Читать книгу: «Grenzgänger: Deutsche Interessen und Verantwortung in und für Europa», страница 4

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„Abwerbung“ in das Kanzleramt

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, dem ich bis dahin in meinen Brüsseler Jahren bei den verschiedenen Tagungen des Europäischen Rates eher flüchtig begegnet war, hat mir dann im Frühsommer 1987 völlig unerwartet die Chance eröffnet, im Bundeskanzleramt an seiner Seite bzw. in der von Horst Teltschik geleiteten Abteilung die Europapolitik zu betreuen.

Diese „Einladung“ zum Wechsel in das Bundeskanzleramt, die mir der damalige Staatsekretär Jürgen Sudhoff eröffnete, brachte mich in eine „Zwickmühle“. Sie kam unerwartet und war zudem ungewöhnlich, als ich doch damals Mitarbeiter im direkt dem Bundesminister des Auswärtigen unterstehenden Leitungsstab des Auswärtigen Amtes war.

Wie sollte er die „Abwerbung“ eines seiner Mitarbeiter durch den Koalitionspartner bewerten? Ich war ein viel zu kleines Licht, um daraus eine Debatte oder gar einen Streit in der Koalition zu entfachen, und doch, Genscher schien nachzudenken, er zögerte, taktierte.

Ich hatte ihm offen gesagt, ich sei 1985 seinetwegen nach Bonn zurückgekehrt und sähe meine Zukunft im Auswärtigen Amt. Ich war nach Bonn in das Ministerbüro gekommen, um für und mit Hans-Dietrich Genscher zu arbeiten. Ihm galt meine uneingeschränkte Loyalität. Er wusste, dass ich nicht Mitglied der FDP war, trotzdem schickte er mich, wenn es sein musste, selbstverständlich zu internen FDP-Sitzungen. Ob in Sachen Wirtschaft, Landwirtschaft oder Europa, so war ich zuweilen als „Beobachter“ von Hans-Dietrich Genscher dabei.

Und es war letztlich er, der mich nach einigem Nachdenken ermutigte, das Angebot aus dem Kanzleramt anzunehmen – „dies sei gut für ihn und gut für das Auswärtige Amt. Ein Mitarbeiter seines Vertrauens in der unmittelbaren Nähe des Bundeskanzlers sei für ihn wichtig. Zudem könne „der Bundeskanzler mir eine Perspektive bieten, die für ihn im Amt schwieriger sei“ waren seine Worte.

5. Über elf Jahre im Bundeskanzleramt an der Seite Kohls, 1987–98

Und so begannen im Mai 1987 über elf höchst intensive, spannende Jahre, die wie keine andere Zeit mein Berufsleben und die Zukunft prägen sollten – Jahre, die mich einem Politiker näher bringen sollten, der für mich bis dahin weitgehend fremd, dessen Haltung und Vorgehensweise im Grunde „terra incognita“ waren.

Ich war Helmut Kohl seit Herbst 1982 einige Male bei Europäischen Räten begegnet, im Gegensatz zu Hans-Dietrich Genscher hatte er bei mir kaum einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ich erinnerte mich an einen Bundeskanzler, der eher aus der Defensive operierte, der zuhörte, abwartete – im Rückblick würde ich sagen, der, sich ein Bild verschaffen, der die Akteure zunächst einmal besser kennen lernen wollte.

Ich brauchte Zeit, um sein Vertrauen zu gewinnen – und zugleich musste ich ihn kennen lernen, um mit ihm, seinem Stil, seiner Arbeitsweise zurecht zu kommen. Er war zunächst misstrauisch, abwartend, aber doch einladend und zugleich testend, zudem fordernd. Die „Probezeit“ dauerte rund ein halbes Jahr, bis erste echte Herausforderungen auf mich zukamen.

Daraus wurden über elf faszinierende Jahre, mitunter harte Lehrjahre, zunächst sechs Jahre Europapolitik, dann fünf Jahre die Herausforderung – aus meiner Sicht das höchste, schönste und herausforderndste Amt für einen Beamten des Auswärtigen Amtes, die Leitung der Abteilung für Außen-, Sicherheits- sowie Entwicklungspolitik im Bundeskanzleramt – kurz gesagt, der europapolitische, diplomatische und sicherheitspolitische Berater des Bundeskanzlers, für die Amerikaner der „national security advisor“ – eine im Geflecht der europäischen Länder einzigartige Position.

Über elf Jahre intensiver, spannender Arbeit, Arbeitszeiten waren ein Fremdwort. Es waren Jahre epochaler Ereignisse sei es die deutsche Wiedervereinigung oder die Verhandlungen um Maastricht oder Amsterdam oder der Weg hin zur europäischen Währungsunion.

Ein Bundeskanzler und Chef – ganz anders als gedacht

Dr. Helmut Kohl entpuppte sich als ein ganz anderer „Chef“, als ich dies erwartet hatte. Anspruchsvoll, oft unbequem, immer wieder das politisch-strategische Vorausdenken fordernd, nie von einer Zuarbeit allein abhängig, sich oft auf mehrere voneinander unabhängige „Quellen“ stützend, sowie auf seine Erfahrung, seinen politischen Instinkt – der die Jugend oft genug bremsen, korrigieren, aber auch ermutigen sollte.

Er war ein Mann, der unter vier Augen klar Widerspruch forderte und akzeptierte, der oft genug bereit war, erste Reaktionen oder Tendenzen zu hinterfragen, sie auch zu revidieren.

Er war zugleich eine hoch sensible Persönlichkeit, vor allem in Bezug auf Loyalität, immer auf der Hut, er war ein Mann, der in der Regel jovial, freundschaftlich gegenüber seinen engen Mitarbeitern war, ja Zuneigung ausdrückend, mitunter auch frotzelnd, derb, grob, sich in Bildersprache ausdrückend, zuweilen polternd, ja auf den ersten Blick verletzend – ich lernte erst mit der Zeit, wie ich damit umzugehen hatte, wie ich den „Ausbruch“ einzuschätzen hatte, dass es in Wahrheit zumeist gar nicht so gemeint war.

Als reine Provokation musste ich das „Pamphlet“ von Heribert Schwan „Vermächtnis – die Kohl-Protokolle“ empfinden. Seine Enttäuschung über das aufgekündigte Arbeitsverhältnis kann die unter klarem Bruch von Vereinbarungen erfolgte Veröffentlichung einer Zitatensammlung, die zudem immer wieder sichtbar aus dem Zusammenhang gerissen und nicht nur willkürlich erscheint, in keiner Weise rechtfertigen. Ich kann sie nur als gezielte verächtliche Verunglimpfung von Helmut Kohl, seiner Politik und Lebensleistung empfinden. Es hat mit einer politisch-historischen Auseinandersetzung mit der Kanzlerschaft Helmut Kohls nichts zu tun.

Bei Lektüre der „Zitatensammlung“ Schwans habe ich mich gefragt, ob Schwan – der doch einige Jahre als „Ghostwriter“ an verschiedenen Werken mit Helmut Kohl gearbeitet hat – ihn wirklich je verstanden hat? Wäre dies der Fall, so hätte er gewusst, wie er die mitunter derben Einlassungen des Bundeskanzlers einzuordnen und wie er vor allem damit umzugehen hat! Auch ich habe dies über die Jahre erst lernen müssen. Man musste sich bei der von Helmut Kohl oft benutzten Sprache, zuweil in Bildern, immer wieder vor Augen führen und darüber nachdenken, warum er gerade dieses Bild und nicht ein anderes gebrauchte – und vor allem was er in der Sache damit meinte. Nicht nur die Bildersprache bedurfte des Nachdenkens, des Innehaltens, der Interpretation. Dies gilt auch für seine Sprache, oft umständlich, zuweilen schwer verständlich und doch letztlich klar.

Kohl war selten ein guter Rhetoriker, seine Stärke waren die Debatten und das Erklären von Zusammenhängen und der daraus abzuleitenden Konsequenzen. Selbst für erfahrene Konferenzdolmetscher waren Helmut Kohl und seine Sprache regelmäßig eine Herausforderung – und es gab nur wenige, die dies mit Bravour schafften.

Helmut Kohl bestand darauf, mit ihm im Gespräch „Klartext“ zu sprechen. Er mochte lange schriftliche Vorlagen nicht, suchte eher das Gespräch. Ich habe damals den Stil der Vorlagen an den Bundeskanzler für Gespräche und wichtige Begegnungen wesentlich verändert. Entsprechend dem, was ich in Paris an der ENA gelernt hatte, habe ich eine Zusammenfassung, eine Übersicht in Stichworten auf einer Seite vorangestellt bzw. einen knappen Gesprächsleitfaden. Und dem folgte dann eine längere Aufzeichnung mit der Erläuterung der Fragen und Problemstellungen im Einzelnen. Manche nennen das heute fortschrittlich neu-deutsch den „one pager“. Nun gut, ein copyright habe ich nie dafür beansprucht, mir ging es um Arbeitserleichterung für einen Mann, der weiß genug um die Ohren hat. Die Vorlagen an Helmut Schmidt, die ich in der Registratur entdeckte, über 20, 30 Seiten und mehr schienen mir für einen Bundeskanzler unzumutbar.

Helmut Kohl akzeptierte „meine“ Methode rasch, er sagte mir zwar, für Einzelheiten könne ich ja, wenn es sein muss, dann übernehmen, gelesen hatte er aber immer die gesamte Vorlage. Aber er nahm sich auch komplexe Texte, ob in der Europa- oder internationalen Politik, vor, arbeitete sie durch, hakte nach, stellte Nachfragen – und konnte vor allem eines nicht leiden: diplomatisches Gerede um den Kern eines Problems herum!

Mitunter nannte er mich den „Sklaventreiber“. Ich gab ihm öfters kurze, zuweilen auch handschriftliche Notizen mit Fragen oder Ideen ins Wochenende. Ich brauchte einfach seine Reaktion, um in wichtigen Streitfragen voran zu kommen. Und oft endete dies Montagabend im Gespräch und „brainstorming“....

Der engere Kreis war für ihn zugleich willkommenes Ventil, oft für einen kurzen Moment oder eine gegebene Situation. Stunden später war der Fehler verziehen, die Attacke vergessen. Gerade in solchen etwas schwierigen Momenten war es oft genug Juliane Weber, die sich zuspitzende Momente abfederte, dem Betroffenen, wenn sie ihn mochte, ausgleichend, helfend zur Seite stand. Sie war nicht nur eine hervorragende Leiterin seines Büros, sondern in gewisser Weise die „Seele“ des Teams um Helmut Kohl.

Patriarch – Patron – „pater familias“

Wenn ich zurückdenke, ist der erste Begriff, der mir zur Beschreibung der Persönlichkeit von Helmut Kohl einfällt ist Pater Familias im alten lateinischen Sinne, ein Patriarch. Er behandelte seine engere Mannschaft im Grunde wie eine Familie.

Man konnte auch mit einem persönlichen Problem zu ihm gehen, ihn um Rat fragen. Er konnte zuhören, man konnte mit ihm im kleinen Kreis offen gemeinsam nachdenken, unter vier Augen konnte man auch die herrschende Meinung attackieren, querdenken war insoweit nicht nur erlaubt, sondern erbeten.

Zugleich war er der Bundeskanzler, der uneingeschränkte „Patron“ im guten Sinne dieser klassischen – französischen wie deutschen – Definition. Was er nicht duldete, war es, auch nur indirekt, seine Autorität in Anwesenheit von Dritten bzw. in einem etwas erweiterten Kreis in Frage zu stellen. Ich bin zwei, drei Mal in all den Jahren gerade in diese Falle gerauscht. Ich hatte es gewagt, ihm im Beisein des „erweiterten Kreises“ vorsichtig zu widersprechen bzw. ihn auf einen anderen Pfad zu locken, da ich bemerkt hatte, dass er sich einfach geirrt hatte.

Leider neige ich dann auch dazu, Recht haben zu wollen, anstatt zu schweigen und Diplomat zu sein. Folge waren dann nicht nur einmal schwere Wochen, bis er dann die Entschuldigung akzeptierte – nachtragend war er dann aber auch nicht. Ich hoffe, er sieht es mir nach, wenn ich auch ihn letztlich als einen väterlichen Freund bezeichne.

Frei nach Max Weber – „Politik als Beruf“ – verfügte Helmut Kohl über die drei entscheidenden Qualitäten des Politikers: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß! Hinzu kam eines: Helmut Kohl hatte längerfristige Zielvorstellungen, eine gewisse Vision – oder besser gesagt einen Kompass für seine politischen Vorstellungen. Dies galt insbesondere auch für die Grundparameter seiner Europa- und Außenpolitik wie für die Stellung Deutschlands in diesem Gefüge.

Prägende Erlebnisse, besondere Themen, Überzeugungen

Ich möchte versuchen, der Persönlichkeit Helmut Kohls und seinen politischen Überzeugungen, seinem Handeln mit Hilfe einer Reihe von konkreten Beispielen, Erlebnissen näher zu kommen; auf einige wird an anderer Stelle konkret einzugehen sein.

Helmut Kohl war hochgebildet, im Gegensatz zu dem, was manche Journalisten verbreitet haben. Er versuchte aber zugleich, dies in eine Sprache zu übersetzen, die der Bürger, der Wähler auch verstehen konnte – eine Fähigkeit, die manchen Politikern heute abhandengekommen scheint. Für viele Angehörige der Bonner Szene und des Auswärtigen Amtes blieb er der Mann „aus der Provinz“., für manche Journalisten „Kohl = Birne“.

Ich kann dazu nur Alice Schwarzer zitieren, die bestimmt nicht als CDU-nah angesehen werden kann: „Billige Komik, ganz übel. Das fand ich schon beim Umgang mit Strauss. Man sollte den politischen Gegner in der Sache kritisieren, aber nicht als Person diffamieren“.

Dass Helmut Kohl auch und gerade in der Bildungspolitik in seiner Mainzer Zeit beachtliche Reformen angestoßen und langfristige Grundüberzeugungen hatte, wurde in Bonn nicht zur Kenntnis genommen. Dies galt insbesondere für die Vernachlässigung des Schulfaches „Geschichte“, die aus seiner Sicht, als Politiker und Historiker, „zu den schlimmsten bildungspolitischen Fehlern“ gehörte. So bezeichnete Ulrich Schnakenberg 2017 (!) in der FAZ in einer bemerkenswerten Laudatio Helmut Kohls kritische und engagierte Rede vor dem Philologenverband in Bonn vom 1. Juni 1984 als „mehr als ein Dokument der Zeitgeschichte“

Beispielhaft stehen dafür auch zwei ganz einfache Begebenheiten. Bei einer der Reisen, das war Anfang der 1990er Jahre, kamen wir öfters, typisch der Pfälzer und der Saarländer, auf das Saarland, meine Heimat zu sprechen. Das lief zuweilen etwas lästerhaft ab, weil das Verhältnis der Pfälzer und Saarländer seit der Nazi-Zeit immer gespannt war. Meine letzte Rettung war dann dem Kanzler zu sagen: „Sie wissen ja, bei uns gilt das geflügelte Wort 'Auf die Bäume, die Pfälzer kommen!'“ Er kannte genau den Hintergrund der Entstehungsgeschichte dieses Satzes: Der damalige Nazi-Gauleiter saß in Neustadt an der Weinstraße, er war ab 1935 auch zuständig für das Saargebiet. „Heim ins Reich“ wollten die Saarländer schon, sich von einem Pfälzer regieren zu lassen, ging für sie aber doch zu weit.

Ich erzählte dem Bundeskanzler, es hätte im Landtag in Saarbrücken ein Kolloquium stattgefunden über die Geschichte des Saarlandes von 1945 bis zur Saar-Abstimmung 1955. Das Buch sei jüngst herausgekommen, es sei irre spannend. Ich hätte viel gelernt. Darauf Helmut Kohl: „Bringen Sie mir bitte das Buch mit, mich interessiert das.“ – „Herr Bundeskanzler, das ist halb französisch, halb deutsch. Das war ein zweisprachiges Kolloquium.“ „Ich lese das gerne!“ Er konnte Französisch lesen.

Apropos französische Sprache, wir Mitarbeiter waren oft Zuschauer eines kurzen Rundgangs von Präsident Mitterrand und Helmut Kohl durch den Garten des Elysée. Wir mussten feststellen, die beiden sprachen miteinander – was, das haben wir nie herausgefunden. Es konnte nur in französischer Sprache sein, und die beiden verstanden sich! Ich erinnere mich an einige, wenige Male, in denen er in meiner Gegenwart in französischer Sprache antwortete – freilich mir gegenüber mit dem Zusatz, Schweigen Sie darüber; wenn meine Frau oder meine Söhne dies hören, bekomme ich fürchterlichen Ärger!

Kohl hat jedenfalls das erwähnte Buch in einer Woche gelesen, inhaltlich „durchgeackert“, er gab es mir zurück und erzählte mir, wie er selbst den Wahlkampf um die Volksabstimmung des 23. Oktober 1955 im Saarland, die Spaltung innerhalb der deutschen Parteien, erlebt hatte, ja insgeheim versteckt im Vorführraum eines Kinos einem der Wahlkampfauftritte von Johannes Hoffmann zugehört hatte.

Folge war, dass ich mich weitaus intensiver mit saarländischer Geschichte beschäftigte, mit dem damaligen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann, genannt „Joho“, einem streitbaren Saarländer, Katholik und Antifaschisten, der engen Kontakt zu Robert Schuman hielt, einem der „Gründungsväter“ des modernen Europa. So wie Johannes Hoffmann hatte der in Luxemburg geborene Lothringer leidvoll die Konsequenzen von Grenzen erfahren. Schuman hatte in Paris Erfolg, für die Ideen von „Joho“ schien die Zeit noch nicht reif – auch wenn es dann weitaus schneller ging als im ersten Augenblick gedacht.

Oft genug berichtete Helmut Kohl eher beiläufig über Geschichtsbücher, die er gerade las. Er las Gute, sagte aber auch oft, dass er auch aus seiner Sicht Schlechte gefunden hatte. Kohl war für mich mehr als der ideale Rezensent. Er trug wesentlich bei mir dazu bei, mich immer wieder mit dem geschichtlichen Hintergrund von einzelnen Ländern zu befassen. Helmut Kohl interessierte sich für andere Länder.

Er versuchte bei Reisen immer wieder ein Minimum an Zeit aus dem offiziellen Programm regelrecht „herauszuschinden“, um sich einen ersten Eindruck, einen Einblick zu verschaffen, eine Ambiance, Stimmungen aufzunehmen. Zwei typische Beispiele seien erwähnt: Bei einer der Reisen nach Paris standen ein Treffen und Mittagessen mit Jacques Delors in dessen Lieblingsrestaurant am Anfang des Boulevard St. Germain auf dem Programm und dann der übliche Abendtermin im Elysée. Ich hatte nicht näher auf das Programm geschaut und mir war ein „Loch“ von gut zwei Stunden nicht weiter aufgefallen.

Als wir das Restaurant verließen, bedeutete mir der Bundeskanzler, übergeben Sie Ihre Tasche dem Fahrer, wir machen einen Spaziergang durch das Quartier Latin, wo Sie ja einmal studiert haben, und wir laufen dann bis zum Hotel Bristol in der Rue du Faubourg-St. Honoré in der Nähe des Elysée – auf gut Deutsch: einmal quer durch Paris! Der Sicherheit bedeutete er, bitte Abstand halten und uns unauffällig begleiten!

Wir wanderten durch das Quartier Latin, Helmut Kohl schaute in Buchhandlungen, Geschäfte, wurde natürlich erkannt, ich wurde zum Fotografen fürs Familienalbum. Selfies waren damals noch nicht in Mode! Wir nahmen einen Kaffee in der Nähe der Kirche von St. Germain und landeten dann auf der anderen Seine-Seite im großen, damals noch bestehenden Kaufhaus „La Samaritaine“, durch das wir in Ruhe schlenderten. Der Bundeskanzler schaute sich das eine oder andere an, verglich Preise, Herkunft und Qualität!

Er war glücklich am Ende des Spaziergangs, war er doch mal wieder dem Protokoll entronnen und hatte er doch einmal wieder wie ein Tourist oder normaler Bürger sich direkt Eindrücke verschafft.

Das andere Beispiel für Helmut Kohls Neugier war Chicago, eine faszinierende Stadt – und Helmut Kohl hatte sich wohl den bestmöglichen Führer für eine mehrstündige Rundfahrt per Bus und Boot besorgt. Es war der bekannte Architekt Helmut Jahn, der uns mit Hilfe der Architektur zugleich die Geschichte und Realität dieser Metropole vermittelte. Ich bin in der Folgezeit immer gern nach Chicago gekommen, die Stadt wurde zu einer meiner liebsten amerikanischen Städte.

Helmut Kohl war einfach neugierig geblieben, er wollte eigene Eindrücke gewinnen, über Städte, Länder und Menschen.

„Vereinigte Staaten von Europa“?

Der Historiker mag die zuweilen fehlende Schärfe oder die klare Definition, den eher generellen Charakter einiger der Vorstellungen bemängeln, die sich wie ein roter Faden durch nachstehende Betrachtungen der neunziger Jahre durchziehen. Und doch sie waren Ausdruck des Vorgehens von Helmut Kohl einerseits mit der notwendigen Realität oder Realpolitik, man kann das auch mit Fug und Recht als einen gesunden Pragmatismus bezeichnen. Dahinter steckte jedoch immer zugleich eine „Vision“, ein „Kompass“ auf längere Sicht!

Ich nenne als Beispiel eine Diskussion, die ich bald nach meinem Antritt im Bundeskanzleramt mit ihm hatte. In regelmäßigen Abständen schrieb ich ihm zusammen mit meinen Mitarbeitern und stets unter Beteiligung des Teams um Michael Mertes Entwürfe für wichtige Reden, so im Herbst 1988 eine Europa-Rede, die er in Brüssel bei den „Grandes Conférences Catholiques“ halten sollte.

Ich setzte darin bewusst ein Fragezeichen zu der seit langen Jahren bestehenden Zielvorstellung der „Vereinigten Staaten von Europa“. Mir schien der Begriff falsch, da er dazu geeignet war, Verwirrung insofern zu stiften als der Zuhörer diesen Begriff leicht mit den „Vereinigten Staaten von Amerika“ gleichsetzen würde – als ob wir in Europa eine „Kopie“ der USA erreichen wollten!

Der Bundeskanzler akzeptierte nach längerer Aussprache meine Bedenken und relativierte erstmals in seiner Rede diese Zielvorstellung. Manchen in der CDU ging das zu weit – der Bundeskanzler hielt aber an seiner Relativierung fest, setzte aber keinen neuen Begriff. Auch den von Jacques Delors geprägten Begriff „Föderation der Nationalstaaten“ machte er sich nicht zu eigen.

Er kannte auch meine Bedenken gegen den Begriff der „Europäischen Union“ und meine Vorliebe für ein Festhalten an dem Begriff „Europäische Gemeinschaft“. Er sprach stattdessen in der Folge immer wieder von „Politischer Union“, einen Begriff, den er mit seiner Initiative Ende 1989 setzte. interessanterweise steht „Politische Union“ heute für etwas anderes, für die notwendige Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion! Und genau so wenig ist es erstaunlich, dass er in den letzten Jahren seines Lebens aus meiner Sicht zunehmend einem Europa der Vaterländer nahe zu stehen schien!

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
522 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783838274508
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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