gehabt, nicht ihre Röcke anzuheben und seinen Gefühlen nachzugeben.

Schwer atmend hatte er sich von ihr gelöst, sie gebeten, ihre Blöße zu bedecken.

»Julia, bitte geh, bevor ich die Beherrschung verliere und uns dein Vater noch erwischt.«

Seufzend hatte sie nachgegeben, ihn lange geküsst und war ohne ein weiteres Wort gegangen.

Die Augustsonne brannte auf Simon herab, der mit geschnürtem Bündel vor der Lilien-Apotheke stand und sich verabschiedete. Konrad hatte ihm bereits in der Offizin Lebewohl gesagt und ihm aufmunternd auf die Schulter geklopft.

Teresa Sterzing drückte ihn kurz an ihre Brust. »Leb wohl, Simon, gib auf dich acht. Hast du den Brief für meinen Vetter wohl verstaut?«

»Sicher verwahrt in einer Lederhülse, damit ihm nichts geschieht«, antwortete Simon. »Habt Dank für alles, was Ihr für mich getan habt.«

Damit wandte er sich Julia zu, die ihm ihre Rechte entgegenhielt. Ihre langen schlanken Finger verschwanden beinahe in seiner großen Hand. Tränen schimmerten in den dunklen Augen, eine Einzelne löste sich wie eine Perle von ihren langen Wimpern und rann ihre Wange hinunter.

»Bleib nicht zu lange, Julia«, mahnte Teresa und ging hinein. Ihr war wohl bewusst, wie es um die beiden stand, und sie wollte ihnen einen kurzen Augenblick der Zweisamkeit gönnen.

»Ich komme wieder, Julia, versprochen«, sagte Simon.

»Jeden Tag werde ich an dich denken, vergiss mich nicht.« Eine weitere Träne machte sich auf den Weg.

»Niemals. Wie könnte ich das schönste Mädchen in ganz Franken, nein, im ganzen Reich vergessen?«

Zumindest entlockte er ihr damit ein Lächeln. Am liebsten hätte er sie hier auf der Straße vor aller Augen in die Arme geschlossen, doch allein darüber nachzudenken, verbot sich.

»Du weißt doch gar nicht, wie viele schöne Mädchen dir begegnen werden, die alle hübscher sind als ich«, entgegnete Julia.

»Keine. Denn ich werde sie gar nicht bemerken, weil ich immerzu dein Gesicht sehen werde.« Er schluckte. »Es wird Zeit für mich. Leb wohl.«

Widerstrebend ließ sie ihn gehen. Simon stapfte los, den Blick fest geradeaus geheftet, die Kiefer zusammengepresst, um nicht loszuheulen wie ein Kind.

1575
Würzburg

Die Sonne strahlte von einem hellblauen Maihimmel, als ob der Herr selbst sich daran erfreute, dass Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn zum Bischof geweiht wurde. Nur zwei Wochen zuvor war endlich die Bestätigung des Kaisers erfolgt. Auch hatte Julius bei Maximilian und Papst Gregor um die erforderlichen Rechte zur Neugründung der Universität gebeten. Sehr zum Missfallen des Domkapitels. Die Domherren schätzten es nicht, wenn sie übergangen wurden, zumal wenn es sich um solch kostspielige Unterfangen handelte. Neidhart von Thüngen, der ihm noch zugestimmt und ihm Unterstützung zugesagt hatte, war ihm in den Rücken gefallen und hatte sich auf die Seite des Domkapitels gestellt.

Im ganzen Fürstbistum sollte die Bischofsweihe gefeiert werden. Läden, Handwerkstätten und Schulen hatten geschlossen, Bauern ihre Arbeiten niedergelegt, und jeder war in seine beste Kluft gestiegen. Die Luft duftete nach den Blüten der Obstbäume, Bienen und Hummeln brummten, bunte Schmetterlinge taumelten nektartrunken vom weißen Wiesenschaumkraut zu den roten Blüten des Mohns und hinüber zu den zartvioletten Kissen der Witwenblumen.

Drei Tage zuvor hatte sich Echter zurückgezogen und viele Stunden in Buße verbracht. Nur in ein härenes Hemd gehüllt, war er bäuchlings auf dem kalten Steinfußboden der Kapelle gelegen, die Arme zur Seite ausgebreitet. Keinen Bissen und keinen Tropfen hatte er zu sich genommen. Fasten war für Julius noch nie eine wirkliche Buße gewesen. Den Tag darauf war er zum Priester geweiht worden.

Jetzt lag seine linke Hand auf der Bibel und Julius schwor den Gehorsamseid gegenüber dem Papst.

»Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn …«

Mit einem inbrünstigen »Amen« beendete er schließlich das Glaubensbekenntnis. Die Mitra wurde ihm aufs Haupt gedrückt, er erhielt einen reich verzierten Krummstab, den goldenen Bischofsring und ein mit Juwelen besetztes Kreuz um den Hals. Julius Echter fühlte sich, als ob die erhaltenen Weihen ihn Gott noch näher als bisher gebracht hätten. Der Chor sandte seine Klänge durch die Marienkirche, Weihrauch erfüllte die Luft, und der frisch geweihte Bischof zelebrierte die Heilige Messe. Am Ende wurde gemeinsam das Te Deum gesungen, und Julius Echter verließ als Erster das Gotteshaus, gefolgt von den Würdenträgern.

Draußen wurden Pferde bereitgehalten, um den Marienberg hinunter in die Stadt zu reiten. Julius legte den mit Goldfäden gewirkten Chormantel und die reich bestickte Kasel – das ärmellose Messgewand – ab. Beides verstaute Johann Voit von Rieneck zusammen mit der Mitra und den Insignien sorgsam in einer Truhe, die auf eine Kutsche geladen wurde. Julius Echter lenkte seinen Schimmel den Berg hinab, über die Mainbrücke bis zum Dom, wo er aus dem Sattel stieg und das Ehrfurcht gebietende Gotteshaus betrat. In der Krypta schritt er zu Bischof Brunos Grab, neben welchem sich der Veitsbrunnen befand. Dem Wasser des Brunnens wurden Heilkräfte zugeschrieben, ebenso wie dem Luciabrunnen, dessen Platz unter der Vierung lag. Bruno hatte den Dombau vor mehr als fünfhundert Jahren in Auftrag gegeben, und der Tag, an dem die Krypta geweiht worden war, war gleichzeitig der Tag seiner Grablege.

Voit von Rieneck und weitere Männer waren dem Fürstbischof die Treppe hinunter in die Krypta gefolgt, und wieder wurde er in die Bischofsgewänder gekleidet. Fast beschwingt stieg Julius aus der Gruft empor, trat hinaus auf den Domplatz, wo sich inzwischen viele Menschen versammelt hatten, um ihm zuzujubeln. Der Fürstbischof schritt an den Menschen entlang, einige wenige trauten sich, die Hand nach ihm auszustrecken, doch die meisten blieben ehrfürchtig und staunend stehen, hofften auf eine Segnung. Die Prozession zog durch die Gassen bis zum ärmsten Viertel der Stadt.

»Aus dem Weg, alte Vettel«, hörte man eine schnarrende Stimme, und eine vom Alter gebeugte, in Lumpen gehüllte Frau fiel Julius Echter vor die Füße. Jemand aus der Menge hatte sie gestoßen. Bevor noch ein anderer sie von der Straße ziehen konnte, reichte Echter ihr die Hand und half ihr auf. Ein Raunen glitt durch die Gasse. Das hatte niemand erwartet.

»Welch niederes Geschmeiß stößt ein altes Mütterlein, sodass es zu Fall kommt? Schämt euch«, sagte er und ließ seine Blicke schweifen. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sprach der Herr.«

Betretenes Schweigen setzte ein, lediglich unterbrochen von gelegentlichem Füßescharren und vereinzeltem Räuspern.

»Gott segne dich«, wandte er sich an die alte Frau und schlug das Kreuz über ihr.

Ein zahnloses Lächeln breitete sich über ihrem faltigen Gesicht aus. »Möge der Herr Euch ein langes Leben schenken.«

Der Fürstbischof schwor sich einmal mehr, dass unter seiner Regentschaft mehr für die Armen, Kranken und Bettler getan werden sollte.

Als er sich spät am Abend in seine Gemächer zurückzog, dachte er plötzlich sehnsüchtig an das süße Geschenk jenes Bäckers, als er die Gesandtschaft nach Rom zu Gast gehabt hatte. Seelenbrot und Gebete zum Herrn hatten ihm immer in schwierigen Lebenslagen geholfen.

Arkan war damals gesund geworden, aber zur Jagd hatte er nicht mehr getaugt. Doch sein Vater hatte ihm erlaubt, den Hund zu behalten und ein Jahr später mit nach Schloss Henneburg bei Stadtprozelten zu nehmen, wohin sein Vater zum kurmainzischen Amtmann bestellt worden war. Vielleicht sollte er den Hofmeister einmal damit beauftragen, den Namen des Bäckers herauszufinden.

Бесплатный фрагмент закончился.

1 148,15 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
487 стр. 29 иллюстраций
ISBN:
9783839268988
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
181