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Kindra
Die erste Ernte


Meine Gemächer waren gigantisch. Sie bestanden aus einem Schlafzimmer und einem Badezimmer und waren größer als die Hütte, die ich mir mit Kork und Noba geteilt hatte. Beim Gedanken an die beiden zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Ein Funken Hoffnung blieb: dass der Fluss sie mir nicht endgültig genommen hatte. Aber die unbändige Kraft, mit der mich der Hayes selbst gepackt und unter Wasser gezerrt hatte, ließ auch die letzten Reste des Feuers in mir erlöschen.

Ich war lediglich in das tosende Wasser gefallen. Noba, Kork und all die anderen waren von ihm erschlagen worden wie von einer wütenden Faust, die auf das Dorf niederkrachte.

Auf dem übergroßen Bett rollte ich mich zu einer kleinen Kugel zusammen und blendete die Gegenwart aus. Grünfrey war mein Zuhause gewesen. Dorthin wollte ich zurück. Zu den Menschen, die diesen Ort zu etwas Besonderem gemacht hatten. Und in Sakis Arme.

Gähnend kuschelte ich mich unter die Decke und fiel in einen unruhigen Schlaf, in dem ich Grünfrey immer und immer wieder verlor.


Als ich am nächsten Morgen erwachte, drehte sich alles in meinem Kopf. Meine Glieder fühlten sich schwer an und meine Schläfen pochten. Erschöpft, aber ruhelos schlüpfte ich aus dem Bett und sah mich im Zimmer um. Ohne meine Möglichkeiten abzuschätzen würde ich nicht aufgeben. Nicht nach den vielen Jahren auf der Flucht und in Sicherheit. Ich kannte beides – und würde kämpfen, bis ich meine Heimat zurückhatte. Wo auch immer ich diese finden würde.

Am Fuß meiner Matratze stand eine solide Eisentruhe, in der eine schwarz-silbrig gewebte Decke lag. Eine große Sitzecke befand sich gegenüber vom Bett. Die vier schweren schwarzen Sessel nahmen gut ein Drittel des Zimmers ein. Der Kleiderschrank stand an der anderen Wand, daneben befand sich ein Tischchen, auf dem eine Bürste vor einem Spiegel lag.

Vor meinem Spiegelbild blieb ich stehen und betrachtete mich. Ich trug das goldene Kleid, das mir die Frau im Badehaus übergezogen hatte. Ansonsten hatte sich nichts geändert. Meine Selbst­heilungskräfte ließen mich frisch und gesund wirken. Meine Haut schimmerte rosig und mein Haar in einem tiefen Schwarz. Keine Spuren an meinem Körper bezeugten den Sturz am Bergpfad oder den Schlag auf die Lippe im Badehaus.

Äußerlich hatte ich mich nicht verändert.

Doch war ich nicht mehr dieselbe wie vor wenigen Tagen.

Ich schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und dachte an meine Familie und Saki. Mein Herz stolperte, als ich sein Lachen hörte und wünschte, ich wäre bei ihm.

Oder mir wünschte, ich hätte ihn wenigstens geküsst.

Seufzend streifte ich die Erinnerungen und Wünsche ab und ging zum Schrank, um den Inhalt näher zu betrachten. Es befanden sich zwei Kleider und eine Hose-Hemd-Kombination darin. Ohne zu zögern, zog ich das Kleid aus, griff die Hose, schlüpfte hinein und zog das Hemd an. Kleider hatte ich bisher nur für den Tanz auf dem Sonnenfest für Saki getragen.

Dann wartete ich. Ziellos wanderte ich im Zimmer umher, untersuchte jeden Zoll, doch konnte mir nichts zur Flucht verhelfen. Die Fenster waren verriegelt und ich fand keinen Gegenstand, der ansatzweise als Waffe dienen konnte.

Während der Warterei ging meine Trauer in Ungewissheit über. Meine Feinde hatten mich in ihren Klauen. Was würden sie jetzt mit mir anstellen?

Was erwartete mich bei der Ernte?

Zitternd sank ich auf das Bett und wickelte mich in die Decke ein. Ihre Wärme spendete mir nur schwachen Trost.

Irgendwann öffnete sich die Tür und Jaden trat ein. Er sah mich mit schmalen Augen an. »Komm mit«, befahl er forsch.

Mein Herz blieb fast stehen. Dennoch gab ich nicht kampflos auf. Ich wälzte mich im Bett auf die andere Seite – weg von der Tür. »Nein danke«, erwiderte ich und warf ihm einen Blick über die Schulter zu, der wütend aussehen sollte. Meine zitternden Finger ballte ich zu Fäusten, um das verräterische Zeichen der Angst zu verbergen.

»Das war keine Bitte«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er durchquerte das Zimmer, packte mich am Arm und zog mich vom Bett. »Komm. Jetzt. Mit«, wiederholte er.

Ich riss mich los und setzte mich auf die Bettkante. »Ich will nicht«, sagte ich bemüht trotzig und Genugtuung stieg in mir auf, als sein Gesicht vor Wut rot anlief.

Jaden schnipste mit den Fingern und zeigte auf mich. Die Wachen lösten sich aus ihrer Position neben der Tür und kamen herein. Sie packten mich an den Armen. Die Männer trugen eine leichte Rüstung in den gängigen Farben der Eisendynastie. Ihre Gesichter waren unter den Helmen gut zu erkennen, doch wirkten beide so ausdruckslos, dass sie für mich identisch aussahen. Wie zwei charakterlose Puppen. Sie hoben mich hoch und schleiften mich hinter Jaden her. Ich weigerte mich, selbst zu laufen, und ließ mich schlaff hängen.

Jaden betrachtete mich kopfschüttelnd. »Erbärmlich«, sagte er und verdrehte die Augen. Doch es war mir egal, ich wollte es ihnen möglichst schwer machen.

Die Wachen schleiften mich auf den Gang hinaus und von den anderen bewachten Zimmern fort. Nach etlichen Schritten erreichten wir eine Treppe, die sie mit mir hinabstiegen. Die unzähligen Gänge unterschieden sich lediglich durch die Gemälde, die an den Wänden hingen, oder durch die Farbe der Teppiche auf dem Marmorboden. Selbst die Türen zu den Zimmern waren für mich kaum zu unterscheiden.

Spätestens nach der zehnten Kreuzung verlor ich die Orientierung. Es war das reinste Labyrinth. Sie brachten mich weitere Treppen hinab und die Luft um uns herum kühlte ab. Der folgende Gang wurde nur schummrig von Fackeln beleuchtet. Meine Nackenhaare stellten sich auf.

Vor einer dicken Eisentür blieb Jaden stehen. Das Metall wies einige Rostflecken auf, wirkte aber dennoch stabil. Mit einem gräss­lichen Schaben öffnete der Prinz die Tür, trat ein und gab den Blick auf ein Zimmer frei, das dem eines Heilers glich. An den Wänden standen Werkzeuge, Tiegel und Flaschen in riesigen Regalen. Mitten im Raum befand sich eine Liege mit Schnallen für Hände, Füße und den Rumpf. Panisch zappelte ich im Griff der Wachen und wollte sie daran hindern, mich in dieses Zimmer oder auf diese Liege zu verfrachten. Doch sie waren stärker als ich. In Jadens Gesicht prangte ein gehässiges Grinsen, als die Wachen mich festschnallten. Ich schnaubte, fletschte die Zähne, aber ich konnte nichts gegen die Männer ausrichten.

Mein Leben lang hatten Noba und Kork versucht, mich vor der Magieernte zu schützen. Doch nun lag ich hier, angekettet und hilflos.

Tränen stiegen in mir auf und ich blinzelte, um sie zu vertreiben. Vor Jaden wollte ich keine Schwäche zeigen, doch meine trotzige Fassade aufrechtzuerhalten war schwerer, als ich mir eingestehen wollte. Ich presste die Lippen fest aufeinander, um das Zittern zu unter­drücken, das von meinem Körper Besitz ergriff.

Jadens Blick lag auf mir und ich versuchte standzuhalten. Bilder von Noba und Kork drängten sich immer wieder an die Oberfläche. Erinnerungen an unsere jahrelange Flucht und die ersehnte Entdeckung von Grünfrey.

Und Saki.

Der Kloß in meinem Hals hinderte mich daran zu schlucken. Ich wollte husten, weinen oder schreien, aber ich tat nichts davon.

»Ich habe einige gefüllte Ampullen, die Ihr mitnehmen könnt, Eure Majestät«, ertönte eine Stimme, bevor zwei Gestalten den Raum betraten. »Oh, und der Speichel von Nummer siebenundzwanzig ist ausgesprochen ergiebig. Fast anderthalb Liter pro Tag!«

Ich schauderte bei dem geschäftigen Tonfall, der in der Stimme des Mannes lag. Sie würden sogar meinen Speichel sammeln? Täglich?

Der König und ein anderer Mann erschienen in meinem Blickfeld. Mit seiner immensen Größe füllte der König den Raum bis zur Decke aus. Es fehlte nur ein winziges Stück und er müsste sich ducken, um nicht mit dem Kopf oben anzustoßen. Seine Kleidung war auch heute eine Mischung aus Rüstung und feinem Stoff, der schillernd über seine Arme fiel. Der gut gelaunte Ausdruck auf seinem Gesicht verhieß nichts Gutes – zumindest für mich.

Der Fremde hatte graues, langes Haar und sein Bart war zu einem Zopf geflochten, der ihm bis auf die Brust reichte. Er trug eine praktisch geschnittene Hose und ein eng anliegendes Hemd, das seinen drahtigen Körper betonte. Ein weiter Mantel mit unzähligen Taschen lag um seine Schultern.

Sie betrachteten mich einen Moment, bevor sich der alte Mann an den König wandte. »Ein wirklich schönes Exemplar. So jung! Und diese Augen! Ihr hattet bei Euren Erzählungen nicht übertrieben, Eure Majestät!« Das musste der Medi sein, den der König informieren wollte. Der Mann, der die Ernte durchführte.

Der König strahlte stolz, als wäre ich sein Verdienst, und nickte. »Ich bin sehr gespannt auf die ersten Ergebnisse.«

»Ich ebenfalls, Eure Majestät! Sie scheint ein vielversprechendes Exemplar zu sein. Ich hoffe auf positive Resultate für alle Lösungen und Mischungen.«

Die Worte des Königs und des Medis lösten einen Schwindel bei mir aus. Ich krampfte die Hände fest zu Fäusten, während mein Herz beinahe aus meiner Brust sprang. Mein Blick wurde unscharf und ich konnte das Zittern fast nicht mehr zurückhalten.

»Lasst mich gehen!«, presste ich hervor.

»Keine Sorge, wir werden dir nicht wehtun! Wir entnehmen heute nur ein paar Proben für die Einstufungstests«, sagte der Alte und nickte eifrig. »Wollen wir doch mal sehen …«, murmelte er, während er einige Schalen und Gläser auf einem Tisch bereitstellte.

Während er sich für die sogenannten Einstufungstests vorbereitete, lag ich festgeschnallt auf der Liege und wand mich. Die Wachen drückten mich an den Schultern und Knien gegen den kalten Stoff. Der Alte nahm ein Messer aus einem der Regale und trat neben mich.

Unter größter Anstrengung versuchte ich mich zu bewegen. Doch mein Körper rührte sich kein bisschen, war wie eins dieser befestigten Modelle in einem Schaukasten. Meine Versuche, mich zu befreien, waren aussichtslos. Ich war ihm hilflos ausgeliefert.

Er schnitt mit einem kleinen Messer in meine Armbeuge und ich kniff vor Schmerz kurz die Augen zusammen. Langsam quoll Blut hervor und tropfte in eine Schale, das Messer legte er zur Seite, bevor er mir die Wunde verband.

Dann kürzte er meine Finger- und Fußnägel. Vergeblich versuchte ich, Finger und Zehen zu krümmen und sie so dem Medi zu entziehen, doch die Wachen hielten meine Hände und Füße in einem eisernen Griff. Der Medi sammelte die Hornreste in einer kleinen Dose und stellte sie zur Blutschale. Anschließend schnitt er eine meiner schwarzen Haarsträhnen ab und wickelte sie auf. Auch sie legte er beiseite.

Dieser Moment war schrecklicher, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Zwar fügten sie mir nur wenig körperliche Schmerzen zu, doch diese Hilflosigkeit, mit der ich es über mich ergehen lassen musste, brannte in jeder Faser meines Körpers. Panik und Angst wechselten sich ab und über allem lag diese Taubheit, mit der ich beobachten musste, wie sie sich nahmen, was immer sie wollten.

Als sich der Medi wieder an mich wandte, hielt er ein hellgrünes Blatt einer mir unbekannten Pflanze zwischen seinen Fingern. Der Stiel schimmerte leicht bläulich, ebenso die Mittel- und Seiten­rippen, die in feinen Wellenlinien zum Blattrand führten. »Jetzt bitte den Mund aufmachen! Wollen mal sehen, wie viel Magie in deinem Speichel ist.«

Mir drehte sich der Magen um, als ich mir vorstellte, dass sie sogar meinen Speichel verwendeten. Ich presste die Lippen fest aufeinander. Der Medi versuchte meinen Mund zu öffnen, doch ich wandte den Kopf ab und versuchte ihm zu entkommen.

Jaden kam dem Medi zu Hilfe, fixierte meinen Kopf auf der Liege. Ich kämpfte gegen den Griff an. Panik durchflutete mich, als meine Muskeln zu zittern begannen. Wir rangen einige Herzschläge und schließlich öffnete der Medi meine Lippen ein Stück. Tränen sammelten sich in meinen Augenwinkeln und ich blinzelte.

Er schob das Blatt in meinen Mund und es glitt an meinem Zahnfleisch entlang in meine Wange. Sein Daumen und Zeigefinger strichen bei der Bewegung leicht über meine Zähne. Diese Menschen nahmen keine Rücksicht auf mich, ein Mädchen, das hier auf der Liege festgeschnallt lag. Für sie war ich nur ein Objekt der Ernte. Ich ballte die Hände zu Fäusten, die nicht länger im Griff der Wachen gehalten wurden. Die Schnallen rieben an meinen Handgelenken, während ich zitterte.

Alles, was ich empfand, war Hass. Auf diesen Ort, diese Menschen und ihre Ernte.

Als Jaden den Griff an meinem Kopf einen kurzen Augenblick lockerte, biss ich zu. Meine Zähne bohrten sich in warmes Fleisch und der Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus. Der Medi stieß einen erstickten Schrei aus. Jaden fluchte und versuchte, meine Kiefer aufzudrücken.

»Schnell, das Schlafpulver!«, brüllte der Medi. Der König trat in mein Sichtfeld und hielt dem Medi eine Schüssel mit einem hellen Pulver hin. Den Zeigefinger der freien Hand bestäubte der Alte mit dem Puder, ehe er es mir in die Nase rieb.

Ein Brennen breitete sich aus und wanderte blitzschnell bis hinter meine Stirn. Unter dem Schmerz zuckte ich zusammen, ließ seine Finger jedoch nicht frei. Als mein Blick auf den König fiel, schnappte ich nach Luft und verschluckte mich an dem fremden Blut in meinem Mund. Ich hustete und der Medi entzog mir seine Finger. Das Bild, das der König abgab, war beängstigend. Seine Augen loderten voller Wut und jede Freundlichkeit war daraus entwichen. Er starrte mich an wie einen ungezogenen Köter, den er mit Schlägen zu züchtigen gedachte.

»Testet den Speichel. Dann werft sie für ein paar Tage in den Kerker«, donnerte seine Stimme wie eine Urgewalt über uns hinweg.

Mein Körper wurde schwer und mir wurde schwummrig vor Augen. Der Medi legte das blutbefleckte Blatt zur Seite, ehe er mir ein neues in den Mund schob. Als er es hervorzog, war das helle Grün einem leuchtenden Orange gewichen, auf dem die Rippen wie blaue Adern wirkten. Danach schnallten sie mich los und die Wachen schleiften mich aus dem Raum.

Beide Wachen stützten mich, denn ich hatte nicht mehr genug Kraft, allein zu laufen. Jaden ging voraus. Doch anstatt die Treppen nach oben zu nehmen, führte er uns weiter hinab. Wir gelangten auf einen Korridor, dessen Wände aus Gitterstäben bestanden. Hinter den Stäben befanden sich kleine Zellen mit jeweils einer schmalen Pritsche.

Die Verliese, an denen wir vorbeigingen, waren unbelegt. Es war unheimlich still. Irgendwann blieb Jaden stehen. »Hier«, sagte er und eine der Wachen ließ von mir ab und öffnete eine Tür. Ich sackte im Griff der anderen zusammen, die mich in die Zelle schleifte. Die Wache legte mich auf die dünne Matte und verließ den Raum. Jaden blieb neben mir stehen. »Jetzt hast du keine große Klappe mehr«, stellte er mit Genugtuung fest.

Wie ich ihn und die Eisenmänner verabscheute! Am liebsten würde ich sie mit eigenen Händen ausrotten, dachte ich. Doch für jegliche Erwiderung fehlte mir die Kraft. In mir gab es keinen Trotz und keine Stärke mehr. Nur noch Wut und Trauer. Ich wollte allein sein. »Verschwindet!«, lallte ich benebelt.

Jaden setzte sich auf die Kante der Pritsche und strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Du dummes Ding«, sagte er und schnaubte. »Wir werden noch viel Spaß miteinander haben, wenn du so weitermachst. Ihr Goldkinder steht unter meiner Aufsicht.«

Es frustrierte mich, dass sich wieder Tränen in meinen Augen sammelten und über meine Wangen rollten. Diese Genugtuung war das Letzte, was er verdiente.

Irritiert zuckte er zusammen. Sein Grinsen verschwand, wandelte sich in eine steinerne Miene und er stand auf.

»Warum?«, flüsterte ich, bevor ich mich zurückhalten konnte. »Ihr habt mir alles genommen. Meine Familie und meine Heimat. Jetzt nehmt Ihr Euch auch noch von meinem Körper, was Ihr wollt. Das ist nicht gerecht. Ich habe Euch nichts getan.«

»Bilde dir nicht zu viel darauf ein«, antwortete Jaden. »Es liegt nicht an dir. Sondern an dem, was du bist.«

Lautlose Schluchzer schüttelten mich und ich ballte die Hände zu Fäusten. »Ich habe mir nicht ausgesucht, wer ich bin.« Ich packte ihn am Saum seines Hemdes und er erstarrte. »Lasst mich einfach gehen.«

Langsam drehte sich Jaden um. Seine Augen fixierten mich eiskalt und verbargen jede Emotion vor mir. Was dachte er? Wo war seine Menschlichkeit?

Ohne ein Wort ließ er mich zurück.

Was sollte er schon wollen? Er dachte sicher nur an die Kraft, die ich ihm verleihen würde.

7

Saki
Stilles Versprechen


Seit meiner Kindheit hatte ich jeden Tag auf dem Feld ausgeholfen. Jeder Bewohner verfolgte seine Aufgabe in Grünfrey und beteiligte sich daran, unsere Versorgung zu sichern. Wir betrieben keinen Handel und waren auf unsere eigenen Lebensmittel angewiesen. Es gab keinen Winter, auf den wir uns vorbereiteten, sondern nur stetigen Sonnenschein, der uns die Feldarbeit erleichterte. Ich war durch die körperliche Arbeit drahtig und kräftig geworden. Aber nun wirkte ich wie ein Winzling im Vergleich zu den Männern, die täglich um mich herumstanden.

Ihre Arme waren muskulös und sie standen mit nacktem Oberkörper aufrecht im Schnee. Starr wie Statuen.

Bisher hatte ich im Immerwährenden Sommer gelebt. Mit einer Sonne, die nur zur Dämmerung herabsank und nie unterging. Nun stand ich zitternd im Tiefen Winter.

Jeden Morgen stellten wir uns, wie heute, in einer Reihe auf, einem Mann zugewandt, der ein paar Fuß von uns entfernt auf und ab lief. Er hieß Arnen, war unser Lehrer, Trainer, Meister – wie auch immer man ihn nennen mochte. Für mich war er der Schlüssel zu meinem Erfolg.

Kindras Rettung.

Das Training begann und Arnen kannte keine Gnade. Leicht bekleidet trainierten wir unsere Kraft, wobei ich am schlechtesten abschnitt. Wir lernten erste Taktiken und Techniken für den Schwertkampf und attackierten uns mit Stöcken. Meine Haut hatte durch die Kälte einen bläulichen Ton angenommen. Dazu gesellten sich einige andere Farbtöne durch die Blutergüsse, die sich über meinen Körper zogen.

Abhärtung hatte es unser Lehrer genannt. Stärkung und Kräftigung des Körpers und des Willens. Schaffung von erschwerten Begebenheiten. Mein Körper lechzte nach Ruhe, aber ich begrüßte den Schmerz. Er brachte mich voran. Näher an mein Ziel.

Ich biss die Zähne zusammen, jammerte nicht und machte keine Pause. Ständig stand ich am Rande der Erschöpfung. Und wenn ich glaubte, ich würde zusammenbrechen, dachte ich an das, was die Eisenmänner mit meiner Familie gemacht hatten. Plötzlich schöpfte mein Körper wieder neue Kraft. Angetrieben durch den unbändigen Hass, der in mir loderte.

Es waren nicht die Anstrengung, die Kälte oder die Schmerzen, mit denen ich am meisten kämpfte. Es war meine Ungeduld.

Die Tage verstrichen und die Ungewissheit nagte an mir. In meinen Träumen sah ich sie sterben. Blutend und mit Wunden übersät. Die Gruselgeschichten, die wir uns als Kinder erzählt hatten, schlichen sich in meine Gedanken. Nur dass die Goldkinder aus den Legenden Kindras Gesicht trugen.

Auch an diesem Morgen erwachte ich wieder schweißgebadet, trotz der Kälte. Ich schreckte auf wie ein Ertrinkender, der nach der Oberfläche suchte. Mit der Hand tastete ich über den Boden und als ich den gefalteten Kleidungsstapel fand, umschloss ich den Holzvogel, der darauf lag. Ein letztes kleines Stück, das mir von Kindra geblieben war. Seufzend hob ich den Vogel an meine Lippen und betete zur Sonne, dass sie mich erhörte und Kindra beschützte.

Eine Stimme erklang, bevor eine Hand die Plane meines Zelts zur Seite schob und jemand den Kopf hineinstreckte. Es war Arnen.

»Die Männer sind vom Schwarzen Markt zurück«, sagte er und wartete auf eine Reaktion.

Ich starrte ihn einen Moment an, bevor ich auf die Füße sprang und mir meine Sachen überstreifte. »Seit wann?«, hauchte ich und verstaute den Holzvogel in meiner Hosentasche.

»Sie kamen in der Nacht.« Er hielt die Plane zur Seite, damit ich zu ihm hinauseilen konnte. Die Kälte schlug mir wie eine Wand entgegen, aber ich hatte keine Zeit, um zu frieren.

Jetzt passierte endlich etwas.

»Was haben sie herausgefunden?«, hakte ich nach, während ich Arnen durch das Dorf folgte.

Als er nicht antwortete, griff ich nach seiner Schulter und zwang ihn, mich anzusehen. Er warf mir einen schnellen Blick zu und streifte meine Hand ab. »Du wirst es gleich erfahren.«

Meine Gedanken überschlugen sich. Hatten sie Kindra gefunden? War sie am Leben? Während ich weitere Fragen hinunterschluckte, führte er mich zu einer Höhle am Rand des Dorfes. Im Innern saßen zwei Männer auf einer Bank und tranken aus Tonbechern. Runghum, der Krieger, der mich in Grünfrey entdeckt hatte, schenkte ihnen nach. Der Älteste saß im Schneidersitz auf dem Boden zwischen Kriegern, deren Gesichter ich kannte, aber deren Namen ich nicht mehr zuordnen konnte.

»Also?«, fragte ich in die Runde. Es gab keine Zeit zu verlieren. Ich musste wissen, was mit Kindra passiert war.

Einige interessierte Blicke streiften mich. Arnen legte mir eine Hand auf den Unterarm. »Setz dich«, er deutete auf einen Hocker, »und reiß dich zusammen.«

Ich schluckte. Wenn das so einfach wäre.

Nachdem ich Platz genommen hatte, stellten die Männer die Becher zur Seite. Der linke begann: »Sie haben sie am Ufer gefunden und an den Königshof verkauft. Sie müsste längst dort sein.«

Mein Körper reagierte wie von selbst. Mit zitternden Knien sprang ich auf die Füße. »Sie lebt«, keuchte ich. Endlich hatte ich Gewissheit, dass ihr Herz noch schlug und sie auf mich wartete.

»Aber sie ist in der Gewalt des Königs«, zischte Runguhm.

Der rechte nickte und ergriff das Wort. »Wir waren zu spät.«

»Aber sie lebt.« Meine Muskeln spannten sich an. Wollten sie sie etwa schon aufgeben? »Ihr seid Hüter. Holt sie zurück.«

Arnen lachte. »Wir werden nicht den Palast stürmen. Und wir werden auch nicht unsere Spione gefährden für ein einziges Mädchen.«

»Aber es ist Kindra!«

»Es ist ein Goldkind«, sagte der Alte und die Geräusche im Raum verstummten. »Es ist wertvoll und eine Gefahr in den Händen unserer Feinde.« Er stemmte die Hände auf seine Knie und erhob sich langsam. »Aber dieser Kampf ist größer als das Leben eines Mädchens. Unser Land ist in Gefahr und wir können unsere jahrelange Vorbereitung nicht für die Rettung von Kindra aufs Spiel setzen.«

Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Arnen kam mir zuvor. »Wir sind machtlos, Saki. Schon seit Jahren rüstet der König das Heer auf. Wir müssen bereit sein, falls er entscheidet zu marschieren.«

Ein Krieg? Angespannt wich ich einen Schritt zurück. Der König bereitete sich vor, das Gezeitenreich anzugreifen? Das war doch nicht möglich. Ich schloss die Augen und verdaute diese Neuigkeit. Die Einwohner des Gezeitenreiches schwebten in größerer Gefahr, als ich es für möglich gehalten hatte. Doch was hatte das für eine Bedeutung? Neor war tot. Meine Heimat war kein Ort mehr. Sie war ein Mädchen, das entführt worden war und das ich wiedersehen wollte.

»Ihr lasst sie im Stich.« Kopfschüttelnd verschränkte ich die Arme. »Das kann ich nicht akzeptieren.« Mein Blick schweifte von den Männern, die im Schwarzen Markt gewesen waren, über den Alten und zurück zu Arnen. Kräftig schlug das Herz in meiner Brust. »Ihr wollt eure Leben nicht riskieren. Das kann ich von keinem verlangen.« Fahrig krallte ich die Finger in den Stoff meines Hemdes. »Aber mein Leben kann ich geben. Helft mir und ich werde alles tun.«

»Saki.« Arnen seufzte, doch Runguhm hob die Hand.

»Kindra ist eine weitere Energiequelle für die Goldmagier. Sie bringt den König seinen Zielen wieder ein Stück näher.«

Eine Stille senkte sich über die Anwesenden in der Höhle.

»Die Auswahl«, sagte Runguhm, nachdem seine Worte gewirkt hatten, und fixierte mich. »Alle paar Jahre werden Jungen aus den Dörfern für die Garde des Königs rekrutiert. Wärst du bereit, dein Leben im Gezeitenreich aufzugeben und als Junge der Eisendynastie dein Leben der Garde des Königs zu verschreiben?«

Alle Blicke wanderten zu mir. »Die Armee des Königs?«

»Es bringt dich zu ihr an den Hof. Ob du an sie herankommst, ist dennoch fraglich. Aber es wäre ein Anfang …«

Arnen betrachtete Runguhm, dann mich. »Wer weiß, ob du sie retten kannst, ohne dass du auffliegst und mit dem Leben bezahlst.« Mit zusammengezogenen Augenbrauen kam er auf mich zu und griff meine Schultern. »Als Spion der Hüter gilt es mehrere Prüfungen zu bestehen. Auch wenn wir für dich eine Ausnahme machen, musst du dich als würdig erweisen, bevor wir dich in die Reihen unseres Feindes schicken. Die Geheimhaltung der Hüter hat oberste Priorität. Ich hoffe, du verstehst das.«

»Natürlich.« Ich öffnete die verschränkten Arme und senkte den Blick. Die Hüter setzten sich für unser Reich ein – niemals würde ich verlangen, dass sie sich in Gefahr brachten.

Aber ich konnte mich selbst opfern.

Entschlossen sah ich Arnen an, dann Runguhm und den Ältesten. »Vielleicht verliere ich mein Leben, bevor ich einen Fuß in den Palast gesetzt habe. Oder ich sterbe, ohne Kindra von dort befreien zu können. Aber ich bin bereit, mich von euch ausbilden zu lassen und euer Geheimnis mit in den Tod zu nehmen – falls das nötig sein sollte.«

»So sei es dann«, brummte Arnen und reichte mir die Hand.

Ich nahm die dargebotene Geste an und besiegelte so mein Schicksal. Vor der Zerstörung hatte ich Grünfrey nie verlassen. Jetzt trainierte ich bei den Hütern und vor mir lag eine Zukunft als Spion. Mit der Hand fuhr ich in die Hosentasche und umklammerte den Holzvogel. Dieser Plan gab mir keine Gewissheit, aber Hoffnung. Mehr brauchte ich nicht. Der Holzvogel drückte sich in meine Handfläche, als ich fester zupackte.

Mein nächstes Ziel stand fest: die Armee des Königs.

Der nächste Tag brach an – und meine Ungeduld blieb ungezügelt. Arnen konnte mir nicht sagen, wann es weiterging, wie lange ich ausharren musste, bis meine Prüfung begann – oder was diese genau beinhalten sollte. Darüber wollte er sich mit dem Ältesten noch beratschlagen.

Es war ein weiterer eisiger Tag, an dem ich mit den anderen Männern trainierte. Ich kämpfte gegen einen Mann, der Goum hieß. Er überragte mich um einen Kopf und war mehr als doppelt so breit. Seine Schläge waren kraftvoll – das hatte ich die letzten Tage häufiger zu spüren bekommen. Aber ich nutzte meine wachsende Kraft und Geschwindigkeit und wich gekonnt seinen Hieben aus. Hier und da versetzte ich ihm einen Stoß, während ich um ihn herumwirbelte. Nach einer kurzen Zeit war das Duell vorbei.

Ich siegte und die anderen Männer grölten lautstark über meinen Triumph.

Arnen klopfte mir auf die Schulter. »Gut gemacht«, lobte er mich. »Komm mit mir, ich muss dich sprechen.«

In meinem Kopf überschlug sich alles. Meine Ungeduld schrie hoffnungsvoll, es sei so weit. Vor Aufregung zitterten meine Hände.

Schweigend folgte ich ihm und wir setzten uns auf eine etwas erhöhte Felskante, mit Blick auf die kämpfenden Männer.

»Das war dein erster fehlerfreier Kampf«, begann Arnen. »Wirklich sehr gut. Deine Fortschritte sind für diese kurze Zeit beeindruckend.«

Ich nickte, obwohl sich die Zeit wie eine grausame Ewigkeit angefühlt hatte. Meine Anspannung wuchs, staute sich in meiner Brust an und drohte, mich zu zerreißen. »Ich gebe mein Bestes«, antwortete ich.

Arnen ließ den Blick über den Trainingsplatz schweifen. »Das sieht man.« Dann wandte er sich mir zu und sah mir in die Augen. »Wenn du so weitermachst, könntest du vielleicht schon an der Kampf­prüfung in einem Monat teilnehmen.«

Die Ungeduld in mir schien zu explodieren und alles mit sich zu reißen. Die Hoffnung und Anspannung wurden von ihr überrannt. »Eine Prüfung? In einem Monat?!«, schrie ich entsetzt. Meine Zurückhaltung war wie weggeblasen. »Das ist doch verrückt! So lange kann ich nicht warten!«

Arnen schüttelte den Kopf. »Das ist früher, als es bei allen anderen üblich ist. Dein Körper braucht seine Zeit, um sich aufzubauen. Das passiert nicht über Nacht.« Mit wachsamen Augen betrachtete er mich. »Saki, wir hatten das gestern besprochen. Wir müssen uns sicher sein, dass du für deine wahnsinnige Mission bereit bist.«

»Aber ich habe keinen Monat! Jeden Tag, den ich hier sitze, warte und nichts tun kann, um sie zu retten … Jeden Tag sterbe ich ein kleines Stück! Ihr verschwendet meine Zeit! Ihr habt mir versprochen, dass ihr mir helft, sie zu befreien!«

»Und genau das tun wir hier.« Arnens Stimme war sachlich und kalt. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte mich angeschrien. »Wenn du überstürzt losziehst, wirst du sterben. Du versagst und reißt uns mit in den Untergang.« Er stand auf und sah auf mich herab. »Wie ich sehe, bist du noch nicht bereit. Dein Geist ist zu schwach und lässt sich von deiner Ungeduld beherrschen.« Ein paar Schritte entfernte er sich von mir, bevor er stehen blieb und sich umdrehte. »An der Prüfung wirst du nicht teilnehmen.«

Mit offenem Mund und verrauchter Wut blieb ich zurück. Meinte er das ernst? Hatte ich gerade meine Chance auf eine verkürzte Ausbildung verspielt? Schnaubend sprang ich auf die Füße. So schnell konnte es noch nicht vorbei sein!

Nach dem Gespräch mit Arnen trainierte ich fleißig weiter. Ich nahm mich zurück und kämpfte gegen meine Ungeduld, die schwerer in meinem Innern wog als zuvor. Sie ließ mich an meinem Handeln zweifeln. War das hier der richtige Weg? Ließ ich Kindra im Stich, indem ich hier trainierte? Doch ich hatte gesehen, was die Gold­magier zustande brachten. Wie sie das Wasser beherrschten. Die Legenden, die über sie erzählt wurden, verdeutlichten mir: Meine Chancen waren gering. Wenn ich in die Eisendynastie eindringen, es lebend bis in den Palast schaffen wollte, brauchte ich diese Ausbildung. Die Hüter waren die Einzigen, die mir dieses wahnsinnige Unterfangen ermöglichen konnten.

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9783959915106
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