Читать книгу: «Strandtrift», страница 2

Шрифт:

Seine Schulter fühlte sich inzwischen an, als hätte jemand wild mit Sandpapier darauf herum gerieben. Der Fahrer eines Kleinbusses trat heftig auf die Bremsen und zeigte Horst anschließend seinen gestreckten Mittelfinger.

Keine zweihundert Meter trennten ihn jetzt von seiner Wohnung. Der Schmerz in seiner rechten Schulter wurde unerträglich.

Horst überquerte die Straße und sah bereits die gusseiserne Laterne, die ihm den Weg zu seiner Gasse zeigte. Von dort musste er nur einen kleinen Platz überwinden, und er war zu Hause. Aber es ging nicht mehr. Obwohl er sich schalt, die wenigen Meter auf diese Weise nicht mehr zu schaffen, obsiegte diesmal die Vernunft und Horst blieb stehen. Das Einzige, wofür er sich entscheiden musste, war, die süße Last auf die andere Schulter zu hieven. Mit zusammengepressten Lippen und hervorquellenden Augen umklammerte Horst mit beiden Händen die Holzlatte und stemmte sie über seinen Kopf auf die andere, noch unbeschadete Schulter.

Im selben Moment, als Horst schon Erleichterung in seiner rechten Schulter spürte und sich in der linken die Muskeln spannten, kam er ins Stolpern. Es war eigentlich kein halsbrecherisches Stolpern, eher ein banales Schwanken, was man leicht austarieren konnte, ohne sich ernsthaft zu gefährden. Dieses minimale Verändern einer vorher geplanten Richtung bewirkte jedoch, dass sich die Riemen von Horsts Trageutensil, die über die Holzlatte gespannt waren, fast unmerklich in Bewegung setzten und schließlich ins Rutschen kamen. Es gab einen ohrenbetäubenden Lärm.

Er versteinerte und starrte auf das Bündel zu seinen Füßen und verfolgte die wachsende rote Lache, als wäre es sein eigenes Blut. In seine Augen traten Tränen und seine Lippen begannen zu zittern. Und als Horst endgültig realisierte, was ihm da widerfahren war, fiel er auf die Knie und begann minutenlang zu schluchzen. Wie eine Welle breitete sich sein Weinen über seinen ganzen Körper aus und jeder, der Horst in diesem Zustand gesehen hätte, hätte innegehalten. Und vielleicht geholfen. Doch ausgerechnet jetzt waren die Straßen wie leergefegt. Außer den Wipfeln von zwei alten Eichen und einigen noch jugendlichen Ahornen bewegte sich weit und breit nichts.

Eine einzige Flasche war der Zerstörung entgangen. Ohne die Spuren seines Unglücks auch nur eines Blickes zu würdigen, ergriff Horst diese letzte Flasche Erdbeerwein und schlich nach Hause. Er spürte nichts als dumpfe Leere. Seine rot unterlaufenen Augen rannten hin und her und sein Gesicht wurde fahl. Selbst die Tasche, die Horst W. hin und hergeschleppt hatte, ließ er zurück.

Zu Tode erschöpft schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf, schluckte seine Tränen herunter, trat ein und öffnete, ohne aufzublicken, ein Fenster zur Straße.

Ja, hier wollte er noch vor wenigen Stunden sitzen, den Abend genießen und sich seinen Gedanken überlassen. Jetzt stand die einzige Flasche Erdbeerwein, die er gerettet hatte vor ihm, seine Mühen rannen in die Kanalisation der Stadt und damit das letzte bisschen Hoffnung.

Horst überließ sich seinem Gefühl. Er war müde geworden. Und diese Müdigkeit steckte nun in allen Fasern seines Körpers, sodass ihm nur noch nach einem verlangte. Unendlich langer Schlaf. Er schlüpfte aus seinen schäbigen Schuhen und ließ sie achtlos liegen. Langsam dämmerte ihm die Tragweite seines Missgeschicks. Vergeblich versuchte er die Situation herunterzuspielen, sich damit zu trösten, dass seine Glücksseligkeit nicht von ein paar Flaschen gegorenen Erdbeergetränks abhinge. Es half nichts.

Ich bin der Letzte einer langen Kette, beschwor er sich. Ich trage eine Verantwortung!

Wie von selbst trennte sich die Flasche vom Korken. Mit wässrigen Augen betrachtete er den Erdbeerwein. Skorpione tanzen, dachte er, während er versuchte, den Bildern, die sich um ihn herum langsam in Bewegung setzten und immer schneller wurden, Einhalt zu gebieten.

Wie früher, wenn er als Kind auf einem Karussell saß, begann er plötzlich zu kichern. Ich sehe nichts mehr, dachte er zuletzt. Und dann stürzte Horst W. in die Stille.

Die Geschichte vom traurigen Sonntag

Es ist Sonntag. Über weite Teile des Landes liegt Hochnebel und die meisten Menschen haben sich in ihren Häusern verkrochen und warten auf Montag. Das Licht ist weniger als grau, denn die Sonne vertrödelt ihre Zeit hinter einer dicken Wolkendecke. Kurz – es ist ein Tag zum Innehalten. Ruhig, sauber, gut riechend. Eigentlich ein Sonntag wie man ihn sich manchmal wünscht. Und trotzdem könntest du ihn glattweg mit klangvollem Rauschen das Klo runterspülen.

Es gibt Sonntage, die sind so lang wie eine Busreise an den Gardasee oder wie der gesamte Monat Februar. Und wenn es an solch einem Tag auch noch regnet, verlängert sich die empfundene Stundenzahl bei Leuten, die Sonntage nicht mögen, gleich noch einmal.

Dort, wo du dich gerade befindest, schüttet es aus Eimern. Du stehst in einer schäbigen Telefonzelle, mehr als sechshundert Kilometer von deiner Wahlheimat entfernt, in einem Kaff namens Weidenhausen und starrst frustriert auf den Hintern einer Kuh. Ein riesiger Fladen gut verdaute Wiese plumpst auf feuchtgrünes Gras und dir wäre wunderbar geholfen, wenn es der große Brocken auf deinem Herz dem Kuhfladen gleichmachte. Aber es hilft nichts. An ein Aufatmen ist nicht zu denken.

Das Rindvieh widmet sich in aller Seelenruhe dem, was Kühe fast immer tun, und du beginnst dich an diesem bitter öden Sonntag das erste Mal ernsthaft zu fragen, ob es stimmt, dass Unruhe blind macht.

In der Tat, Friedrich-Leander, der Mensch braucht ab und an eine Pause.

Vielleicht betrachtet dich der Bauer auf der anderen Straßenseite deshalb so misstrauisch, weil er das Sonntagsschlummern seines geliebten Weidenhausens durch dein penetrantes Herumhämmern auf den Tasten des einzigen öffentlichen Fernsprechers weit und breit, ernsthaft gefährdet sieht. Tja, wenn du nicht so ein Fortschritt-ignorant wärst und dich wie die meisten deiner Mitbürger für ein Handy entschieden hättest, wäre dir wenigstens diese Szene erspart geblieben.

Und obwohl du dich tapfer zwingst, sowohl den unverschämten Bauern als auch die Tatsache zu ignorieren, dass du vergeblich diese Zahlenfolge tippst, (glaub es endlich: Es wird niemand den Hörer abnehmen), beginnt es langsam in dir zu dämmern, dass du möglicherweise die insgesamt 1.200 Kilometer gänzlich umsonst fahren wirst. Dabei hat gestern Nacht, als du mit einem klaren Ziel vor Augen die Tür deines ein wenig heruntergekommenen karminfarbenen 123er aufschlugst, alles geradezu perfekt begonnen.

Es gibt Realitäten, die lassen einen einfach still werden. Manchmal hilft da nicht einmal die Veränderung der Art der eigenen Wahrnehmung.

Deine Realität, die dich wie einen Donnerschlag trifft, bewirkt einen langanhaltenden Schrei.

„Herrgott nochmal“, brüllst du in den Telefonhörer. „wieso ist sie gerade an diesem verfickten Tag nicht da.“ Und dann noch mal und noch viel lauter: so laut, dass sich sogar das arme Rindvieh in Richtung Stall in Trab setzt, weil es deine Stimme mit der des erstarrenden gutkatholischen Bauern verwechselt.

„Verdammte Scheiße.“

Als letztes stirbt die Hoffnung!, weißt du, als du dich wieder beruhigst und sich der Bauer endlich auf den Weg zur Kirche macht, wie du glaubst, wählst du ein letztes Mal jene Telefonnummer, die du erst vor ein paar Stunden herausgefunden hast. Aber deine Hoffnung ist längst mumifiziert. Jedenfalls belehrt dich das unverkennbare lange Tönen in deinem Ohr, dass Lea entweder nicht zu Hause ist oder sich weigert, ans Telefon zu gehen. Eins steht fest: Du hast es vermasselt.

Wenn du dir einmal die Mühe machen würdest, nüchtern über den Tag nachzudenken, kämest du ganz sicher zu dem Schluss, dass die ganze Idee von Anfang an ein bisschen unausgegoren war. Sie war verrückt und infantil. Und hättest du auch nur ein einziges Mal deine Chancen auf Erfolg ausgerechnet, wärst du erst gar nicht auf den Gedanken gekommen, die sechshundert Kilometer mit deinem Schrott-Mercedes in Angriff zu nehmen. Und stell´ dir vor: Dort, wo du jetzt wohnst, scheint gerade die Sonne.

Statt wenigstens ein paar Minuten über die Unsinnigkeit deiner emotionalen Kausalitäten nachzudenken, fängst du plötzlich an, hysterisch zu lachen. Und als dein Lachen dann erfriert, sagst du dir: Friedrich-Leander, du bist ein Narr! Du hast es nicht besser verdient und an allem ist dieses Luder schuld.

Obgleich du es besser wissen müsstest, lässt sich dieser Gedanke nicht verscheuchen. Deine alte Wut steigt wieder hoch und als du in deinen Wagen kletterst, bist du gleich mehrfach wütend – einmal auf Constanze und natürlich ihren Liebhaber, auf Lea und die Umstände und am meisten auf dich.

Das Radio, welches du hektisch einschaltest, verspricht kaum Linderung. Und weil dir im Moment mehr nach den Stones oder Beethoven zumute ist, statt nach DJ Bobo, schaltest du frustriert wieder ab. Dieser Tag zählt wohl zu den furchtbarsten in deinem Leben. Du steigst ein, knallst die Tür zu und startest. Kühe, Telefonzelle, zwei Höfe, eine Videothek, aber du kommst nicht weit. Just in dem Augenblick, als die Kirchenglocken durch das Dorf hallen, verabschiedet sich dein Wagen. Er verschwindet für Sekunden unter einer spektakulären schwarz-blauen Rauchwolke und rollt gerade noch bis zum Ortsausgangschild. Die Kopfdichtung! An ein Weiterfahren ist nicht mehr zu denken.

Normalerweise würdest du jetzt wieder anfangen hysterisch zu kichern, mit einem kräftigen Schlag versuchen die Frontscheibe zu zertrümmern oder wenigstens ein fürchterliches Wutgeheul ausstoßen, aber dein berechtigter Frust wird durch ein zaghaftes Klopfen gedämpft.

Als würde das Schicksal dir an diesem Sonntag in deinem Unglück auch noch ein boshaft kreiertes Sahnehäubchen aufdrücken, klopft ausgerechnet der hinterwäldlerische Bauer an die Fahrerscheibe und grinst.

„Der Wagen is´ hinüber, fürchte ich“, sagt er und du würdest dich am liebsten in klitzekleine Elementarteilchen auflösen, damit dieser Dreckskerl dein Erröten nicht sieht.

„Sehe ich genauso“, presst du hervor. „Gibt es in diesem Ort vielleicht zufällig ein Taxiunternehmen?“

„Nee“, antwortet der Bauer und betrachtet distanzlos das Chaos in deinem Wageninneren. „Wenn Sie mir den Mercedes überlassen, bringe ich Sie bis Marburg oder Gießen. Wohin müssen Sie denn heute noch?“

Das geht dich einen Scheißdreck an! willst du ihn gerade anschreien, aber du beherrschst dich und zwingst dir ein Lächeln ab.

°°°

Marburg! Du liebenswerte Stadt an der Lahn mit deinen duzenden kleinen, gut geputzten Gässchen und ihren bunten Fachwerkhäusern. Du Stadt der tausend Treppenstufen, die jedem, der Einkaufsbummel liebt, die Füße anschwellen lassen. Oh, Marburg, was musstest du nicht alles schon erdulden? Nicht nur, dass dir der Limes, der sich nur ein paar Kilometer von hier durch die germanischen Wälder schlängelte, die großen kulturellen und wirtschaftlichen Erfolge der Römer versagte, es sollte noch schlimmer kommen. Zwar begannst du aufzuatmen, als man die Gebeine der Heiligen Elisabeth von Thüringen in die eigens dafür geschaffene Krypta der Elisabethkirche schleppte, denn fortan liefen sich tausende Pilger die Füße an deinen vielen Stufen platt, aber diese Idylle ließ dich nur kurz aufatmen. Warum musste sich auch dieser hundsfotte Landgraf Philipp zur Reformation bekennen, denn die Pilgerströme versiegten wie die Milchflüsse in deinem erhofften Schlaraffenland.

Es nützte nichts, dass solch berühmte Persönlichkeiten wie Luther und Zwingli in deinem Schloss ihre Religionsgespräche führten und die Gebrüder Grimm Dornröschen, das Rotkäppchen und Frau Holle ganz in deiner Nähe aus des Volkes Maul aufs Papier bannten. Ja, selbst die weltweit erste Gründung einer protestantischen Universität konnte nicht verhindern, dass du zu einer pietistisch-spießigen Kleinstadt verkamst und es vermutlich heute noch bist. Das Einzige, womit du dich eigentlich noch brüsten kannst, sind reaktionäre Studentenbunde und Burschenschaften, die aufgeputzt deine Gassen entlang grölen, auf der Suche nach ihrem Fuchs.

Und nun auch noch Friedrich-Leander Ott.

Du sitzt in einem Café auf dem Kornmarkt und beobachtest den Regen. Du beobachtest die Tropfen an der Scheibe, die fast minütlich wachsenden Pfützen auf dem Pflaster der Gassen und wirfst ab und an einen Blick auf die wenigen vorbeieilenden Passanten.

Was hatte Constanze gestern Nacht gesagt, als du sie zum hundertsten Mal wegen ihrer nicht enden wollenden Affäre zur Rede gestellt hattest? Welchen ungeheuren Satz hatte sie dir entgegen geschleudert, während dem Höllenfeuer in deiner Brust gerade wieder ein bisschen Holz aufgelegt wurde?

„Warum suchst du dir keine Geliebte, Schatz!“

Am liebsten hättest du zugeschlagen.

„Wie bitte?“ piepste deine Stimme weinerlich.

„Ich meine das ernst!“

Du starrtest auf Constanzes entblößte Brüste und dann auf ihren Bauchnabel.

„Du meinst das ernst. Aha!“ Wie in einem Hyper-Transfer änderte sich der Tonfall in deiner Stimme von Schwermut zu Hysterie. „Du möchtest, dass ich mir eine Geliebte suche, damit du eine Rechtfertigung für deine ... deine Fickausflüge hast! Das ist absurd!“

Constanze zuckte nicht einmal mit einer Wimper. „Und was ist mit Lea? Du bist errötet, als wir sie zufällig auf der Straße trafen. Damals in Altenburg.“

„Constanze! Lea war meine Jugendliebe. Ich fürchte, da bringst du Einiges durcheinander. Erstens ist das mehr als zehn Jahre her und außerdem bin ich gar nicht errötet.“

„Bist du sehr wohl.“

„Bin ich nicht.“

Euer darauffolgendes eisiges Schweigen ließ sogar die Stimme von Tom Waits im Hintergrund gefrieren. OL 55 klang als würden Eiswürfel aus den Boxen fallen, aber das lag vermutlich an der CD oder an den Boxen. Constanze zog ihre Beine heran und schlang ihre Arme um sie, als wären in der Tat die Temperaturen in eurem Schlafzimmer in den Minusbereich gestürzt. Und obwohl dir deine Enttäuschung ins Gesicht geschrieben stand, fandest du als Erster deine Sprache wieder.

„Du weißt genau, was damals geschah ... Gratuliere! Du trampelst nicht nur permanent auf meinen Gefühlen herum, nun wirst du auch noch geschmacklos.“

Eine Stunde später saßest du in deinem alten Auto auf dem Weg zu Lea.

Und genau daran musst du, während ein Wolkenbruch das letzte Stäubchen Dreck von den Gassen in Richtung Lahr spült, jetzt denken. Dieser Gedanke überdeckt alles. Er überdeckt, dass du deinen Wagen quasi verschenkt hast, du in einer dir fremden Stadt in einem Café hockst und nicht einmal weißt, wo du die Nacht verbringen sollst, die Schmach, die dir Constanze seit Monaten zumutet und sogar dein sinnloses Unterfangen, Lea, und mit ihr deiner Vergangenheit einen Besuch abzustatten.

Doch all dies spielt im Moment keine Rolle. Du bestellst dir einen viertel Liter Wein, zündest dir eine Zigarette an und betrittst gedanklich ein Terrain, das für dich noch immer eine Terra inkognito ist.

°°°

Es war wirklich Zufall, dass Stephanie, Leas zwei Jahre ältere Schwester, ausgerechnet eine Woche bevor du Constanze zum Altar führtest, dir diese Laus in den Pelz setzte?

„Hör zu“, leitete sie ihre Offenbarung ein, „ich habe etwas über Lea erfahren, was du vielleicht wissen solltest.“

„Wie geht es ihr?“

„Sie ist verheiratet und lebt jetzt in der Nähe von Marburg. Mehr weiß ich nicht. Sie hat den Kontakt zu uns abgebrochen.“

„Ihr seid doch Schwestern!“

„Was heißt das schon?“

Heiner, ihr Ehemann, stellte den Kaffee auf den Tisch und brütete über irgendetwas, als wäre ihm Lea inzwischen so egal wie die Tatsache, dass du nie Kaffee trinkst. Schließlich sagte er flapsig: „Die Prinzessin will niemanden mehr von uns sehen.“

„Kannst du dir denken, warum meine Mutter in ihrem Abschiedsbrief darauf drängte, dass Lea unbedingt die Abtreibung machen sollte“, fuhr Stephanie unbeirrt fort und eine Welle heißen Blutes schoss dir ins Gesicht.

„Nun, wie du weißt, war Lea fünfzehn und ich sechzehn. Wir waren wohl alle ein bisschen überfordert. Die ganze Situation: Euer Stiefvater hatte mir ja bis zuletzt verboten, euer Haus zu betreten. Na ja, und als Lea plötzlich schwanger wurde ... Was soll ich sagen? Heiner, ich trinke keinen Kaffee. Habt ihr vielleicht Tee oder Wasser?“

„Hast du je daran gedacht, dass sich unsere Mutter wegen dieser Schwangerschaft umgebracht haben könnte, Leander?“

Dein verblüffter Blick fiel erst auf Stephanie und dann auf Heiner. Dieser armselige Blödmann konnte noch immer nichts anderes, als mit den Schultern zu zucken, bevor er sich erbarmte, aufzustehen, um eine Flasche Mineralwasser zu holen.

„Wie meinst du das?“

„Was glaubst du, was der Grund ihres Selbstmordes war?“

„Ähm, na ja, es war ja nicht ihr erster Versuch, soweit ich mich erinnere.“

Dein Anblick war nicht unbedingt Mut machend, dich mit möglichen Wahrheiten zu konfrontieren.

Stephanie zog ihre Augenbrauen hoch. „Meine Mutter war Apothekerin. Die Pillen, die sie bis dahin geschluckt hatte, hätten sie niemals getötet. Das waren Signale.“

„Signale? Verstehe!“ echotest du und saugtest deine Unterlippe zwischen den Zähnen fest.

„Du verstehst gar nichts. Denk doch mal nach. Was glaubst du, warum Lea mit diesem Schwein nach der Beerdigung zwei Wochen ans Meer gefahren ist?“ Stephanie begann zu weinen und du hattest noch immer nicht den blassesten Schimmer, was sie meinte. „Sie wollte ihn trösten ...“

„Er hätte es verhindern können, aber er hat keinen Finger gerührt. Er wusste, dass sie nach oben ging, um sich zu töten. Und was hat er getan? Er hat Wetten das geguckt!“ Stephanies Schluchzen gipfelte in einem Schnäuzer, so lang wie die Niagarafälle.

Erst Heiners Räuspern stoppte den Dammbruch.

„Besäße ich genügend Geld“, sagte er und machte ein wichtiges Gesicht, „würde ich einen Killer beauftragen, diesem Typen das Gehirn weg zu pusten.“

„Er hat sie missbraucht, Leander. Deswegen hat sich unsere Mutter umgebracht“, heulte Stephanie.

Du schnapptest hörbar nach Luft und dein Blick wurde immer gequälter.

„Lea war möglicherweise nicht von dir, sondern von ihm schwanger!“

Das Einzige, was du noch stammeln konntest, war: „Wie heißt sie denn jetzt?“

„Wie bitte?“, antworteten beide gleichzeitig.

„Ich meine, sie hat doch geheiratet ... Oder?“

„Balscheit.“

°°°

Ein Chinese ist naturgemäß rascher sturzbetrunken als beispielsweise ein Brite, weil der Organismus eines Chinesen nur 20% der Menge des Enzyms Alkoholdehydrogenase bildet wie der des Briten.

Deinem gläsernen Blick zu folge, müsste man eigentlich deine Vorfahren nicht in der Lausitzer Heide suchen, sondern irgendwo am rechten oder linken Ufer des Jangtsekiang.

Balscheit, dröhnt es dir durch den Kopf wie der Trommelwirbel in einer Zirkusmanege, bevor die Trapezkünstler ihre Saltos vorführen. Nur, in deinem Kopf gibt es kein Sicherheitsnetz, um den Namen aufzufangen. Er knallt dir direkt ins Herz und verursacht dort einen heftigen Stich.

Nach dem Namen Balscheit hast du auch sämtliche Ortschaften rund um Marburg im Telefonbuch abgegrast, um Leas Telefonnummer herauszubekommen. Nun, das Ergebnis kann sich sehen lassen. Doch, was fängst du jetzt damit an? Du starrst auf den Zettel mit der Telefonnummer in deiner Hand und verfluchst deine spontane Idee.

Die Tochter der heiligen Elisabeth von Thüringen, Sophie von Brabant, hatte es mit Hilfe von Heinrich von Meißen 1248 geschafft, das die Marburger Landstände auf jenem Marktplatz vor deiner Nase ihren vierjährigen Sohn huldigten, was quasi einer Anerkennung als Herrscher gleichkam. Kurz darauf kündigte Heinrich ihr die Freundschaft und die Marburger Erde wurde jahrzehntelang in den hessisch-thüringischen Erbfolgekriegen mit reichlich Blut getränkt. 1802/03 weilten Clemens Bretano, die Gebrüder Grimm und Bettina von Armin in der Stadt. Doch was interessiert es dich! Du bläst Trübsal und steckst deine Nase ins Weinglas.

Die Tauben auf dem Brunnen mit der bronzenen Georgfigur sind so fett wie Hühner, denkst du und fingerst ein kleines Stückchen Korken aus dem Glas.

Genau in diesem Augenblick reißt dich ein Schatten hinter der Scheibe des Cafés aus deinen Gedanken. Und: Du erblickst ihre Gestalt. Du siehst das schulterlange gekräuselte schwarze Haar. Du erkennst ihre schmalen Schultern und du meinst, sogar Ansätze ihres grazilen Halses zu erahnen. Der Regen hört so schlagartig auf, wie er begonnen hat. Und irgendwo hinter ihrer grauen Wolkendecke blinzelt sogar die Sonne. Ein einziger Name löst sich aus allen Kammern deines Hirns und dein Herz schlägt so wild, als würde es an einem Drummer-Wettbewerb teilnehmen.

Lea! willst du schreien, dabei würde vermutlich nur ein klägliches Pfeifen aus deiner Kehle purzeln und außerdem sitzt du im Café, und sie läuft draußen vorbei.

Möglicherweise hat es in der ganzen Geschichte Marburgs nie jemanden gegeben, der mit derartiger Geschwindigkeit in Richtung Marktplatz torkelte wie du und vielleicht hat es ebenso wenig jemanden gegeben, der jener Frau, der du von hinten auf die Schulter grapschst, einen solchen Schrecken einjagte.

„Lea?“, fragst du.

Die Frau dreht sich panisch um und wedelte dramatisch mit den Armen.

„Ähm, äh, Entschuldigung. Ich habe Sie mit jemandem verwechselt“, verteidigst du dich mit dünner Stimme.

„Sie haben Sie wohl nicht alle!“

Das Gesicht von Lea ist tausendmal schöner und ihre Stimme im Vergleich zu der Stimme der Frau wie der Klang eines Cellos zu einer Maultrommel. Dir bleibt nichts anderes übrig, als zurück zu deinem nunmehr Achtel-Liter Chardonnay zu trotten.

Stimmungen gehen bekanntlich Gefühlen voraus. Sie sind Zustände – primär seelische Qualitäten und möglicherweise sogar das älteste psychohistorische Phänomen. Stimmungen haben keinen Gegenstand, im Gegensatz zu den Gefühlen. Bei Stimmungen gibt es keine Trennung vom Ich und der Welt, wohingegen Gefühle immer auf bestimmte Dinge bezogen sind.

Deine Stimmung, Friedrich-Leander, ist eine Mischung aus nackter Verzweiflung und Größenwahn.

Irgendwo in deinem Blickwinkel taucht eine Telefonzelle auf. Und weil die inzwischen sehr rar gewordenen Telefonzellen zurzeit eine geradezu magische Anziehung auf dich haben, verlangst du die Rechnung und gehst schnurstracks auf sie zu. Diese Telefonzelle riecht noch übler als die in Weidenhausen. Der Gestank von Pisse und kaltem Rauch schlägt dir beim Öffnen der Tür entgegen. Eigentlich willst du nur Constanze anrufen und sie fragen, ob sie bereit wäre, sich für eine Paartherapie zu erwärmen, aber dir antwortet nur deine eigene Stimme und diese Tatsache verheißt nicht unbedingt Linderung. Manche Gedanken ziehen ganz automatisch Handlungen nach sich, auch wenn sie nicht immer logisch sind. Es gibt Gedanken, die tragen die Verantwortung für ihre Handlung in einer abgestellten Plastiktüte – und es gibt Zufälle, die über die Logik lachen. Wie dem auch sei. Bekannte Nummer, neues Glück. Und ausgerechnet jetzt trifft dich eine Erinnerung wie ein Blitz.

„Hallo?“, schmeichelt dir Leas Stimme das Ohr. Ein Engelschor könnte nicht schöner klingen. Und dann noch einmal: „Ja, bitte?“

Dir ist, als würde Amor persönlich seine Hand auf dein Haupt legen, um dich zu segnen. Trotzdem wird deine Stimme plötzlich so dünn wie ein Groschenroman. Nein, noch dünner. In dir jubelt ein ganzes Orchester einschließlich der Ersatzmusiker, doch der Jubel bleibt stecken. Zuerst bringst du überhaupt kein Wort zustande und dann ist mit einem Mal dieser Hebel in deinem Kopf, der sich senkt wie das Bimetall eines Relais. Nur schaltet es ab, statt ein. Etwas wirbelt dich durcheinander. Deine Knie, die ohnehin schon so weich sind wie ein gut gereifter Camembert, drohen einzuknicken. Du spürst geradezu schmerzlich, wie sich ein Wort, nur ein einziges Wort, in deiner Kehle formt. Mehr bringst du einfach nicht zustande. Du bist blockiert, Friedrich-Leander, du bist blockiert wie ein ruiniertes Getriebe.

„Hallo!“, schnarrst du, und du hast überhaupt keine Ahnung, was dir da geschieht.

„Mit wem spreche ich. Hier ist Balscheit“, antwortet die von dir angebetete Stimme erwartungsvoll, doch du steckst hoffnungslos fest.

„H a l l o ?“ betonst du und dir wird beinahe schwarz vor Augen. Selbstverständlich kannst du Lea hören, so deutlich wie vor zehn Jahren, nur du kannst nicht sprechen. Jedenfalls nichts, was irgendeinen Sinn ergäbe.

„Hören Sie mich?“

„HALLO ...“ Es ist fast ein Flehen. Ich möchte mit dir reden! will es sagen. Ich möchte die Zeit zurückdrehen, will es sagen. Ich möchte noch einmal sechzehn sein und du bist meine Prinzessin. Du warst es immer! will es schreien. Es ist nicht wichtig, was damals passierte ...Nur komm zu mir zurück!

„Hallo?“ sagst du ein letztes Mal verzweifelt, dann knackt es kurz in deinem Ohr.

Lea hat aufgelegt.

Es kann ein durchaus befremdlicher Anblick sein, einen Mann aus einer Telefonzelle taumeln zu sehen, der dann wild mit den Armen fuchtelnd im Kreis herumrennt. Und es sind gleich mehrere Personen, die dir sehr befremdliche Blicke zuwerfen, während du deine Pirouetten drehst – eine Frau, die wegen der Marburger Steigungen ihren Kinderwagen hinter sich herzieht, ein Rentnerpaar, auf der Suche nach ihrer Reisegruppe und zwei Studenten mit albernen Mützen und Armani-Anzügen.

Erst als du im Eiltempo (rekordverdächtig) zweimal den Kornmarkt umrundet hast, kehrt deine Vernunft zurück. Aber ausgerechnet jetzt fällt dem einen Studenten ein, möglicherweise seine Mutter in Baden-Baden oder in Berchtesgaden anzurufen und sich vielleicht bei ihr für ihre Überweisungen in astronomischer Höhe zu bedanken. Du weißt es nicht, jedenfalls schlüpft er vor dir in die Telefonzelle.

Dein Trommeln an der Scheibe nach zwanzig Minuten bewirkt nichts anderes, als dass dir der künftige Rechtsanwalt den Rücken zudreht und dir der künftige Immobilienmakler höflich aber mit Nachdruck auf die Schulter klopft.

„Ganz ruhig, ja!“, sagt er. „Mein Freund hat ein wichtiges Telefonat zu führen. Klar!“

Du starrst den künftigen Besitzer eines Porsche und eines schneeweißen Billardtisches so unverschämt in die Augen, dass du dich nicht zu wundern brauchst, dass dieser sich provoziert fühlt.

„Nimm deine hässlichen Pfoten von meiner Schulter, du Rotznase!“, blaffst du. „Mein Telefonat ist bestimmt wichtiger. Klar!“

Beflügelt vom Zurückzucken dieses dahergelaufenen Strolchs, packst du den anderen Studenten am Kragen und schiebst ihn ganz einfach aus der Telefonzelle. Meine Güte, Friedrich-Leander, wann begreifst du endlich, dass Unruhe blind macht und Burschenschaften eine durchaus ernst zu nehmende Gefahr sind.

Entschlossen, gesammelt und mit einem vorgefassten Text im Kopf wählst du, die inzwischen auswendig beherrschte Nummer.

„Balscheit.“

Du hast zwar mit Sicherheit die richtige Telefonnummer gewählt, aber die Stimme, die ihren Namen nennt, ist eine andere. Ein langweilig klingender Bariton blökt diesen Namen. Wieder erwischt dich eine Blockade unvorbereitet.

„Entschuldigung, falsch verbunden“, hörst du dich selber murmeln.

Aber der Kerl an der anderen Seite der Leitung scheint dir das nicht zu glauben.

„Hoho“, lacht er dir ins Ohr. „Immer aufgelegt für einen Spaß, was! Sehr schön. Wir sind gleich fertig, Tom. Lea muss sich nur noch mein Zeug aus dem Gesicht spülen. Wenn du verstehst, was ich damit meine ...“

Dein lautes missbilligendes Glucksen ist nicht einmal gespielt. Und obwohl der Hörer schon unmittelbar über der Gabel schwebt, kommst du nicht umhin, ihn dir noch einmal ans Ohr zu halten, denn die Stimme mit ihren schlüpfrigen Bemerkungen hat eine Frage an dich: „Hast du das Bier kaltgestellt?“

Was sollst du auch anderes antworten als: „Ja.“, so paralysiert wie du bist.

„Wunderbar.“

Dieser Mensch hat keine Ahnung, mit wem er spricht. „Wie viele Filme sehen wir uns heute Abend an?“

Die Art der Filme, die er vermutlich meint, verursacht bei dir eine Gänsehautentzündung, aber eine Zahl musst du trotzdem nennen.

„Zwei!“, entscheidest du und schluckst.

„Super! Also in fünf Minuten sind wir drüben bei dir. Tschüss.“

Wieder dieses kurze Knacken und du denkst daran, dass du dir vielleicht den Spaß machen hättest sollen, zu fragen, wo Drüben ist.

Diesmal trifft dich ein anderer Blitz, als du hysterisch lachend aus der Telefonzelle stolperst. Du kippst ungebremst in die Fäuste deiner Gegner. Der künftige Anwalt rammt dir seine Faust direkt in den Magen, dass du wie ein Klappmesser einknickst. Die Faust des künftigen Immobilienmaklers erwischt dich mit voller Wucht oberhalb deines Kinns. Du verlierst vor lauter Sternen die Orientierung und gehst stöhnend zu Boden. Als du wieder zu dir kommst, blickst du in ein weibliches Gesicht voller Falten und dünnem schlohweißen Haar. Einen Augenblick denkst du panisch: Oh mein Gott Lea, wie lange war ich bloß im All?

„Soll ich einen Krankenwagen rufen, junger Mann?“, krächzt die aufgeregte Alte.

Doch weil deine Unterlippe plötzlich übel anschwillt, schüttelst du nur den Kopf.

°°°

Als du auf dem Bahnhof im kleinen ostthüringischen Altenburg ankommst, ist es bereits dunkel. Altenburg? Ja, Altenburg. Dein Weg führt dich nicht nach Norden, wo du inzwischen hingehörst, sondern nach Osten. Dieser Sonntag ist ein Tag in deinem Leben, der nichts, aber auch gar nichts mit Logik gemein hat. Du bist mit einem vollkommen sinnlosen Plan nach Marburg gefahren, du hast deinen Wagen verschenkt, du hast dich quasi mit Leas Mann verabredet und du trägst nicht nur eine geschwollene Lippe spazieren, sondern auch ein ziemlich lädiertes Selbstbewusstsein.

Wieso ausgerechnet Altenburg? Besuchst du die Stadt deiner Kindheit, weil du hoffst, dass das dortige Pflaster dir bei deinen Erinnerungen helfen und dir Klarheit über deine derzeitigen Probleme verschaffen könnte? Vielleicht. Aber vielleicht ist es auch einfach nur Trotz.

Бесплатный фрагмент закончился.

399
573,60 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
214 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783750225176
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
181