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Johanna Knapp

Wie ich es sehe

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Cello

Erste Liebe

Mein 16. Geburtstag

Break on through

Nachts im Park

No satisfaction

Wiedersehen mit Mama

Axel und die Heiligen

Ans Meer

Mädchenheim

Opium

Flammenschrift

Lady Madonna

Neubeginn

Auf der Bühne

Axels Weg

Herr Geringas

Schatten der Vergangenheit

Schwimmen im Fluss

Kirschensuppe und Blaubeerteigtaschen

Ein Brief von Jill

Sina retten

Xanax

Besuch von Fremden

Auf der Flucht

Ein Lehrer für Axel

Die schöne Schwester

Aufbruch

Impressum neobooks

Cello

Alles begann damit, dass ich nach acht Jahren aufhörte Cello zu spielen. Meine Mutter konnte sich nicht vorstellen, dass man etwas gut kann und es trotzdem nicht gerne macht. Da war sie sich einig mit meiner Lehrerin, sie hielten mich beide für superbegabt. Sie glaubten tatsächlich, ich würde irgendwann die Aufnahmeprüfung für eines dieser stinklangweiligen Orchester bestehen und für den Rest meines Lebens vor uralten, hustenden Leuten Beethoven und Schostakovitsch spielen, oder noch besser große Solistin werden, eine zweite Jacqueline Dupré, falls euch das was sagt. Meine Mutter hat mich in Cellokonzerte geschleppt, seit ich sechs Jahre alt war. Und bis man mich in den Konzertsälen dieser Welt feiern würde, hätte sie am liebsten gehabt, ich übte jeden Tag stundenlang im Wohnzimmer, während sie in ihrem Sessel sitzt und ihre Romane liest. Von Musik hat sie nicht wirklich Ahnung. Sie fühlt sie bloß.

Natürlich behauptete sie immer, ich könnte machen, was ich wolle. Ich müsse mich nur entscheiden und so weiter. Nur dass das komplett gelogen war.

Ich habe mich dann von einem Tag auf den anderen entschieden, bin in die Musikschule und habe Frau Jünger, meiner Lehrerin, gesagt und Frau Hagel, die den Kammermusikwettbewerb veranstaltet, ich hörte auf und käme nicht mehr. Meine Lehrerin fing an zu weinen, da bin ich einfach raus zu Frau Hagel, denn ich mag Frau Jünger sehr und hab ihren Kummer einfach nicht mit ansehen können, Frau Hagel machte auf cool. Sie ließ sich nicht anmerken, wie sehr es sie ärgerte, dass ich damit für das komplette Ensemble den Wettbewerb geschmissen hatte.

Meine Mutter hättet ihr danach mal erleben sollen. Ihre Enttäuschung war kaum auszuhalten. Sie warf mir vor, ich sei eine moralische Versagerin, weil ich alle im Stich gelassen hätte, ich müsse wenigstens den Wettbewerb noch mitmachen. So ging das wochenlang. Das stand ich durch, ich war raus aus der Nummer. Ich musste nicht mehr üben, ich konnte mich jederzeit mit Nail treffen.

Erste Liebe

Wir sind nicht mehr zusammen, aber als alles anfing, war ich vollkommen verknallt in Nail. Der Junge haute mich einfach um, so schön ist er und so intelligent. Er liest Schopenhauer und Nietzsche. Ich lese nie was oder zumindest fast nie. Nails Mama trinkt gerne Sekt. Den holt sie sich in der Tanke, niemals im Supermarkt. Sie verdient das Geld für Nail und sich mit Nachhilfestunden in Mathematik. Und wenn sie zu betrunken ist, dann lässt sie sich von Nail vertreten.

Nail besuchte mich manchmal nachts. Dann stellte ich den Wecker auf drei Uhr und ließ ihn leise ins Zimmer. Wir tranken Whiskey aus der Flasche, den er in seinem Rucksack mitgebracht hatte. Wir saßen auf der Fensterbank, rauchten und sahen uns den Mond über den Dächern der Mietshäuser an. Dann legten wir uns für eine Weile auf mein breites Bett und teilten uns Kopfhörer. Die Tabakkrümel auf der Fensterbank hab ich oft vergessen vor Müdigkeit und Umarmungen. Das gab natürlich wieder Stress und Fragen. Meine Mutter schnüffelte nämlich gern in meinem Zimmer herum, weil sie unbedingt wissen wollte, was ich mache.

Einmal haben wir nachts am Rhein einen betrunkenen Jungen gerettet. Es war warm und ich machte mich schön für den Abend. Ich finde, es sieht toll aus, wenn der Lidstrich dick und schwarz die Augen rahmt. Meine Augen sind sehr blau und ich kann einen eiskalten Hassblick, vor dem sich alle fürchten. Wenn ich damit eine der Langeweilerinnen in der Klasse anschaute, dann war die still. Unter das Lid zeichnete ich drei kleine Punkte, das sieht geheimnisvoll aus. Dazu dick hellen Puder auf meinen eh schon blassen Teint. Ich zog mir die abgeschnittene Levis zum Knöpfen an, die ich mir beim Schüleraustausch in Paris in einem Secondhand gekauft hatte. Meine Schwester würde mich gleich angiften, weil ich sie ihr geklaut hätte. Aber diesmal hatte sie Unrecht. Stimmt, ich war verrückt nach den Sachen meiner Schwester. Wenn niemand zu Hause war, ging ich in ihr Zimmer und nahm mir was, einen Armreif oder einen der Stringtangas, die sie neuerdings trug, Nagellack oder Eyeliner. Meine Schwester machte reichlich Kohle in ihrem Nebenjob und konnte sich massenhaft Sachen kaufen. Das geklaute Zeug versteckte ich dann in meinem Zimmer, in meine Schubladen, vollgestopft mit Tampons, Heften und Spielzeugresten von früher, oder unterm Bett zwischen dem ganzen anderen Kram aus meiner Schultasche, den ich dort verstaute. Meistens nahm ich Sachen, die sie sowieso nicht vermisste, nur manchmal dann doch.

Meine Schwester ist dann bald ausgezogen. Sie hatte einfach die Nase voll von meinen Eskapaden.

Ich zog das schwarze Shirt mit den tiefen Armausschnitten an, durch die man meinen BH sehen konnte, was meine Mutter immer furchtbar auf die Palme brachte, obwohl mein Busen wirklich nicht der Rede wert ist, dann die pinken Plateauschuhe.

Augen geradeaus und an meiner Mutter vorbei, keine Zeit für irgendwelche Outfit-Diskussionen, die musste man direkt mit lauter Stimme im Keim ersticken, damit kein Geschrei folgen konnte und schnell raus aus der Tür – jaaa, bin um elf zu Hause.

Wir trafen uns mit ein paar Leuten am Rhein. Wir tranken Bier und schauten auf den Dom gegenüber und die Schiffe auf dem Fluss. Es war schon dunkel, als Nail auf Rollerblades eine Runde durch den angrenzenden Park drehte, während ich am Strand blieb und rauchte. Da fand er diesen Jungen, der war so betrunken, dass er kaum sprechen und nicht aufstehen konnte. Irgendwann hatten wir verstanden, dass er zu seinem Bruder wollte. Ich musste dabei an den Jungen denken, der sich nachts betrunken auf Bahngleise setzte, weil kein Zug kam. Einmal kam dann doch einer.

Diesen Jungen brachten wir zu seinen Freunden, die hatten nicht ganz so viel getankt wie er, aber doch so viel, dass sie sich nicht um ihn kümmern konnten. Der Bruder war nirgendwo zu finden. Wir riefen den Krankenwagen und blieben bei ihm, bis er kam. Inzwischen war es halb Zwei.

Mein 16. Geburtstag

Das war der Frühling, in dem ich 16 wurde, und an meinem sechzehnten Geburtstag im Mai lernte ich Jill kennen. Die Sache mit Nail war da schon vorbei. Ich durfte zuhause nicht feiern. Meine Mutter war ausgerastet, als sie eine Telefonrechnung von über tausend Mark bezahlen musste. Das war, weil ich mit dem Jungen, mit dem ich vor Nail zusammen war, ein paar Tage dauertelefoniert hatte. Den Hörer hatte ich nur zum Essen oder Schlafen weggelegt. Mama hatte nichts gemerkt, weil sie 24 Stunden am Tag mit ihrer Ausstellung beschäftigt war. Eine einmalige Chance, ihre Bilder endlich zu zeigen und für uns beide damit Geld zu verdienen – das erzählte sie mir jedes Mal, wenn sie einen Galeristen dazu gebracht hatte, es mit ihr zu versuchen. Und dann verkaufte sie wieder mal bestenfalls eine kleine Zeichnung.

Der Junge hatte mit mir Schluss gemacht und chillte am Pool in einem 5-Sterne-Hotel in Tunesien, wo seine Alten mit ihm die Osterferien verbrachten. Ich konnte einfach nicht verstehen, warum er nicht mehr mit mir zusammen sein wollte, wo ich ihn doch liebte und rief ihn täglich mehrmals an, um mir immer wieder erklären zu lassen, warum eine Beziehung jetzt noch nichts für ihn sei. Ich bekam dann kein Geschenk und keine Party. Zwei von den Jungs, mit denen ich damals herumhing, organisierten für mich eine kleine Feier im Rheinpark zu und da tauchte Jill auf. Sie war überhaupt nicht schüchtern, sondern redete laut mit allen, die da waren. Sie hatte schon einiges erlebt und damit hielt sie nicht hinterm Berg. Mir hat sie zum Beispiel gleich erzählt, was ihre Piercings bedeuten. Besonders die Angel Bites faszinierten mich. Die kleinen silbernen Perlen, wo sie oberhalb der Mundwinkel ein Engel gebissen hatte, sollten sie jedes Mal, wenn sie in den Spiegel schaute, an ihre Zeit auf der Straße erinnern. Und ihre Tätowierung fand ich wunderschön. Eine schwarze, fein gezeichnete Feder in einer orangeroten Perle schien die Stelle hinter ihrem Ohr zu kitzeln. Ihre Eltern machen ihr deswegen keinen Stress, sie haben auch nichts dagegen, dass Jill raucht. Meine Mutter hasst es, wenn ich rauche. Jills Mutter ist ihr monatelang hinterhergegangen und hat sie beobachtet, am Bahnhof. Dabei hat sie mal gesehen, wie sie Kippen aufgesammelt und sich daraus eine gedreht hat. Die Mutter fand es dann besser, dass sie sich Tabak kauft und gab ihr dafür Geld. Ihr Vater raucht Kette und auf langweiligen Familienfesten verschwinden Jill und er gerne gemeinsam für fünf Minuten vor der Tür. Jill hat ein Problem damit, dass ihre Eltern nicht ihre richtigen Eltern sind. Jills Eltern haben sie adoptiert. Ihr richtiger Vater, wie Jill das sieht, war ein Junkie, der an einer Überdosis Heroin gestorben ist, ihre Mutter hat sie abgegeben, als sie ein Baby war. Jill trifft sie ab und zu. Was sie macht und wovon sie lebt, hat sie uns nicht erzählt. Nur dass sie Polin ist und Jill einige Onkels und Tanten in Polen hat, die sie manchmal besucht.

Dauernd sagte Jill, sie hätte die besten Eltern der Welt und solche Sachen. Trotzdem blieb sie vor zwei Jahren regelmäßig über Nacht von zu Hause weg. Wenn ihr mich fragt, wollte sie herausfinden, wie es sich anfühlt, auf der Straße zu leben. Schließlich haben die besten Eltern der Welt sie in eine geschlossene Anstalt gesperrt, um sie vor sich selbst zu beschützen, so haben sie ihr das jedenfalls erklärt. Aber als man sie da nach einem halben Jahr wieder rausließ, ist sie ganz weg, war monatelang auf der Straße, in verschiedenen Städten. Das hat sie ihren Eltern wirklich übelgenommen, dass sie sie haben einsperren lassen.

Jill macht immer, was sie will, und das habe ich total an ihr bewundert. Ihren Mut, einfach abzuhauen, als ihre Eltern sie verraten haben.

Jedenfalls brachte ich sie mit nach Hause und sie gab das nette Mädchen. Das konnte Jill gut. Sie lachte, war freundlich, plauderte mit Mama. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie nicht tatsächlich auch ein nettes Mädchen ist. Meine Mutter tat dann auch so, als würde sie Jill mögen. Und ich erzählte von fröhlichen Grillabenden mit Nachbarn und Familie in der alten Hofanlage in einem Vorort, wo Jill wohnte. Alle machten einen auf heile Welt, aber natürlich merkte ich, meine Mutter spürte, dass da was nicht stimmte. Mit den Piercings kam Mama nicht klar. Sie tat nur so, als würde sie mir glauben, das sei bloß Style, um cooler auszusehen als alle anderen. Weil wir alleine lebten und es bei uns eher sagen wir mal ruhig zuging, fand sie es super, dass ihre Tochter wenigstens bei Freunden eine richtige Familie mit fröhlichen, großen Tischrunden erlebte. Mama hatte sich eine Katze angeschafft. Ein altes, dickes Vieh, das sich kaum noch bewegen konnte. Mama fand das gut, denn so konnte die Katze auch keine Meisen und Rotkehlchen aus dem Garten schnappen, die von Mama gefüttert und geliebt wurden, insbesondere das Rotkehlchen, das jeden Tag auf die Terrasse kam und von ihr Franz getauft wurde.

Break on through

Ich entschloss mich mein eigenes Leben zu führen. Kein Cello, keine Vorschriften. Das alles brauchte ich nicht mehr und was konnte meine Mutter schon dagegen tun? Ich konnte machen, was ich wollte, und nichts würde geschehen.

Ich sagte ihr nicht mehr, mit wem ich mich traf und wo ich den Tag verbrachte. Ich kam einfach mitten in der Nacht nachhause, wenn ich Lust dazu hatte, und ich sagte ihr nicht, wo ich gewesen war.

Meistens war sie dann noch wach und stellte mich zur Rede. Oder sie schickte mich ins Bett und wartete bis zum nächsten Morgen mit ihren Fragen. An diesem Morgen saß sie vor ihrem Kaffee beim Frühstück und streichelte das Katzenvieh, das sich auf ihrem Schoß eingerollt hatte. Ich zog Kopfhörer über, stellte den Walkman so laut es ging und gab mir die Stimme von Jim, eines morgens ertrunken in der Badewanne eines Pariser Hotels. Ich schmierte Nutella auf ein Brötchen und ignorierte ihre genervten Blicke. Break on through to the other side.

Ich tanzte andeutungsweise, krümelte dabei mit meinem Brötchen herum und verschüttete ein bisschen Kaffee auf der Tischdecke, als ich mir eine Tasse eingoss. Die Katze hatte sich schon längst in eine stille Ecke verkrochen, als Mama aufsprang, mir die Kopfhörer von den Ohren riss und versuchte über den Tisch hinweg mir den Walkman vom Gürtel zu zerren. Sie stieß dabei meine Kaffeetasse um und ein dunkler Fleck breitete sich auf der weißen Decke aus. Break on through to the other side. Ich schrie jetzt mit Jim um die Wette und überschüttete Mama mit Schimpfworten.

Und dann tat sie etwas, womit ich im Leben nicht gerechnet hatte. Sie packte mich am Arm, schob mich zur Tür. Geh auf die Straße, wo du hingehörst, schrie sie mich an. Und sie schlug tatsächlich die Tür hinter mir zu. Einige Minuten später, ich stand noch im Treppenhaus, ging die Tür nochmal auf und sie stellte mir meinen Rucksack hin, in den sie ein paar Klamotten gestopft hatte, einen Fuffi und ein Ledersäckchen mit Münzen für die Telefonzelle. Das sollte es jetzt sein. Break on through.

Ich konnte nur zu Jill. Und die half mir. Ja, komm ruhig zu uns. Meine Eltern finden das okay. Ich helfe Dir. Du bist doch meine Boubou.

Jill hatte es sich angewöhnt sich so zu kleiden wie ich. Manchmal lieh sie sich meine kurzen, engen Kleider aus und quetschte ihre großen Brüste rein. Sie nannte sich in ihrer Klasse mit meinem Namen. Alle sollten sie da Rose nennen. Und mir gefiel das, die Bewunderung und dass sie meine Freundin sein wolle.

Bei Jills Eltern konnte ich drei Tage bleiben. Sie wollten, dass ich mit Mama redete, die jetzt ständig bei Jill anrief. Ich aber schickte Jill ans Telefon und ließ sie ausrichten, ich würde nie wieder von mir hören lassen und wolle nie wieder nach Hause zurück zu der Frau, die mich, ihre Tochter, aus dem Haus geworfen hatte. Ich ließ Jill für mich fragen, warum Mama überhaupt anrief. Sie hatte mir doch deutlich gezeigt, dass sie mich nicht mehr wollte. Und darum sollte sie es jetzt genauso haben, wie sie es sich gewünscht hatte. Mama sprach aber nicht mit Jill und sagte nur, ich könne sie anrufen, wenn ich eines Tages mit ihr reden wolle.

Jills Eltern waren letztlich genauso drauf wie alle Erwachsenen und behaupteten, ich müsse meiner Mutter dankbar sein, für alles, was sie für mich getan hatte und dass mich meine Mutter ja so sehr vermissen würde. Jill lächelte dann zustimmend, und ihre Mutter schien ihr tatsächlich zu glauben. Wenn die gewusst hätten, wie Jill über meine Mutter herzog.

Weil sie so blöd und vertrauensselig war, hatte sie auch nichts Besseres verdient, als dass ich mir aus ihrer Schmuckschatulle, die im Badezimmer offen herumstand, ein paar goldene Kreolen stibitzte und dazu noch einen hübschen Ring mit einer Blüte aus weißen Perlen und kleinen Diamanten einsteckte. Weil Jill sich schon regelmäßig aus ihrem Portemonnaie bediente, konnte ich da nicht auch noch zugreifen, ohne dass es Jills Mutter aufgefallen wäre.

Den Abend, als ich bei Jills Eltern rausmusste, verbrachte ich mit Nail und ein paar Leuten aus der Schule im Rheinpark. Wir tranken Wodka mit Limo, rauchten ein paar Joints und irgendwann gegen Morgen war ich zum Sterben müde und hungrig. Ich schnappte mir Dario, der uns um Kippen angeschnorrt hatte. Ich wusste, er wollte nicht bloß rauchen, er suchte unsere Gesellschaft, um sich an ihr zu wärmen, weil er alleine war, von zu Hause abgehauen, ohne Geld und nicht wusste, wo er hinsollte. Wir gingen durch die kühle Nacht am Flussufer entlang nach Hause. Ich war sicher, Mama würde mir aufmachen und vor Mitleid schmelzen. Aber Mitleid gab es nur für die alte Katze und Rotkehlchen Franz. Dario, in Jinglers-Jeans und schmuddeligem T-Shirt, musste draußen bleiben, ich durfte vorläufig rein. Den Rucksack ließ ich vor der Tür stehen. Als sie verlangte, ich solle mich entschuldigen und versprechen, in Zukunft ihre Regeln einzuhalten, ließ ich eine Flut von Schimpfwörtern auf sie los. Dagegen war ich machtlos, es sprudelte einfach aus mir heraus. Wenn es passierte, verglich Mama mich gerne mit der verrückten alten Frau, die bei uns im Viertel herumstreunt und in der Straßenbahn ohne Pause in unüberhörbarer Lautstärke die anderen Fahrgäste beschimpft. Das machte mich dann noch wütender. Als ich wieder rauskam, war Dario schon weg. Für die Zeit, die ich gebraucht hatte, um ein paar Klamotten, Schuhe, Decke, Schminkzeug und Deo in eine Plastiktüte zu stopfen, hatte seine Zuversicht nicht ausgereicht. Später stellte ich fest, dass er die Kreolen und den feinen Ring von Jills Mutter aus meinem Rucksack geklaut hatte. Dario würde sie nun statt meiner zu Geld machen. Er kannte die Läden der Trödler an dem tristen Platz auf der anderen Rheinseite, wo Diebe und arme Leute ihren Schmuck und ihre Uhren versetzen.

Nachts im Park

Jill wusste, wo ich hinkonnte.

Sie kannte ein Menge Leute und meinte, jetzt im Frühling sei es wie Camping bei schönem Wetter draußen zu pennen. „Bei meinen Kumpels bist du sicher“, sagte sie. „Die ziehen keinen ab, besonders nicht meine süße Boubou“.

Warum auch immer sie mir diesen kindischen Namen gab, ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie mich so nannte. Irgendwie war es besitzergreifend. Und ich hasse es, wenn jemand glaubt, er könne über mich verfügen. Aber ich sagte nichts, denn Jill war damals mein ein und alles. Ich wollte ihr unbedingt gefallen.

Wie immer hingen sie auf einer Wiese bei der Brücke herum, eine Gruppe Jungen und Mädchen, alle so um die 17, 18 Jahre alt. Ihre Piercings blitzten in der Sonne und ihre Haare leuchteten in allen möglichen Farben. Hunde hatten sie auch dabei, die gleich anfingen zu bellen, als wir näherkamen.

„Hey, Jill, wer ist denn die Prinzessin, die du da mitschleppst?“

„Hey, Axel, das ist Rose. Sie hat ein Problem mit ihrer Alten und kann nicht nach Hause.“

Der Junge sah mich aus hellen, spöttischen Augen an. Wenn er lächelte, zeigte er braun verfärbte kleine Zähne, die ziemlich weit auseinander standen. Eigentlich war er hübsch. Er drehte sich gerade eine und ich starrte auf die rissige Haut seiner Hände und die vom Nikotin gelb verfärbten Finger mit den Totenkopfringen.

„Hey, Prinzessin, erzähl doch mal selbst, was du hier willst.“

Ich habe euch noch nicht gesagt, dass ich verdammt gut lügen kann. Ich lüge eigentlich immer. Den Leuten in der Schule habe ich erzählt, meine Mutter sei Lehrerin. Dabei ist sie Malerin, aber ich erfand mir einfach die Mutter mit regelmäßigen Arbeitszeiten und regelmäßigem Einkommen, die ich lieber gehabt hätte. Jill habe ich erzählt, ich sei magersüchtig gewesen. Klar habe ich mal versucht zu kontrollieren, was und wieviel ich esse, nur hat es überhaupt nicht funktioniert, denn ich mag Essen einfach zu gerne. Meiner Mutter klaue ich Zigaretten, wenn ich sie finde. Da sie immer behauptet, nicht zu rauchen, kann sie nichts dagegen sagen. Sie weiß es aber. Sie ist selbst eine Lügnerin. Ich habe meiner Mutter auch erzählt, Jill hätte sich selbst erzogen, seit ihre drogensüchtigen Eltern tot wären. Davon war sie mächtig beeindruckt, bis sie Jills Adoptivmutter kennen lernte und herausfand, dass auch diese Geschichte erfunden war. Klar war sie ihr ein bisschen unwahrscheinlich erschienen, aber da sie gerne dazu bereit ist, Wunderbares zu sehen, hat sie es schließlich geglaubt. Über meine Lügerei war Mama manchmal traurig und manchmal amüsiert. Wenn sie amüsiert war, sagte sie immer, ich litte an der Schwindelsucht und verglich mich mit einem Jungen aus einem alten Film, dessen Eltern sich ewig streiten. Ein verstockter Junge, der lügt und stiehlt und die Schule schwänzt, aber am Ende ein großer Künstler. Meine Mutter steht auf französische Filme und Romane, italienische Malerei, Bob Dylan und überhaupt alles, was ihr erlaubt die Welt in Rosarot zu sehen. Das ganze Leben wäre ein Roman, ginge es nach meiner Mutter. Deshalb findet sie meine Lügerei manchmal auch amüsant, nur in letzter Zeit wurde es ihr dann doch zu viel des Guten. Und ich meine auch, sie sollte einfach mal sehen, was hier die Wirklichkeit ist. Ich setzte einen harten Blick auf, mit dem ich Axel fixierte, und die Lüge ging wie geschmiert über meine Lippen:

„Ich habe Stress mit meiner Alten. Ich muss weg von zu Hause. Meine Mutter hat mich rausgeworfen. Sie säuft und wenn sie besoffen ist, dann wird sie aggressiv. Sie scheuert mir eine, wirft mich aufs Bett und prügelt auf mich ein.“

Mit dieser Geschichte gab sich Axel zufrieden, aber ich sah seinem Lächeln an, dass er sie nicht wirklich glaubte. Ich durfte mich neben ihn setzen und er zeigte mir seine weiße Ratte, die aus seiner Jackentasche gekrochen kam und über seinen Arm hinauf auf seine Schulter lief. Ihre langen Schnurbarthaare kitzelten sein Ohr. Er nannte sie Maxwell und fütterte sie mit kleinen Stückchen von seinem Toastbrot.

„Prinzessin, du suchst etwas und weißt nicht, was. Für die meisten von uns fühlt sich das Leben hier an wie Endstation. Meinetwegen darfst du ein bisschen am Abgrund spielen. Solange kannst du an meiner Seite bleiben. Ich pass auf, dass du nicht hineinfällst.“

„Hey, jetzt hört euch mal unseren Dichter an“, mischte sich ein Mädchen ein. „Klar, auf so ein Püppchen aus gutem Hause fährst du voll ab. Das ist nicht zu übersehen. Hör mal Süße, glaub mal nicht, dass es hier keine Spießer gibt. Schau mal in seinen Rucksack. Für Bücher gibt er seine Kohle her. Und das Geld klaut er nicht. Nein, er steht jeden Tag um acht auf und geht arbeiten bis um sieben. Du glaubst, dein Verstand und dass du einen Job hast, machen dich zu etwas Besserem“, wandte sie sich wieder an Axel, „dabei hast du genauso wenig ein Zuhause wie wir alle hier. Du bist auch nur ein Stein in der Gosse, den jeder herumkicken kann, und niemand will dich haben, seit du auf der Welt bist. Daran wird sich niemals etwas ändern. Hast du noch was zu rauchen für mich oder zu saufen?“

Ich wäre jetzt wütend geworden und hätte ihr was zurückgegeben, aber Axel sah sie nur freundlich an. Und als ich seinen Blick sah, fühlte ich mich ein bisschen sicherer. Nicht, dass ich besonders ängstlich wäre, aber nun hielt ich mich dicht neben Jill und fürchtete mich vor dem Moment, an dem sie gehen würde. Mir wurde es ganz eng in der Brust bei dem Gedanken, der Zeitpunkt rückte unerbittlich näher, an dem sie nach Hause gehen und ich hungrig in ihren Schlafsack kriechen musste. Aber ich ließ mir natürlich nichts anmerken.

Axel legte seine Hand warm und schwer auf meine Schulter. Dann holte er eine Flasche Wodka aus der Plastiktüte, in der er seine ganze Habe verstaut hatte. Ich bekam die Flasche zuerst und nahm einen ordentlichen Schluck, dann Axel, dann das Mädchen. Sie schüttete sich ordentlich Wodka in den Rachen. Mir wurde warm und die Angst wich einem wohligen Gefühl. Ich sah noch, wie sie eine Weile in der Runde weiter schnorrte. Hier einen Schluck aus der Pulle, da ein Zug an einem Joint und da eine Zigarette. Schließlich wurde sie müde und legte sich zu ihrem Hund. Sie kuschelte sich eng an ihn und nahm ihn in ihre muskulösen braunen Arme. Sie war schön.

„Sina kann auf Händen laufen, Seiltanzen Radschlagen und Feuerspucken“, flüsterte mir Jill ins Ohr. „Für ihre Auftritte hat sie ein Flitterröckchen und eine glitzernde kleine Weste. Die Sachen hat sie im Knast genäht, wo sie eine Schneiderlehre machen musste. Morgen zeigt sie am Dom ihre Kunststücke, wenn sie die Kraft zum Aufstehen findet.“

Jill stand auf und ging. Sie musste um zehn zu Hause sein und hielt sich daran, weil sie Angst hatte, ihre Eltern würden sie wieder in die geschlossene Anstalt einweisen lassen. Jetzt war ich allein hier und hielt mich fest an Axel. Ich trank noch eine ganze Menge Wodka aus Axels Flasche. Und dann legte ich mich neben ihn zum Schlafen. Es war kalt geworden, der Boden war hart, in meinem Kopf drehte sich alles und die Angst kehrte zurück. Die Angst, Axel wäre doch nur ein besoffener, geiler Idiot, die Angst vor den Geräuschen im Dunkeln, von denen ich nicht sagen konnte, wo sie herkamen. Waren es Ratten oder Füchse, die in den Büschen raschelten und schnauften? Würden die Ratten nachts über mein Gesicht laufen? In der Ferne erkannte ich den Klang der Glöckchen der Schafe, die am Tag wie weiße Wolken über die Rheinwiesen zogen, und das gelegentliche müde Kläffen der Wachhunde, die sie treu umkreisten.

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