Читать книгу: «Stille Nacht», страница 2

Шрифт:

Ein Stern leuchtet über Betlehem


Dezember 1999

Ahmed, mein lieber Bruder!

Möge Allah auch weiterhin seine schützende Hand über dich halten und dir Gesundheit und Frieden geben. Assalamaleiki!

Dein Brief aus dem fernen Deutschland hat uns viel Freude verursacht und ein warmes Licht in unser dunkles Dasein gebracht. Die Oma, Umm‘ Mohammed liess sich deinen Brief schon dreimal vorlesen und hat dazu immer weinend Segenswünsche geflüstert.

Sicher hast du im Traum ihr «Barakaloufiq» gehört.

Du weisst ja, wie schwer sie es hat, sie, die einst stolze und freie Bäuerin auf eigenem Land war und nun hier wie eine Gefangene in dieser schrecklichen Stadtwohnung eingesperrt ist.

Sie wurde übrigens letzte Woche von israelischen Soldaten arg verprügelt, weil sie, zusammen mit ein paar andern Alten gegen die neuste Landnahme der Siedler protestiert hatte.

All‘ hamd ul Illah, wurde sie dabei äusserlich nicht ernsthaft verletzt, aber ihre innere Wut bekam neue Nahrung. Es ist schrecklich zu sehen, wie sie sich von Hass und verletztem Stolz verzehren lässt. Aber bei alledem, was sie in ihrem schweren Leben an Leid und Ungerechtigkeit erdulden musste, ist dies nicht weiter verwunderlich.

Möge Allah ihren Wunsch erfüllen, dass sie irgendwann in der Zukunft wieder auf ihre geliebte Erde zurückkehren kann, in schah‘ Allah.

Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr.

Unsere Familie ist sehr stolz auf dich, mein lieber Bruder und wir sind sicher, dass du an der dortigen Universität ebenso glanzvoll abschliessen wirst, wie einst unser Papa in Beirut.

Der gute Abschluss ist wichtig, wie du weisst, denn wir Palästinenser haben unsern Stolz, wir wollen der Welt zeigen, wer wir in Wirklichkeit sind. Denk daran!

Wir wollen ein gebildetes, intellektuelles Volk sein und nicht mehr die schmutzigen unrasierten Terroristen von einst.

Wegen des bevorstehenden Besuches des Papstes wurde unsere Stadt festlich geschmückt, du würdest dein Bethlehem kaum mehr wieder erkennen. Über der Geburtsstätte von Aissa prangt ein riesiger Stern, sieht ganz hübsch aus.

Viele Palästinenser hoffen, dass der Papst uns dem Frieden ein Stück näherbringen werde, Allah möge ihm beistehen…

Ich persönlich aber bezweifle sehr, dass sich irgendwas bewegen werde, wir kennen dieses heuchlerische Spiel nur allzu gut.

Der reiselustige alte Herr aller Christen will doch nur die heiligen Orte seiner Religion besuchen, Bethlehem, El Quds und was weiss ich was noch, und dann heisst es wieder „Addio, liebe Freunde, tut mir leid, dass ich nicht mehr für euch tun kann, als euch meinen Segen spenden“ und dann fliegt er wieder weg.

Und das wär’s dann gewesen.

Und die Israeli bedrohen uns weiterhin mit ihren Panzern und ihren Kampfbombern und ihre Geheimpolizei und ihre Armee wütet mit der alten Brutalität weiter, sogar Frauen und Kinder fallen ihren Kugeln zum Opfer, die Siedler halten weiterhin ihr gestohlenes Land fest in ihren Händen, man stiehlt uns weiterhin unser Wasser, man hält uns weiterhin wie Tiere gefangen und weiterhin sieht die ganze Welt ihrem Treiben tatenlos zu.

Mit Hilfsgeldern will man uns den Mund stopfen, aber mit dem Geld geht es hier wie mit dem Wasser: eine Hälfte verdunstet unter der Sonne, die andere versickert im trockenen Boden und dann weiss niemand, wo es geblieben ist.

Helfen?

Weder Papst noch amerikanischer Präsident noch irgendwer wird uns je helfen. Alles Heuchelei und leere Worte.

Almosen.

Wir wollen keine mitleidige, heuchlerische und erniedrigende Hilfe, wir wollen unser Land zurück, wir wollen eine Heimat, wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen…

…der Glaube an Gerechtigkeit ist uns verloren gegangen, das Unrecht regiert hier schon viel zu lange

Unsere einzige Hoffnung ist Allah, ist unser Glaube, der wahre Glaube, der uns unsere Situation ertragen lässt.

Mit eigener Kraft werden wir nie aus diesem Elend herauskommen.

Wenn wir uns wehren und Steine werfen, Steine gegen Panzer, wird scharf geschossen, wenn die Hamas in Gaza selbst gebaute Raketen abfeuert, voller Wut, ins Nichts hinaus, kommen Kampfhelikopter und jagen unsere Jungen wie Hasen, wenn ein Attentäter eine Bombe zündet, so wird sein Haus gesprengt, seine Familie vertrieben …

Wir sind ohnmächtig, wehrlos, dem Feind auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, wir liegen am Boden und die Welt schaut weg. Ob auch Allah wegschaut?

In scha’Allah

Aissa, ein Jude und der Prophet der Christen soll gesagt haben: «Liebet eure Feinde». Das klingt so schön und verdammt edel aber nicht einmal die Christen können es. Da sind die Juden mit ihrem «Auge um Auge …»der Wirklichkeit näher.

Oh Ahmed, mein liebster Bruder, könnte ich doch nur hier weg, hinaus aus diesem Elend und dieser demütigenden Situation. Was würde ich nicht alles tun, um zu dir zu fliegen, in jenes ferne Land Deutschland, das du uns in so vielen schönen Farben schilderst.

Aber ich weiss, dass ich, unfreie Palästinenserin, von den Israeli keine Ausreiseerlaubnis bekommen würde.

Und die Deutschen sind ja wohl auch nicht bereit uns alle aufzunehmen. Vielleicht befürchten sie, dass wir mit ihnen umgehen würden wie die Israelis mit uns.

Lustiger Gedanke!

Lassen wir ihn.

Es könnte auch das Gegenteil eintreten.

Wie schön du über das bevorstehende grosse Fest der Christen berichtest, welches hier leider nicht nur Freude für uns bedeutet, wie du dir ja vorstellen kannst.

Mein lieber Bruder, versuche bitte das, was ich dir nun hier schreibe, mit Ruhe aufzunehmen, spare deinen Hass für unsere wirklichen Feinde.

Ich muss dir nämlich leider die traurige Nachricht übermitteln, dass unsere beiden Brüder gestern bei einer Razzia der Juden verhaftet und in Sicherheitshaft genommen wurden, Es sei nur aus Gründen der Sicherheit, bis der ganze Spektakel des Papstbesuches vorüber sei, behaupten die Israeli, aber du weisst ja, was ihr Wort uns Arabern gegenüber gilt.

Allah möge ihnen helfen, dass sie je wieder freikommen!

Mein lieber Bruder, bitte, vergiss uns nicht.

Allah sei bei dir.

Ich schicke dir die liebsten Grüsse und Segenswünsche deiner ganzen Familie, der Oma Umm’ Mohammed, deiner Mutter Leila, deiner Tante …


Komm Herr Jesus sei unser Gast


In unserer Familie herrschte der eigenartige Brauch, dass man bei Tisch vor dem Essen immer ein überzähliges Gedeck hinlegte.

«Für den fremden Gast», oder auch «Für den Herrn Jesus», wie es hiess, was mich als Kind sehr beeindruckte, mir aber irgendwie keinen Sinn machte, obschon sich immer wieder Gäste einfanden, die von Mutters grossherzigen Gastfreundschaft wussten und sie ausnutzten.

Ich betrachtete sie nie als Jesusersatz, diese zerlumpte, verlauste Gesellschaft von Mitessern und ich missgönnte ihnen manchen Bissen, wenn ich nach dem Essen noch hungrig vom Tisch ging.

Meine Mutter erklärte es als ein Gedenken an all jene, die irgendwo auf der Welt Hunger litten und von denen gab es damals reichlich, es war ja Krieg, solange ich mich erinnern konnte. Aber ich fand dann, dass ein leerer Teller bei uns, niemanden in den Kriegsgebieten satt mache und unsere Parasiten liess ich nicht mit dem Herrn Jesu vergleichen.

Meine Tante Frieda, eine sehr weise und fromme alte Frau erzählte mir, dass Jesus manchmal auf Erden wandle, um zu schauen, ob alle Menschen hilfreich und gut seien.

So konnte es vorkommen, dass er als Bettler verkleidet um die Mittagszeit an die Türe klopfe und um ein Stück Brot bitte. Nun komme es drauf an, ob wir ihn hereinbäten und ihn am Ehrenplatz bewirteten, oder ob wir ihn wegschickten.

Im ersten Fall konnten wir mit einer Belohnung rechnen, im andern Fall mit einer Strafe.

Sie erzählte dann vom reichen Bauern, der den Herrn vom Hof gejagt hatte und kurze Zeit später sei sein Hof niedergebrannt.

Ich fand es sei ihm recht geschehen, aber wie wurden die Armen belohnt, die ihre Suppe mit ihm geteilt hatten?

Mit Friedas Antwort war ich nie zufrieden.

Es handelte sich um eine Art von Tribünenplatz im Jenseits und vielleicht noch ein zufriedenes Leben im Diesseits aber keinen schnöden Mammon, keine materiellen Güter.

Da wir zweifellos im Dorf zur ärmeren Schicht zählten, wäre es mir lieber gewesen, wir hätten einen schönen Bauernhof bekommen oder Mutter hätte bei der Landeslotterie das grosse Los gezogen, oder mein Vater wäre Arzt oder Lehrer gewesen, statt Bauarbeiter.

Dabei liess ich den leeren Teller nie aus den Augen.

Vielleicht irrte sich da die fromme Tante Frieda und Jesus war ein spendabler Gott.

Um es gleich zu sagen, Jesus war nie unser Gast, aber manche Hausierer wussten es so eizurichten, dass sie genau zur Mittagszeit an unsere Türe klopften und keiner wurde weggejagt, selbst wenn das Essen nur knapp für alle reichte.

In «gewissen Kreisen» wusste man offenbar Bescheid über unsern «Jesusteller».

Mit der Zeit gab es sogar so etwas wie Stammgäste (ich nannte sie «Mitesser»).

Die Frau Schnalke zum Beispiel, eine Hausiererin, die ass, (die frass) wie ein Ferkel.

Ein Stück ihrer Unterlippe war gelähmt und so kam von jedem Bissen, den sie gierig in den Mund stopfte, ein Teil wieder links unten raus.

Schlimm war es mit der Suppe.

Mich faszinierte die ganze Szene. Das war ein ekliges Schmatzen und Spritzen und wenn sie dann auch noch gleichzeitig reden wollte…

…aber in der Folge gab es nie mehr Suppe, wenn die gute Frau Schnalke den Jesus ersetzte.

Wir hatten auch sehr interessante Gäste, an die ich mich noch gut erinnern kann. Handwerksburschen auf der Walz, Vaganten, einen Flüchtling, der nachts über den Rhein geschwommen war, eine Frau, die mit ihren zwei Kindern vom Ehemann aus dem Haus geprügelt worden war und dann eben die periodisch wiederkehrenden Hausierer, jeder mit seinem Gebresten.

Holzbein, blind, schwerhörig, einarmig und der «Schoggi Bommer» in seinem Rollstuhl.

Jesus war nie unser Gast, vielleicht, weil es bei uns kein Tischgebet gab, aber Vater mochte das nicht. Er machte sich nicht viel aus Religion. Die Kirche gehörte zwar ins Dorf, wie er immer sagte, für all jene, die es «nötig hätten». Wer sich aber ehrlich durchs Leben schlage, niemand was zuleide täte und denen helfe, die Hilfe brauchten, der brauche kein jüngstes Gericht und weder Himmel noch Hölle.

Meine Mutter hatte ihren Katechismus brav auswendig gelernt, liess den Herrgott einen guten Mann sein, aber sie verfluchte seine Kirche und seine Pfaffen.

Sie mochte ihre Gründe gehabt haben.

Bei ihrer Heirat trat sie zu den Reformierten über, um, wie sie sagte, ihre Kinder «vor dem Bösen zu bewahren.»

Eine besondere Abneigung hegte sie auch gegen die vielen «Stündeler» in der Verwandtschaft, die sie verächtlich «Heilandshausierer» nannte.

Die Kurzfassung ihrer Religion war: «Wenn du deine Sache recht machst, hast du nichts und niemanden zu fürchten,»

Sie plädierte für «Angewandtes Christentum» und der Jesusteller war der Ausdruck ihres Glaubens.

Als ich sie mal wegen des Tellers zur Rede stellte und wissen wollte, ob sie dafür eine göttliche Belohnung erwarte, meinte sie nur, wenn man aus Eigennutz handle, wäre das nur ein billiger Kuhhandel.

Nein, sie war tatsächlich daran interessiert den armen Teufeln eine Suppe zu spendieren, weil sie ihr leidtaten.

Wenn ich denke, dass bei uns kein Überfluss herrschte, es war eher so, dass der «Schmalhans unser Küchenmeister war»

Damit wir über die Runden kamen, verdingte sie sich als Wasch- und Putzfrau.

Für mich, als Kind, war alles in Ordnung, so wie es war. Ich wusste nichts anderes, aber ich muss gestehen, dass ich im Geheimen immer auf den Herrn Jesus gewartet hatte oder vielleicht auf einen verkleideten Prinzen, der uns zum Dank für die Gerstensuppe mit Wohltaten überhäufte.

Neue wasserdichte Winterschuhe, ein neues Fahrrad für meinen Vater, schöne Bücher … ja, ich hätte schon Wünsche gehabt.

Dann kam aus heiterem Himmel die Nachricht herein, dass der Onkel Alois aus Amerika zurückgekehrt sei.

Ich hatte gar nichts vom reichen Onkel in Amerika gewusst, man hatte diesen Namen bisher nie erwähnt, aber ich fand, dass mein Vater endlich ein Motorrad verdient hätte und dass Mutters Traum vom Staubsauger in Erfüllung gehen könnte und meine Traum-Winterschuhe waren nun schon innen mit Pelz ausgefüttert …

Alois war ein grosser Bruder meiner Mutter und sie war zugleich noch sein Patenkind gewesen, aber sie konnte sich nur schwach an ihn erinnern.

Sie mochte etwa acht Jahre alt gewesen sein als er nach Amerika ausgewandert war.

Sie wusste nur noch, dass er bei der Abreise ihr Sparschwein geklaut hatte …

ebenso das monatliche Haushaltungsgelt der Oma … sowie die Geldtasche des Polizisten, der ihn zum Zug nach Hamburg gebracht hatte.

Die Überfahrt hatte die Gemeinde bezahlt. Ein beliebtes Mittel damals, um unbeliebte Mitbürger abzuschieben, verbunden mit der guten Absicht, ihnen eine Chance zu geben, sich im fernen Amerika zu bessern.

Vor seiner Abreise hatte Mutter ihren Paten fast nie gesehen, weil er all die Jahre im Bezirksgefängnis Tüten geklebt hatte, als Lohn für zwei jämmerlich missglückte Raubüberfälle.

Auch Dummheit ist strafbar.

Nun war er also wieder zurückgekehrt als alter Mann, und wie man gerüchtweise vernahm, als stinkreicher Amerikaner mit Taschen voller Goldmünzen.

Vor seinem Tod wollte er alle seine Verwandten in der Schweiz und im Schwabenland besuchen und sie um Verzeihung bitten.

Hiess es.

Mutter meinte dazu trocken: «Der Alois geht der lateinischen Zehrung nach»

Bei uns war er für die Weihnachtszeit angekündigt.

Zum Weihnachtsessen am 25. Dezember.

Ich sah ihn vor meinen geistigen Augen am Tisch sitzen am «Jesusplatz» natürlich. Ein grossgewachsener Amerikaner, so wie die Soldaten der Besatzungsmacht in Deutschland, aber er trug ein buntes Hemd und in seinen schwarzen Haaren sah man so etwas wie einen Heiligenschein…

… meine überbordende Fantasie schürte aber auch noch den Neid meiner Klassenkameraden und ich merkte bald, dass sich alle von mir abwandten…

…ach der mit seinem reichen Onkel …

Er kam mit dem Zug am Nachmittag des 24. Dezember in Effretikon an. Ganz vorne am Zug, bei der ersten Klasse stieg nur eine dicke Frau mit Pudel aus dem Wagen.

Kein Onkel Alois aus Amerika.

Aber meine Mutter hatte ihn schon gesichtet, ganz hinten bei der dritten Klasse stand ein kleiner, gekrümmter alter Mann in grünem Lodenmantel und winkte ungeduldig mit seinem Gehstock.

Eine armselige verhutzelte Gestalt mit einem kleinen

Rattan Koffer neben sich, stand etwas verloren auf dem Perron und Mutter meinte gleich, das müsse «Götti» Alois sein.

Meine Enttäuschung war abgrundtief und ich hoffte fest, dass dieser Wurzelzwerg wieder in den Zug einsteige, bevor die Türen geschlossen wurden.

Aber er blieb.

Mein Onkel Alois aus Amerika.

Aus seinem verrunzeltem Gesicht blickten zwei listige Äuglein und sein kleiner Mund war immer in Bewegung. Heute wäre es ein Kaugummi, Onkel Alois kaute Tabak mit seinen wenigen schwarzgelben Zahnstummeln, die ihm noch geblieben waren.

Er verbreitete einen säuerlichen Geruch, das musste der Tabak sein der Rest war der Gestank von altem ungepflegtem Mann.

Mir war gleich klar, dass der gute Onkel Alois kein Nabob war, der kam aus keiner Villa in Miami, der war kein Besitzer eines Amischlittens, der war sein Leben lang Fussgänger gewesen.

Der kam per Schub nach Hause.

Wenn er atmete, kam immer ein Pfeifen und Rasseln aus seiner Kehle und wenn er redete, war er kaum zu verstehen.

Da war mal sein «Schigg» (Pfriem) im Mund, das Gerassel aus seiner Kehle und dann war seine Sprache so komisch, dass ich vorerst glaubte, das wäre nun Amerikanisch.

Es war ein Gemisch von Deutsch, Amerikanisch und Entlebuchisch ohne R und W, diese kamen als Quaktöne und Gurgellaute aus seinem Mund.

Ich konnte ihn rasch gut nachahmen und hatte mit meinem Amerikanisch grossen Lacherfolg in der Schule.

Da ihm das Sprechen offensichtlich Mühe bereitete, schwieg er und ich erfuhr nur ganz wenig von seinem Leben.

Wir erfuhren lediglich von ihm, dass er in die Schweiz zurückgekehrt war zum Sterben. Er wollte noch einmal seine Geschwister sehen, die er dort drüben vermisst hätte. Das Heimweh habe ihn immer geplagt.

Beim Weihnachtsmal sass der Onkel Alois natürlich am Ehrenplatz des «Herrn Jesu».

Es war irgendwie eine Zumutung für unsere Nasen. Diese Stinkmorchel.

Sogar der Braten schien nach Alois zu duften, der Knoblauch, die Zwiebel und alle Gewürze kapitulierten.

Aber trotzdem faszinierte mich dieser seltsame Gast.

Sein lederbraunes Gesicht sah aus wie eine zerknitterte Landkarte.

An der linken Schläfe war ein rundes Mal, das von einer Verbrennung herrührte, als ihn ein Tropfen flüssiges Eisen erwischt hatte, am linken Ohr fehlte das Ohrläppchen und die Narbe, die bis zum Hemdkragen reichte, hatte ihm einst ein Mitgefangener im Gefängnis zugefügt.

Mit einem Büchsendeckel einer Konservendose.

Ich löcherte nun den Onkel mit meinen Fragen.

Indianer, ja, hatte er in der Giesserei einen gekannt, die Niagarafälle, nie gesehen, den wilden Westen kannte er aus dem Kino …

… er hatte immer hart gearbeitet, war nie weit aus Chicago hinausgekommen…

…er hätte es zu nichts gebracht ausser zu seiner Staublunge und seiner schweren Arthrose. Darüber hinaus sei ihm nichts geblieben…

Er verbrachte seine letzten Tage in einem Hospiz, das von frommen Schwestern geleitet wurde, irgendwo in der Innerschweiz.

Nach Weihnachten musste ich natürlich in der Schule von meinem Onkel erzählen.

Er tat mir ja so leid mit seiner Lebensgeschichte.

Da wird einer nach Amerika abgeschoben und verbringt dann sein ganzes Leben in einer Giesserei, macht sich dabei seine Lunge kaputt und seine einzige ruhige Zeit verbringt er in einem Gefängnis …

Dabei hätte er der Freund des Indianers «Sitting Bull» sein können, hätte als Cowboy über die Prärie reiten können. Als Goldsucher in Alaska wäre er reich geworden aber auch als Börsianer an der Wall Street.

All diese grosse Ehre widerfuhr ihm nun bei meinen Erzählungen in der Schule und ich sonnte mich nicht wenig in seinem Glanz.

Ich bat dann meine Eltern, den Onkel Alois auch zum nächsten Weihnachtsessen einzuladen, weil mir der verhutzelte Alte wirklich leid tat…

Kurz vor Ostern kam die Todesanzeige und mit ihr das Gerücht, er hätte dem Kloster ein Riesenvermögen vermacht.

Dass sogar die amerikanische Botschaft in Bern einen Kranz geschickt hatte, passte irgendwie auch nicht so richtig in seine Biografie.

Jedes Jahr erinnere ich mich an Weihnachten an den seltsamen Gast, der damals den «Jesusplatz» am Tisch eingenommen hatte.


Weihnachten unter Palmen


November war immer schon der schlimmste Monat des Jahres in der Altersresidenz gewesen. Das trübe, kalte feuchtneblige Wetter, die kraftlose Sonne und die endlos langen, durchwachten Nächte konnten jedem aufs Gemüt schlagen.

Da half die rege Betriebsamkeit der Heimleitung nicht viel. Ob Tanznachmittag oder Schülerchor, Basteln von Weihnachtsschmuck oder Musiknachmittag, es hatte alles den Geruch von Ablenkmanöver, von gut gemeinter therapeutischer Massnahme.

Alle Suizide, die je im Heim vorgekommen waren, wurden im Monat November ausgeführt.

Es war die Zeit der allgemeinen Scheisslaune, der verbreiteten Stänkerei und der Nörgelei. Streit und sogar Handgreiflichkeiten waren sehr häufig und der Konsum von Beruhigungsmitteln erreichte sein historisches Jahreshoch.

Es war auch die Zeit der hoffnungslosen Tagträume, der Erinnerungen an sinnlos vertane Zeiten, an viele unwiederbringliche verlorene Stunden.

Es war die Zeit der Einsicht, dass der bevorstehende Lebensabschnitt ohne Zukunft war, zeitlos, Verwahrung auf Lebensrest.

Es war die Zeit, wo man der ungestillten Sehnsüchte gedachte: Weihnachten in der Karibik, am Meer, unter Palmen…

Der Neuzugang kam daher ganz gelegen.

Man hatte endlich neuen Gesprächsstoff, ein neues Gesicht, Geschichten, Gerüchte, ein neues Opfer für die Redseligen oder für die Streitlustigen und bis ihn alle neugierigen Nasen beschnuppert hatten, kam endlich Weihnachten.

Er soll ein Hiesiger sein, meinten die einen, andere tippten auf einen Ausländer, sicher aber ein Schwarzer, da er sein Leben in Afrika verbracht hatte.

Mitte November kam der «Neue».

Er kann zum «Nachmittagskaffee» und fast alle Heimbewohner sassen erwartungsvoll im Aufenthaltsraum vor ihren dampfenden Kaffeetassen.

Es war totenstill als Schwester Heidi mit dem neuen Gast eintrat (Gottseidank ein Weisser).

Bevor sie ihn vorstellen konnte, trat er vor die Leute und sagte: »Hallo ihr Jungs und Mädels, ich glaube ich habe mich verirrt. Ich wollte eigentlich in die Altersresidenz einziehen, aber ihr seid ja alle noch so junges Gemüse, ist wohl ein Jugendtreff hier.

(Gelächter in allen Stimmlagen)

Also, ich bin der «Hans» und will hier eine Schnupperlehre machen. Mal schauen, ob wir uns aushalten und ob mir der Kaffee schmeckt. Lasst euch aber jetzt nicht stören bei eurem «Käfeli», wir haben noch genügend Zeit uns kennen zu lernen.

Bei sich dachte er, dass er es wohl keine drei Tage aushalten werde in diesem Rudel alter «Kläuse».

Seine Frau hatte davon geträumt, im Alter in eine altersgerechte Einrichtung zu ziehen, wo dann die andern für sie zu «laufen» hatten. Nun, sie starb vorher und jetzt lag es an ihm allein, die Freuden des Alters zu geniessen.

Für sich allein zu kochen, macht aber keinen Spass und irgendwann schmeckt die Suppe in der Kneipe nach Spülwasser und irgendwann ist man bei Brot und Käse oder Servelatwurst angelangt.

Zur Abwechslung mal auf einer Parkbank am Seeufer, wo sich hungrige Schwäne um die Brotresten streiten.

Der Haushalt wird trotz sporadischer Hilfe einer Putzfrau zum Notstandsgebiet, überall Dreck, Gestank und Räuberhöhlen - Romantik.

Der Alltag wird zur Horrorszene.

Wenn dir niemand hilft beim Anziehen der Strümpfe schlüpft man barfuss in die Schuhe und schliesslich merkt man, dass es so nicht weitergehen kann.

Man ist bereit sich in den Altersknast zu begeben.

Man wird sich wohl daran gewöhnen können oder müssen.

Aber vorerst schiebt man den Entscheid noch hinaus, solange man kann, doch die Gelenkschmerzen, die Standsicherheit, das Herzrasen, die beginnende Vergesslichkeit, die Atemnot, das Nachtröpfchen und was da alles noch kommen mag, sind überzeugende Argumente für einen Tapetenwechsel.

Das Alleinsein fiel ihm mit der Zeit auch schwer, obschon er eher der Typ des grauen, einsamen Wolfs war, sehnte er sich manchmal nach Gesellschaft.

Für Hans war der ausschlaggebende Grund seiner Entscheidung seine verstorbene Frau, die jetzt nach ihrem Tod nicht von seiner Seite wich.

Immer wieder glaubte er sie zu hören oder gar zu sehen und immer wieder redete er mit ihr, las ihr am Abend die letzten Zeilen vor, die er geschrieben hatte.

Nachts hörte er sie im Haus herumtigern, weil sie wieder mal vor Schmerzen nicht schlafen konnte, oder er hörte ihre regelmässigen Atemzüge im Bett nebenan…

Sie hatten sechzig Jahre lang glücklich und friedlich zusammengelebt, sechzig Jahre …

Aber mit ihrem Gespenst zusammenleben, das wollte und konnte er nicht, es war unheimlich, es machte verrückt…

Er blickte in die Gesichter, die ihn neugierig musterten, aber es war keines darunter, das ihm vertraut war, obwohl alle aus der Gegend stammten, wie auch er.

Es waren Gesichter, die er seit seiner Schulzeit kannte, diese blöden, ausdruckslosen Fratzen, die neugierig starrten, voller Erwartung, bis der Herr Lehrer den frechen Hans übers Knie legte und ihm mit der Haselrute den Hintern versohlte…

Einen Moment lang schloss er die Augen und überlegte, ob er nicht besser gleich wieder umkehren sollte.

In diesem Augenblick spürte er, dass hinter ihm noch jemand eingetreten war, er spürte die Blicke und drehte sich um…

«Verena!» rief er und blickte staunend in die zwei dunklen Augen, die ihm seit Kindertagen bekannt waren.

Sie waren Nachbarskinder und zwei unzertrennliche Freunde. Sie standen sich nahe, wie Geschwister und wer sie damals so zusammen gesehen hatte fand, sie seien ein «herziges» Pärchen.

Als sie dann etwas älter waren und vom Baum der Erkenntnis genascht hatten, kam das jähe Ende.

Verena, die Arzttochter wurde in ein vornehmes Internat gesteckt und Hans, der Sohn des Dorfmaurers hatte die strikte Weisung jeglichen Briefverkehr mit Verena zu unterlassen.

Er liess es bleiben und verschwand ein paar Jahre drauf aus dem Dorf. Es hiess, er mache eine Maurerlehre im Unterland, andere wussten, dass er eine höhere Schule besuche und wieder andere Gerüchte besagten, er arbeite als Hilfsarbeiter in der Lokomotivfabrik in Winterthur.

«Verena», stammelte er und liess die Arme hängen und blickte unentwegt wie gebannt in diese dunkeln Augen…

Im Saal war es still geworden und der gesamte Altenverein blickte erstaunt, verzückt oder neugierig, je nach eigener Gemütslage, in die Richtung der beiden.

Das versprach spannend zu werden, vielleicht eine Liebesgeschichte?

Das eine oder andere zerfurchte Frauengesicht errötete.

Als Verena den Bann brach und Hans innigst umarmte, begann die ganze Gesellschaft zu klatschen und zu rufen, bis die Heimleiterin herbeieilte und Ruhe befahl.

Mit Hans kam viel Turbulenz in den Laden, weil er sich nur schwer der «Hausordnung» unterwerfen konnte, das heisst, er machte so ziemlich was er wollte und Vreni, die man ehrfürchtig «Frau Doktor» nannte, hielt ihm die Stange.

Alle die alten Damen waren begeistert von ihm, weil er Leben in die Bude brachte (und jeder den Kopf verdrehte) und alle Männer mochten ihn, ausser beim Pokerspiel, wo der Kerl immer gewann.

Er spielte prinzipiell nur um Geld und konnte derart meisterhaft bescheissen, ohne dass man ihm etwas nachweisen konnte.

Beim Jassen spendierte er immer das Getränk, pasteurisierter Traubensaft, laut Etikette aber wer ihn verkostete, wusste beim ersten Schluck, dass es sich um einen Hallauer handelte, den man wohl zu pasteurisieren vergessen hatte.

Auch sein Kirschwasser in der Sprudelflasche von der Migros war unverdächtig, da dieser Laden keine alkoholischen Getränke verkauft.

Aber die Frau Direktor, welche eine Nase hatte wie ein Setterhündchen, roch den Braten oder, sagen wir einmal: den Zugerkirsch.

Hans wurde zu einem ernsten Gespräch mit Frau Direktor Lang gebeten. Wegen Paragraf 7 der geltenden Hausordnung: Absolutes Alkoholverbot, der Gesundheit zuliebe.

Die laute Stimme der Chefin drang durch alle Türen, aber sie beruhigte sich nach ein paar Minuten und dann herrschte Ruhe.

Totenstille.

Ob er die Giftnudel abgemurkst hatte?

Nach einer halben Stunde hörte man ein weibliches Lachen, ein Kichern, das mit der Zeit in eine Art von Gackern überging…

…der Eierlikör, den Hans mitgebracht hatte, tat seine Wirkung, vor allem, weil er ihn noch mit Wodka gestreckt hatte…

Die Hierarchie war ins Wanken gekommen und Hans (aber auch Verena und andere) nahmen sich immer mehr Freiheiten heraus.

Es war Handlungsbedarf bei der Heimleiterin.

Als Hans eines Tages ein Doppelzimmer mit Doppelbett verlangte für sich und Verena, konnte die Chefin endlich wieder einmal ihre Macht ausspielen.

Sein Argument, dass ein Einzelbett für zwei alte Leute unzumutbar sei, liess sie nicht gelten.

Als er kurzerhand sein Bett in Verenas Zimmer stellen wollte, drohte die Chefin mit der Sittenpolizei.

Das sei «Konkubinat», also unstatthaft, eine Schweinerei, abscheulich, unchristlich, verderbt, obszön und lasterhaft. Sowas, mit 80!

84, korrigierte Verena.

Sie fand, dass es gar nicht so abscheulich sei, sondern ganz angenehm, aber wenn Frau Direktor darauf bestehe, würden sie heiraten.

Heiraten mit 84!

Im Heim war helle Aufregung und grosse Freude als es hiess Hans und Verena wollten heiraten.

(was heisst da «wollen», sie «müssen» heiraten!)

Der Gemeindeschreiber machte sein übliches Pokergesicht, als die beiden 84-Jährigen ihre Hochzeit anmeldeten.

Sie wollten noch vor Weihnachten heiraten, aber da kam plötzlich mächtiger Widerstand von verschiedenen Seiten.

Verenas Tochter, Chefärztin in Bern, wollte diese Ehe verhindern mit dem Argument, ihre Mutter sei im höchsten Grad unzurechnungsfähig, dement.

Denselben Vorwand brachte auch ein (Erb)Neffe von Hans gegen seinen Onkel. Der sei völlig «gaga».

Beide Senioren konnten jederzeit vor jeder Instanz über ihre Identität Auskunft geben, kannten Datum und Uhrzeit und konnten kurzzeitig bis zu 40 Wörter memorieren.

Verena konnte über den Ablauf von schwierigen Operationen rapportieren und Hans erklärte dem Psychologen den Aufbau der arabischen Sprache.

Die beiden wurden als noch voll zurechnungsfähig erklärt.

Die Erben versprachen, das Ganze vor Gericht ziehen zu wollen.

Eine einstweilige Verfügung hatte die Richterin abgelehnt.

Hochzeitstermin war Heiligabend um 11 Uhr morgens.

Anschliessend war grosse Feier angesagt im Altersheim und um 4 Uhr kam ein Taxi und brachte die zwei Neuvermählten zum Flughafen in Kloten.

Reiseziel war Paris.

Die Flitterwoche sollte bis zum Neujahr dauern …

…aber Nachforschungen ergaben, dass die zwei schon zwei Tage später wieder im Hotel ausgebucht hatten, und ein Taxifahrer erinnerte sich, das sympathische Pärchen zum Flughafen gebracht zu haben.

In der Passagierliste der Air France vom Flug nach Guadeloupe erschienen ihre Namen, aber die Flugbegleiter von jenem Flug behaupteten alle, es sei ein junges Pärchen gewesen, frischvermählt, etwa 25-jährig, beide.

Die geprellten Erben erfuhren auch, dass beide ihr ganzes Vermögen auf eine französische Bank in der Karibik verschoben hätten.

Бесплатный фрагмент закончился.

956,63 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
160 стр. 17 иллюстраций
ISBN:
9783754908129
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
181