Читать книгу: «Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa», страница 6

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Oder nehmen wir die in Deutschland immer wieder aufkeimende Debatte über den „Zahlmeister Europas“. Es ist richtig, wir haben über die Jahre, gemessen an dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als der wohl vernünftigsten Messzahl, mehr in die Brüsseler Gemeinschaftskasse gezahlt als wir daraus erhalten haben. Deutschland ist der größte Nettozahler. Heute sind dies jährlich über 13 Mrd. €. Auf der anderen Seite steht Polen mit über 12 Mrd. € als der größte Nettoempfänger 2

Mir scheint indes, dass es diesen Geistern nicht bewusst war und ist, wie sehr Europa zu unserem Wohlstand beiträgt. Ein Gutteil unserer Exporte geht nach EU-Europa, sie bilden trotz aller Globalisierung unverändert das „Rückgrat“ der deutschen Wirtschaft. Hätten wir nicht offene Grenzen und den europäischen Binnenmarkt, so wäre ein solches Maß an Wohlstand nie möglich gewesen. Natürlich müssen die Wirtschaft selbst wie auch die Politik bei der Setzung der Rahmenbedingungen darauf achten, dass weder daraus noch aus den Exporten in andere Weltregionen zu grosse Abhängigkeiten entstehen.

Und es steht auf einem anderen Blatt, dass es selbstverständlich ist, für einen gerechten oder zumindest zu rechtfertigenden Beitrag einzutreten. Wir sind mit der europäischen Ausrichtung, die von allen bisherigen Bundesregierungen mit unterschiedlicher Intensität mitgetragen wurde, in Wahrheit gut gefahren.

Heute ist Deutschland zum ersten Male in seiner Geschichte nur von Ländern umgeben, mit denen es in Frieden und Partnerschaft lebt. Wie anders hätte bei uns wie in Europa über die Jahre ein solches Maß an Wohlstand, an sozialer Sicherheit entstehen können, wie anders könnten wir heute auf über ein halbes Jahrhundert Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat zurückblicken. Darauf können und sollten wir Deutschen und Europäer stolz sein.

Aus all diesen Prämissen folgen ganz natürlich die grundlegenden Prioritäten der Außenpolitik Deutschlands, vor und erst recht seit der deutschen Wiedervereinigung: Frieden und Freundschaft mit allen Nachbarn und vor allem die europäische Integration, aufbauend auf dem deutsch-französischen Verhältnis.

Eckpfeiler deutscher Außenpolitik

In diesem Sinne waren für Helmut Kohl vier Eckpfeiler oberste Richtschnur und zugleich Leitmotiv deutscher Außenpolitik als Grundlagen für die bestmögliche Vertretung unserer vitalen deutschen Interessen:

Erstens: Das Ziel der Wiedervereinigung des deutschen Volkes in Frieden und Freiheit nie aus den Augen verlieren, dabei immer das Schicksal der Menschen in einem geteilten Land zu beachten und erstes Augenmerk auf die Konsequenzen für sie zu setzen.

Zweitens: Ein enges, vertrauensvolles deutsch-französisches Verhältnis, ähnlich in seiner Zielsetzung auch mit allen unseren Nachbarn, als Basis vor allem auch der europäischen Politik

Drittens: Das Engagement für die europäische Integration mit einem guten partnerschaftlichen Verhältnis zur Kommission und nicht nur zu Paris, London, Madrid oder Rom, sondern vor allem zu den kleineren Mitgliedstaaten.

Viertens: Eine möglichst enge Partnerschaft mit Washington als unserem engsten Verbündeten in der NATO, dem entscheidenden Garanten unserer Sicherheit und Freiheit in Europa, aber auch ein gutes Verhältnis mit Moskau und Peking.

Diese vier Eckpfeiler sollten nie als eine exklusive Ausrichtung der Politik oder eine Vernachlässigung unserer Interessen gegenüber anderen Ländern und Regionen der Welt missverstanden werden.

Man müsste hier, auch durch die Geschichte geprägt, viele Beispiele nennen.

Hervorzuheben ist das Verhältnis zu dem Staate Israel, eine Beziehung, die seit Konrad Adenauer immer ein ganz besonderes Gewicht für die deutsche Politik und Außenpolitik gehabt hat und unverändert hat – eine Beziehung, die wie Helmut Kohl auch mir besonders am Herzen lag und der immer wieder ein ganz besonderer Einsatz galt. Ähnliches gilt für das Verhältnis zu Polen, aber auch zu anderen Nachbarn wie Luxemburg oder die Niederlande.

2. Deutschland – Frankreich – und die „anderen Partner“?

Für Helmut Kohl war die Beziehung zu Frankreich Grundlage und Schlüssel der europäischen Einigung. Was aber in keinem Falle für ihn bedeutete, das Beziehungsgeflecht und die Qualität des Verhältnisses zu den anderen Partnern zu vernachlässigen, im Gegenteil!

Ich widerstehe der Versuchung, die Grundlagen und Entwicklung deutscher Europapolitik anhand der deutsch-französischen Gipfelbegegnungen und -konsultationen sowie Ministerräte von Mitte der 80er Jahre, wie ich sie erlebt habe, nachzuvollziehen. Auf die eine oder andere Begegnung werde ich eingehen müssen, ich möchte den roten Faden vielmehr durch die Themen und führenden Persönlichkeiten finden.

Wir waren uns immer bewusst, dass ohne eine deutsch-französische Verständigung die europäischen Herausforderungen nicht zu bewältigen sind. Ebenso klar war es uns auch, dass eine gemeinsame deutsch-französische Haltung für die Gesamtheit der Mitgliedstaaten nicht automatisch akzeptabel sein muss. Und doch war es uns immer offensichtlich, dass von der Fähigkeit Deutschlands und Frankreichs zu einem tragfähigen Kompromiss die Zukunft der europäischen Integration abhängig ist. Dies gilt heute in einer Union von 28 bzw. 27 Mitgliedstaaten unverändert, vielleicht sogar noch stärker als damals.

Ist nicht alles schon über dieses Verhältnis gesagt? Über diese schicksalhafte Beziehung im Herzen Europas, diese über Jahrhunderte so oft über Krieg und Frieden entscheidende Nachbarschaft ist wahrscheinlich mehr als über jede andere Beziehung zwischen zwei Ländern gesagt und geschrieben worden.

Diese beiden Nachbarn, die zuweilen in den Medien verklärt als – wenn auch atypisches – (Ehe-)Paar bezeichnet werden, sind immer seitens der Medien, vor allem auch seitens der Partner immer mit größter Aufmerksamkeit und kritischem Argwohn beobachtet worden.

Immer wenn es in Europa gut lief und Deutschland und Frankreich sich mit gemeinsamen Initiativen an die Spitze der Bewegung stellten, so sprach man in manchen Ländern fast automatisch vom Risiko eines schädlichen Direktoriums.

Immer wenn sich Europa in einer krisenhaften Lage befand und die beiden Partner nicht einig waren, so war die Kritik nicht weniger deutlich – die Partner warfen dem Tandem vor, es vernachlässige seine gemeinsame europäische Verantwortung. Man kann auch ernüchternd feststellen, recht werden wir es niemandem machen können, versuchen wir daher grobe Fehler so weit irgend möglich zu reduzieren.

Die deutsch-französische Annäherung und Aussöhnung hat es nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubt, das europäische Einigungswerk in Gang zu setzen und es bis weit in die 90er Jahre entscheidend vorangebracht.

Deutschland und Frankreich haben alle Fortschritte der europäischen Einigung bis hin zu den Verträgen von Maastricht und Amsterdam zum Teil durch spektakuläre Initiativen trotz oft gegensätzlicher Interessen und Persönlichkeiten immer wieder wesentlich gefördert bzw. den notwendigen Kompromiss möglich gemacht. Natürlich steckte hinter Initiativen oder Kompromissen angesichts widerstreitender Interessen und Standpunkte oft genug ein gehöriges Maß an Kraftanstrengung und politischem Willen aufeinander zuzugehen, und zwar auf beiden Seiten.

Dies galt nicht nur für das Zusammenwirken auf europäischer Ebene, sondern auch für das bilaterale Verhältnis, für besondere Gesten wie der gemeinsame Besuch in Verdun 1984, aber auch für Anstöße zur Vertiefung der Zusammenarbeit. Man denke z.B. an ARTE, an den deutsch-französischen Kulturrat, den Verteidigungs- und Sicherheitsrat, die deutsch-französische Brigade oder an den Finanz- und Wirtschaftsrat.

Zuweilen war die innenpolitische Seite in Paris oder Bonn-Berlin auch damit nicht oder nicht ganz einverstanden. Der Erfolg hat uns indes recht gegeben. Besonderes Beispiel auf europäischer Ebene ist die Wirtschafts- und Währungsunion. Die deutschen und französischen Positionen standen sich zu Anfang der Arbeiten in der Sache unversöhnlich gegenüber, Helmut Schmidt und Valéry Giscard d'Estaing schienen zehn Jahre zuvor mit dem EWS das politisch mögliche erreicht zu haben. Die Franzosen versuchten zunächst, uns auf die Probe zu stellen, immer wieder Forderungen einzubringen, die für sie natürlich, für uns aber unannehmbar waren. Sie mussten einsehen, dass dieses Thema unseren Kompromissspielraum aufgrund seiner innenpolitischen Sensibilität nahezu auf Null schrumpfen ließ – und dass sie vielleicht doch besser damit fahren würden, wenn sie unserem Modell folgten.

Oder die Energiepolitik. Auch hier konnten – können auch heute noch – die Grundlagen und Perzeptionen nicht gegensätzlicher sein, dort das Land mit staatlich gelenkter Energiepolitik, mit Electricité de France, EDF, als der beherrschenden Staats-Gesellschaft, mit der Kernenergie als dem großen Energielieferanten – hier das Land mit den großen vier Energieversorgern, Oligopolen, mit den Stadtwerken, mit der tiefen Skepsis ja Angst vor der Kernenergie, mit der psychologisch überhöhten Stellung der Kohle, der besonderen Rolle des Gases (Russland!) und vor allem der erneuerbaren Energie – Wind und Sonne – als Fetisch! Ja, dies ist meine Kurzbeschreibung der Lage im Energiebereich! Komplizierter geht es kaum!

In den neunziger Jahren versuchten wir – der Freund und Kollege Sighart Nehring und ich – mit den Franzosen, einen „historischen“ Kompromiss zur Öffnung und Liberalisierung des europäischen Energiemarktes zu erreichen. Wir diskutierten stundenlang mit den Kollegen, loteten Möglichkeiten eines Kompromisses aus, hielten Rücksprache mit Verbänden, mit den Bundesländern, mit anderen Partnern. Wir schlugen schließlich den Franzosen einen stufenweisen Ansatz, Privat- und Industriekunden unterscheidend, vor, den die Franzosen dann nach einem gewissen Zögern zu Hause vertreten konnten, und der zur Richtschnur für den Kompromiss in Brüssel wurde. Es war übrigens Otto Wiesheu, der damalige bayerische Wirtschaftsminister, der uns auf diesen Pfad gebracht hatte.

Im Nachhinein muss ich freilich offen eingestehen, dass der damals gewählte Ansatz uns einer gemeinsamen europäischen Energiepolitik nicht näher gebracht hat, schade! Und ich musste Jahre später von außen, zugleich als Vertreter eines in dieser Branche tätigen großen Unternehmens, mitansehen, dass uns in Deutschland die erste – wie auch später die zweite – „Energiewende“ uns diesem Ziel auch nicht näher gebracht hat, im Gegenteil!

Und doch wartet Europa unverändert auf den „historischen Energie-Kompromiss“ zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen dem Land, das an der Kernenergie festhält und dem, das stattdessen auf erneuerbare Energien setzt. Ein solcher – wünschenswerter und durchaus möglicher „historischer“ Kompromiss setzt freilich den Respekt vor der Wahl des Partners voraus und den Willen, gemeinsam Energieeffizienz und erneuerbare Energien zu entwickeln.

Die letzte EU-Kommission um Jean-Claude Juncker schien weitaus mehr als ihre Vorgänger, vielleicht auch dank der Vorarbeit seitens des von vielen so geschmähten und unterschätzten Kommissars Günther Oettinger, willens, einen gemeinsamen Energiemarkt und eine „Energie-Union“ in die Tat umzusetzen. Und doch, Fortschritte sind bis heute mehr als beschränkt! Unterschiedliche Auffassungen und Herangehensweisen, unterschiedliche Traditionen und Geschichten, systemimmanente Schranken – und vor allem unterschiedliche Perzeptionen sind geblieben und bereiten zunehmend Schwierigkeiten.

Ein ähnliches, zugleich ganz besonderes Beispiel ist die nukleare Verteidigung, ein Kapitel, in dem man mehr von außen eine im Grunde im Innern durchaus vorhandene Zwietracht mit Hilfe von Unterstellungen zu verstärken suchte.

Manche versuchten – ohne Erfolg – uns zu unterstellen, die Regierung Kohl habe trotz des klaren Verzichts auf Nuklearwaffen durch die Hintertür eine Beteiligung gesucht. Die Linie war immer klar, keine eigenen Waffen, aber Beteiligung im Sinne einer Teilhabe durch Einbeziehung in Konsultationen bzw. gemeinsam mit anderen Alliierten Unterstützung der Amerikaner beim Einsatz.

Für Präsident Mitterrand war der amerikanische Schutz Grundlage der Abschreckung des Westens gegen die Sowjetunion, die französischen Waffen waren auch wohl für ihn in Wahrheit komplementärer Natur. Frankreich wollte nicht allein von der amerikanischen Politik abhängig sein.

Zugleich verstand er, dass Frankreich, allein auf sich gestellt nicht nukleare Schutzmacht für Deutschland sein konnte. Er hatte aber Verständnis, ohne dass die Deutschen insoweit nachhaken mussten, für die kritische Lage für Deutschland als damaligem „Frontstaat“, vor allem in Bezug auf den möglichen Einsatz der französischen nuklearen Gefechtsfeld- oder Kurzstreckenwaffen im Rahmen der Vorneverteidigung des französischen Territoriums. Stichworte „Pluton“ und „Hades“! Von daher bot er dem Bundeskanzler Konsultationen vor einem eventuellen Einsatz an – dies bei einer Frage, die für beide Seiten von hoher politischer Sensibilität war. Klar war immer, dass das letzte Wort über den Einsatz beim französischen Präsidenten blieb. Eine Diskussion über Sinn und Zweck der französischen Nuklearverteidigung – über Sinn und Zweck des Plateau d'Albion, der Luft- und U-Boot-gestützten Nuklearwaffen war, so hoch interessant, nur außerhalb des klassischen Rahmens von Konsultationsgesprächen möglich. Die Gefechtsfeldwaffen von damals sind abgerüstet – und doch liegt das Thema heute wieder zu Recht auf dem Tisch.

Angesichts der Unsicherheiten um die amerikanische Politik hat der französische Präsident Emmanuel Macron angeregt, Gespräche über eine europäische Teilhabe mit Hilfe von Konsultationsmechanismen aufzunehmen. Und Berlin tut sich leider unverändert schwer mit dieser Frage, leider mit zum Teil einem Denken, das fern der Realität ist.

„Deutschland-Frankreich“ war in vielen Bereichen ein „Geben und Nehmen“, ohne aber bewusst den Partner nicht zu überfordern. Kritische Phasen wurden so gemeinsam überwunden, auch wenn wir nicht immer sofort die „Ideallinie“ fanden.

Grundlage für solche gemeinsame Vorgehensweisen bildete ein über Jahre aufgebautes Vertrauensverhältnis zwischen den Spitzen beider Seiten, das dem Partner letztlich die Sicherheit gab, nicht benachteiligt oder überfordert zu werden. Daraus sind über die Jahre auch Freundschaften erwachsen, ob zwischen Beamten oder Politikern. Helmut Kohl stand in all den Jahren zwei französischen Politikern besonders nahe – François Mitterrand und Jacques Delors. Über letzteren wird im Rahmen der Europa-Politik zu sprechen sein.

Zwei Präsidenten, neun Premierminister

Ich möchte auf das Verhältnis zu den beiden Präsidenten François Mitterrand und Jacques Chirac näher eingehen, zugleich aber auch die neun Premierminister Frankreichs nicht vergessen, mit denen es Helmut Kohl zu tun hatte.

Helmut Kohl hat in den sechzehn Jahren seiner Kanzlerschaft insgesamt neun Premierminister an der Seite von zwei Staatspräsidenten erlebt, einige davon waren, wie man in Frankreich gerne sagt, präsidentiabel – und nur ein einziger schaffte es schließlich, und das war Jacques Chirac, im dritten Anlauf!

Dies sagt aber nichts über das für den Partner nicht leicht zu durchschauende Verhältnis zwischen Staatspräsident und Premierminister. Vor der ersten „Cohabitation“ mit Chirac hatte Helmut Kohl bereits zwei Premierminister „erlebt“ (Pierre Mauroy und Laurent Fabius), in meiner Zeit sollten unter Mitterrand fünf weitere hinzukommen (Jacques Chirac, Michel Rocard, Edith Cresson, Pierre Bérégovoy, Edouard Balladur) sowie dann unter Chirac selbst zwei: Alain Juppé und Lionel Jospin.

Der Bundeskanzler bezeichnete sich bei der dritten Cohabitation dann öfters scherzhaft als „Spezialisten“ im Umgang mit diesem französischen Phänomen, das mit den Koalitionsregierungen im deutschen Sinne nicht vergleichbar ist. Naturgemäß standen die Premierminister politisch und verfassungsmäßig im Schatten des Präsidenten, der eine oder andere versuchte es trotzdem, sich einen gewissen Freiraum zu verschaffen oder zu erkämpfen. Dies galt besonders in Zeiten der Cohabitation für Chirac selbst, für Edouard Balladur und für Lionel Jospin, aber auch in Zeiten „gleicher politischer Flagge“ für Michel Rocard oder Alain Juppé.

Trotzdem suchte der Bundeskanzler, soweit möglich, zu dem einen oder andern ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. Ich denke insoweit besonders an Michel Rocard oder Alain Juppé, mit denen ich mich selbst freundschaftlich verbunden fühle, auch wenn sie ganz unterschiedliche Persönlichkeiten waren bzw. sind.

Mit Michel Rocard bin ich nach seinem Ausscheiden „warm“ geworden, ich musste erst die besondere Persönlichkeit dieses Mannes kennen und schätzen lernen. Er wurde für mich zu einem älteren Freund, mit dem die Diskussion, ja der politische Disput immer eine Freude war. Er entpuppte sich als ein „Querdenker“, der die Diskussion, ja den inhaltlichen Disput zur Sache suchte, vom Inhalt her eher ein skandinavisch geprägter Sozialdemokrat, der einsehen musste, dass sich seine Partei nicht in diese Richtung entwickeln ließ. Die regelmäßigen Gespräche mit ihm bis zu seinem Tode im Jahre 2016 waren jedenfalls immer ein Vergnügen! Gerade die Gegensätze in der französischen Parteienlandschaft und Führungsstruktur, die einfach mit der deutschen politischen Kultur in keiner Weise vergleichbar oder vereinbar sind, waren für uns wie für andere aber nicht leicht zu handhaben.

François Mitterrand

Wer hätte gedacht, dass zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten, ein auf den ersten Blick so gegensätzliches „Paar“ wie Francois Mitterrand und Helmut Kohl, ein Tandem und in gewisser Weise auch Freunde werden sollten, die verantwortlich waren für den späteren europäischen Aufschwung und die Europa immer wieder auf das richtige Gleis setzten.

Ich habe diese Beziehung oft als „europäische Komplizenschaft“ („complicité européenne“) bezeichnet, ein Wort, das in der Sprache unseres Nachbarn nicht nur den negativen Beigeschmack wie in der deutschen Sprache, sondern vor allem auch positiv im Sinne einer „gemeinsamen Verschwörung“ für eine gute Sache verstanden werden kann.

Oft genügte bei Europäischen Räten ein Satz, ein Stichwort, das der andere – auch wenn er wie Mitterrand gerade dabei war, seine legendären Ansichtskarten zu schreiben – dann aufnahm und den Faden fortspann, die politische Idee weiterentwickelte. Es gab aber auch immer wieder Rücksichtnahme des einen auf die politischen Grenzen oder Sensibilitäten des Partners.

Regelmäßig machte die Geschichte auch nicht halt vor seinen Gesprächen mit anderen Staats- und Regierungschefs, vor allem mit Präsident Mitterrand. Die beiden redeten ausgesprochen gern über Geschichte, ob es um den Widerstand während der Besetzung Frankreichs ging oder über den Algerienkrieg, um nur einige Themen zu nennen.

Zu vorgerückter Stunde konnte es dann passieren, dass Hubert Védrine auf die Uhr schauen musste und vorsichtig bekannte: „Herr Bundeskanzler, Herr Präsident, in einer Stunde (oder in einer guten halben Stunde) wird die Presse auf Sie warten“.

Daraufhin kam dann der Kommentar, zumeist von Mitterrand: „Ach ja, schon? Das Gespräch war jetzt viel interessanter als Euer Technokraten-Zeug“. Na gut – wir trugen dann vor, was wir vorbereitet hatten. Dann haben wir zusammen mit den beiden Chefs konzentriert die Tagesordnung durchgearbeitet. Das war nicht weiter schlimm, da sich die beiden gut kannten, ergänzten und wussten, wo evtl. Probleme und Fallen lauern könnten. Die beiden gingen raus vor die Presse und haben in Kurzform über die wesentlichen Sachthemen berichtet frei nach dem unausgesprochenen Motto: „Für weitere Fragen stehen die Herren Védrine und Bitterlich zur Verfügung.“ Das gute war, Hubert Védrine und ich, wir verstanden uns ausgezeichnet. Und an solchen Abenden haben wir Geschichte, auch vieles persönliches über unsere Chefs und ihren Lebensweg gelernt.

Eines dieser Beispiele war der Algerien-Krieg, die ausstehende Aussöhnung Algerien-Frankreich. Auf Bitten von Helmut Kohl berichtete Mitterrand ohne Umschweife über das schwierige Verhältnis zum „früheren Departement“, seine Hintergründe und unerledigten Probleme. Unter Hinweis auf die Aussöhnung mit Frankreich und Polen bot der Bundeskanzler offen seine Mithilfe in Bezug auf Algerien an, wenn Frankreich dies wünsche. François Mitterrand schien nicht abgeneigt, doch die politische Klasse Frankreichs mochte von einer solchen Hilfestellung nichts wissen, und der Präsident war in der letzten Phase seiner zweiten Präsidentschaft zu geschwächt und durch seine Krankheit gezeichnet, um diesen Widerstand zu überwinden. Helmut Kohl interessierte sich als Politiker und Historiker für dieses hoch sensible, schwierige Kapitel französischer Geschichte und Gegenwart – und so stand dieses Thema zum Beispiel im Mittelpunkt eines faszinierenden Meinungsaustauschs mit dem marokkanischen König Hassan II Anfang Juni 1996 in Rabat. Hassan II war sich mit Helmut Kohl darin wohl einig, dass die Hilfe von Freunden zur Überwindung der inneren Blockaden in Frankreich nützlich sein könnte.

Bei den Gesprächen sprach Mitterrand auch offen seine Jugend an, er, der aus einer rechten, katholisch geprägten Familie stammte, in Vichy mitgemacht hat und dann in den Widerstand ging. Védrine und ich hatten das Vergnügen, das bekannte Buch von Pierre Péan ein halbes Jahr vor Erscheinen kennen zu lernen. Kohl und Mitterrand diskutierten über ihre Jugendzeit, über Familiengeschichte und Mitterrand über seine Flucht aus Deutschland.

Die Legendenbildung um die Feierlichkeiten anlässlich der 50. Wiederkehr der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1994 sind ein anderes typisches Beispiel für die Sensibilitäten im deutsch-französischen Verhältnis, aber auch für das persönliche Verhältnis Kohl-Mitterrand. Um die Nicht-Teilnahme des Bundeskanzlers haben sich – bis heute – eine Reihe von Legenden gerankt. Eine SPIEGEL-Anfrage anlässlich des runden Feiertages 2004 – an dem Bundeskanzler Gerhard Schröder teilnahm – hat mir dies eindrucksvoll vor Augen geführt.

Ich erinnerte mich in den groben Zügen an jene Umstände. Klar war mir, dass es eine echte Einladung nicht gegeben hatte. Hubert Védrine hatte bei mir vorsondiert, ob der Bundeskanzler eventuell an einer Einladung interessiert sein könnte. Und der französische Präsident stellte dem Bundeskanzler direkt die gleiche Frage, die der Bundeskanzler in etwas wie folgt beantwortete, er sei sich der Bedeutung einer solchen Geste seitens des Präsidenten mehr als bewusst, frage sich aber, ob diese dem Präsidenten nicht Schwierigkeiten bereiten könne, zumindest noch gegenüber einzelnen Verbänden und Ländern. Aus der Sicht vieler seien die Wunden noch nicht vollständig verheilt.

Und es sei angemerkt, die Normandie war mit Verdun nicht vergleichbar! Noch 1966 anlässlich der 50-Jahrfeier der Schlacht von Verdun, auf dem Höhepunkt der Freundschaft zwischen de Gaulle und Adenauer dachte de Gaulle nicht daran, Adenauer einzuladen. 1984 erst schien die Zeit für eine solche Einladung reifer. Genau wie man bis hin zu gemeinsamen Forschungsvorhaben nochmals 30 Jahre brauchte! Damit war das Thema aber nicht erledigt! Mitterrand antwortete dem Bundeskanzler, er danke ihm für seine offene Antwort, er wolle jenen Tag daher gerne mit einer besonderen Geste an das deutsche Volk verbinden – und so entstand die Idee eines großen deutsch-französischen Jugendtreffens zwei Tage später in Heidelberg!

Interessant genug, dass der SPIEGEL-Redakteur mir dann bedeutete, dies alles stimme mit seinen Recherchen überein. Die „Story“ wurde dann aber in der Ausgabe des SPIEGELS nur am Rande erwähnt, sie passte halt nicht ganz in das Bild der Hamburger Redaktion. Noch erstaunter war ich, als der Redakteur mir dann die „Materialien“ seiner Recherchen überließ: Ich fand darin Papiere aus verschiedenen Häusern der Bundesregierung, die den Kern der Frage des Journalisten nicht beantworteten, aber auf einer bestimmten Perzeption – eine Einladung muss wohl erfolgt sein – aufbauten! Wir waren damals wohl zu diskret bei der Behandlung dieser Frage.

Hinzufügen muss man, dass sich dieses deutsch-französische „Paar“ damals auf ein zweites Tandem innerhalb der Regierungen stützen konnte, das nicht weniger unterschiedlich war als die beiden Chefs selbst, auf die beiden Außenminister Roland Dumas und Hans-Dietrich Genscher. Beide waren keine „gewöhnlichen“ Kabinettsmitglieder, sondern hatten jeder auf seine Weise eine besondere Stellung und eine „eigene Agenda“. In den ersten Jahren habe ich in Paris, soweit irgend möglich, auch regelmäßig im Kabinett von Roland Dumas vorbeigeschaut und mit seinem Kabinettsdirektor, Bernard Kessedjan, den ich in Brüssel kennen und schätzen gelernt hatte, gesprochen. Nicht selten kam Roland Dumas für einen Café dazu.

Ein anderes Beispiel ist der in Frankreich wohl kaum hinreichend bekannte 20. Juli 1944. Mitterrand war einmal zu den regelmäßigen offiziellen Konsultationen in Bonn und Helmut Kohl erzählte ihm, er habe eben einen Gast bei sich gehabt. „Vielleicht interessiert Sie dieser Gast. Er ist der letzte Überlebende des 20. Juli 1944, Ewald von Kleist. Würde es Sie interessieren, ihn zu treffen?“ – „Gerne!“

Daraufhin wurde Ewald von Kleist gesucht, er war zuvor beim Bundeskanzler und verließ gerade das Kanzleramt – er wurde an der Wache vom Bundesgrenzschutz gestoppt. Er möge bitte sofort zurück zum Kanzler kommen. Ewald von Kleist hat dann zunächst im Beisein von Kohl, die Mitarbeiter gingen raus, in der Folge mit Mitterrand alleine gesprochen, der sich die Geschichte des Ewald von Kleist und des Widerstands des 20. Juli angehört hat.

Mitterrand bekam seine, ihn faszinierende deutsche Geschichtsstunde. Bei dem Gespräch mit Kleist fasste sich nach einer Stunde der Leiter des Kanzlerbüros, Walter Neuer, ein Herz und fragte vorsichtig nach: „Herr Bundeskanzler, die Delegationen, auch der Premierminister werden unruhig. Die haben schon gemeint, es gibt eine Krise zwischen uns. Sie haben jetzt schon eine Stunde überzogen.“

Kern um den Präsidenten und den Bundeskanzler waren die engen Mitarbeiter – eine französische Wochenzeitung bezeichnete uns in jenen Jahren als „Musketiere“ – das waren in den „Mitterrand“-Jahren zunächst Horst Teltschik bzw. Peter Hartmann und Jacques Attali, Jean-Louis Bianco und vor allem Hubert Védrine, die „Conseiller diplomatique“ Pierre Morel, Jean Musitelli, die „Europa-Berater“ Elisabeth Guigou und ihre Nachfolger Sophie-Caroline de Margerie bzw. Thierry Bert, später in der Zeit von Jacques Chirac waren dies Jean-David Levitte, Pierre Ménat und Jean-François Cirelli – auf unserer Seite natürlich Johannes Ludewig und sein Nachfolger Sieghart Nehring, aber auch Walter Neuer, der Leiter des Kanzlerbüros, gehörte genauso zu diesem engeren Kreis.

Die „complicité“ unserer Chefs galt auch für uns. Wir waren angesichts unterschiedlicher Interessen oft unterschiedlicher Auffassung, verfolgten unterschiedliche Ansätze und Methoden, wir diskutierten aber Inhalte, wenn notwendig streitig und intensiv, bis wir Ansätze zu einem gemeinsamen Vorgehen sahen, die zugleich den Partner nicht überforderten. Wir „erduldeten“ manchmal die Spötteleien unserer Chefs über unsere gemeinsame Ausbildung, die ENA – wollten es dann aber den Chefs umso mehr zeigen, dass wir es konnten!

Unvergesslich einer dieser Abende im Vorfeld von Maastricht im Elysée. Wir hatten den Chefs eine der gemeinsamen Initiativen vorgelegt. Und der Bundeskanzler schloss sich launisch dem lakonischen Kommentar des Staatspräsidenten an, dies sei ja alles schön und gut, der Text aber zu technokratisch und politisch viel zu lang. Der Hinweis des Kanzlers „ich lasse Euch den Bitterlich zur Überarbeitung da“ führte zu einer nächtlichen Neufassung. Ende der Arbeit morgens um 4 Uhr – der Elysée hatte ein Hotelbett gefunden und morgens früh ging es mit der ersten Maschine zurück nach Köln-Bonn, direkt mit dem – handgeschriebenen – kürzeren Text zum Bundeskanzler, der ihn sogleich auch billigte: „Warum nicht gleich so?“. Er hatte in der Sache recht, nur wütend – und k.o. – war ich trotzdem!

Und so wussten damals Kanzleramt und Elysée, dass ich am Rande meiner Gespräche regelmäßig eine ältere Dame aufsuchte, zumindest für einen Café. Es war Georgette Rabinowitch, die beste Freundin meiner Schwiegermutter. Sie hatte ihren Mann, einen bekannten Pariser Anwalt durch Denunziation seitens seiner ersten Frau im KZ Auschwitz verloren und während des Krieges in Paris jüdische Kinder betreut, die eines Tages trotz aller Vorsicht von der Gestapo gestellt und verschleppt wurden, sie selbst aber mit Glück und Verstand davonkam. Die Gruppe, die die Kinder betreute, war denunziert worden und die Kinder traf das gleiche Schicksal wie ihren Mann!

Und die Familie meiner künftigen Frau hatte sie bewusst zum ersten Besuch bei meinen Eltern mitgenommen. Ich war für sie der erste Deutsche, mit dem sie sprach, ja sie hatte Vertrauen in mich und wurde für mich zur „tante Georgette“ oder mütterlichen Freundin.

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
522 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783838274508
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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