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Ein Haus am Meer

»Jetzt entspann dich erstmal! Ihr schafft das schon!« Melanie knuffte Sebastian sanft in die Rippen und er mühte sich ein Lächeln ab. Sie hatte gut reden, war sie ja letztlich »nur« für die Verwaltung der Forschungsprojekte zuständig. »Projektmanagerin«. Nette Bezeichnung für eine Strippenzieherin. Er schaute zu ihr herüber, wie sie sich tiefer in die Decke kuschelte, die sie sich über die Schultern gelegt hatte. Die Meeresbrise umspielte ihr Gesicht. Eine überaus hübsche Strippenzieherin.

Sebastian brach das Brot, das auf der Picknick-Decke lag und reichte ihr ein Stück.

Sie lächelte ihn an. »So ist es richtig. Essen hält Leib und Seele zusammen und lenkt etwas ab.« Melanie deutete nach vorne. »Wenn es die tolle Aussicht nicht schon schafft.«

Sebastian atmete die salzig-kalte Meeresluft tief ein und ließ den Blick schweifen.

»Da hast du recht, wirklich nett hier oben!« Er durfte nur nicht hinunterschauen. Oben auf dem Hügel zu sitzen, war nicht minder abenteuerlich, als es klang. Allein der Aufstieg war aller Ehren wert gewesen. Normalerweise kraxelte keiner auf eben jenem Hügel herum, unter dem der Bunker gelegen war. Wenn er hinter sich schaute, sah er auf den Parkplatz, wo sie der Hubschrauber abgesetzt hatte. War das wirklich schon so viele Tage her?

Sebastian schüttelte den Kopf, vertrieb die mürrischen Gedanken, die sich nach den etlichen Fehlschlägen bei den Forschungsprojekten seiner bemächtigt hatten und tunkte stattdessen ein Stück Baguette in den Frischkäse, schmeckte das würzig-leichte Aroma und seufzte. Ja, so konnte man es sich gut gehen lassen.

Melanie zu seiner Rechten ließ es sich ebenfalls gut gehen und so genossen sie die folgenden Minuten in aller Ruhe ihr Essen, ließen sich vom zwar kalten, aber angenehmen Wind umwehen und schauten auf das Meer hinaus. Möwen zogen ab und an über sie hinweg und in der rückwärtigen Ferne konnte man den erhellten Himmel über Skagen sehen. »Lichtverschmutzung«, wie sie es in der Forschung nannten. Ach, nicht schon wieder diese Gedanken an ihre Forschungen! Warum konnte sein Hirn nicht einfach mal das Maul halten und einfach nur genießen? Missmutig legte er das Brot beiseite.

Melanie schaute ihn an, der Wind hob ihre feuerroten Haare an und ließ sie um ihr zierliches Gesicht tanzen.

»Du kannst immer noch nicht abschalten, oder?«, fragte sie überflüssigerweise, aber Sebastian hätte ihr jede noch so dumme Bemerkung verziehen. Sie hatte ihn längst in ihren Bann gezogen. Ob er sich Hoffnungen machen durfte? Immerhin hatte sie das Picknick vorgeschlagen. Oder wollte sie nur, dass er gut »funktionierte« und seine Arbeit zügiger erledigte, als wenn er im stillen Kämmerlein seinem Frust immer mehr in sich hineinfraß?

»Nein, nicht wirklich.« Er sah das enttäuschte Aufblitzen in ihren Augen und beeilte sich, hinzuzusetzen: »Dennoch war es eine tolle Idee!« Zügig nahm er das Weinglas und hielt es ihr zum Anstoßen hin. Melanie schaute ihn an und das Lächeln kam zurück, ihre Gläser klirrten sachte aneinander.

»Schalt einfach mal ab. Das wird schon noch. Du bist erst seit wenigen Tagen im Team, so wie alle anderen auch. Bis alle vernünftig miteinander arbeiten und es auch Ergebnisse gibt, wird noch einige Zeit ins Land gehen. Das ist hier allen bewusst.«

»Ja, aber das ist es nicht. Jeder Ansatz, gleich welcher, ist bisher bereits im Ansatz zunichte gemacht worden durch Einwände von irgendjemandem im Team. Keine Sorge, alle waren berechtigt, aber hier traut sich keiner, mal quer zu denken, und auch mal einen etwas weniger erfolgsversprechenden Weg zu versuchen.« Er holte tief Luft. »Hat man uns denn nicht dafür hier versammelt? Um auch mal etwas abseits der bereits ausgetretenen Pfade zu forschen? Nur mit der reinen Lehre werden wir nie Ergebnisse erzielen!« Er stürzte den Wein hinunter, der sich warm in seinem Magen sammelte und fing unwillkürlich wieder damit an, an seinen Daumen zu knibbeln, bis die altvertrauten Schmerzen in seinen Geist stachen und er schuldbewusst die Hände faltete. Mit diesen affigen Kindereien hatte er schon lange aufhören wollen, aber sein Unterbewusstsein brachte ihn immer wieder dazu. Der Schmerz hatte ihm immer geholfen, klar zu denken. So dumm es auch war.

»Ihr findet schon einen Weg.« Melanie beugte sich zu ihm herüber, strich durch seine kurzen Haare und tippte ihm unvermittelt auf die Stirn. »Da ist ein so schlauer Geist hinter, ihr beide schafft das schon!«

Ohne nachzudenken, legte er seinen Arm um sie, zog sie zu sich heran. Ihre Lippen trafen sich, der Kuss dauerte nur eine Sekunde, dann löste sie sich von ihm, um ihm mit geröteten Wangen ins Gesicht zu schauen. Sein Herz rutschte abwärts, aber dann lächelte sie. »Ich hatte schon gedacht, du kommst gar nicht mehr aus deinem Schneckenhaus.« Mit diesen Worten beugte sie sich vor und nun war sie es, die den Kuss begann. Die Zeit verlor an Bedeutung, ihre Zungen umspielten einander, Melanies Hände glitten unter seine Decke, sie zog ihn zu sich, dann lag er auch schon halb auf ihr. Er küsste ihren warmen, weichen Hals und spürte sie unter seinen Zärtlichkeiten erschauern. Ihre Hände umfassten sanft seinen Kopf, sie zog ihn wieder zu sich.

»In mein Zimmer. Sofort!«, hauchte sie ihm ins Ohr. Die Picknickdecke blieb zurück, als sie eilig den Abstieg zum Parkplatz begannen. Ein Windstoß erfasste sie, man hörte die Gläser klirren und ein Picknickkorb polterte an ihnen vorbei in die Tiefe und schlug dumpf auf dem Parkplatz auf. Melanie konnte nicht mehr aufhören zu lachen.

Sebastian streichelte sanft über Melanies Kopf, der auf seiner Brust ruhte. Ihr Atem ging ruhig, müde und matt. Er hingegen war wach, konnte nicht schlafen, konnte sein Glück kaum fassen. Den Körper dieser Frau zu spüren, die sich an ihn schmiegte. Schlank, gut gebaut und dabei sowohl mit Intellekt wie auch »Charakter« im ureigensten Sinne gesegnet. Das war mehr, als er jemals an Glück erfahren hatte. Er kringelte eine Haarsträhne von ihr auf den Zeigefinger, bis sie wie ein roter Ring die Haut umfasste, dabei atmete Melanie warm auf seine Brust. Der Sex war richtig gut gewesen, kein schnelles Rein-Raus, mehr ein sorgsames Erforschen des Gegenübers, vorsichtig, aber nicht zurückhaltend. Er lachte leise auf. Nein, zurückhaltend war sie überhaupt nicht gewesen. Sie hatte wie selbstverständlich den aktiven Part übernommen und ihn geführt. Sebastian seufzte. Wie lange hatte er schon nach einer solchen Frau gesucht. Er musste sich eingestehen, dass es vielleicht auch die Gedanken an sie gewesen waren, die ihn in den letzten Tagen abgelenkt hatten. Es waren bei weitem nicht nur die Kleinkariertheiten im Team, wie er ihr erzählt hatte, die bisher erfolgreiche Ansätze Mangelware sein ließen. Nein, es war auch ein Mangel an Ideen an sich, da konnte er sich auch nicht wirklich ausnehmen.

Melanie streckte sich unversehens und ihr Arm streichelte über seinen, wie er sich eingestehen musste, etwas zu umfangreichen Bauch. Nicht wirklich dick, aber von schlank auch gut fünf Kilo entfernt. Durchschnitt eben. Umso weniger verstand er, wie ihre Wahl auf ihn gefallen war. Dann schlug seine Herzensdame die Augen auf, räkelte sich, wobei eine Strähne auf ihre süßen Brüste fiel und dort liegen blieb. Sofort setzte das Kribbeln in seinen Lenden wieder ein. Melanie schmunzelte ihn an, als die Decke sich leicht hob.

»Na, du hast aber einen gesunden Appetit.« Dann gab sie ihm einen innigen Kuss. »Aber entschuldige, mir knurrt derart der Magen, dass ich Angst hätte, sonst dich aufzufressen.« Sie quiekte leicht auf, als ihre nackten Füße den eiskalten Betonboden berührten und beeilte sich, im Bad zu verschwinden. Sebastian sah ihr verträumt hinterher, konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Ihr Apfelpo, die festen Brüste, die schlanke Taille, garniert mit ihrem feuerroten, langen Haar, ein zierliches Gesicht umrahmend. Er sank zurück auf das Kissen und absolutes Glück wärmte ihn von innen.

Dann hörte das Rauschen des Wasserhahns auf und Melanie steckte ihren Kopf durch den Türrahmen.

»Kommst du mit, was essen?«

Sein Magen knurrte zustimmend. Und ob er das würde.

Melanie nickte dem Küchenhelfer zu, der gerade das 24-Stunden-Buffet wieder auffüllte und setzte sich dann mit einem reichhaltig gefüllten Tablett zu Sebastian an den Tisch in der Messe. Das Essen war erstklassig, die UN wusste, dass zufriedener Geist besser forschte. Umso anachronistischer waren die überaus harten Bänke und Tische, die aus einem alten US-Marine-Film geklaut zu sein schienen. Obwohl, wenn man es anders sah: So blieben die Forscher nicht zu lange sitzen, sondern gingen zügig wieder an die Arbeit. Sebastian konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Oder sie gehen miteinander ins Bett.

Melanie sah seine gehobenen Mundwinkel und schaute ihn fragend an.

»Ach, nichts«, wehrte er ab und stopfte sich, statt eine längere Antwort zu geben, einen Löffel Müsli in den Mund. Eigentlich die völlig falsche Uhrzeit für Müsli, aber die Forscher hatten völlig freie Hand, zu welcher Uhrzeit sie aktiv sein wollten. Daher war das 24-Stunden-Buffet auch genau das: Frühstück, Mittagessen und Abendessen in einem. Man bekam alles, was das Herz begehrte und die Küche sorgte dafür, dass die Auswahl, gleich zu welcher Zeit, reichhaltig war. Daran konnte man sich gewöhnen.

»Und, wann gehst du wieder an die Reagenzgläser?«, wollte Melanie wissen und biss herzhaft in ihren Hamburger.

Sebastian zuckte mit den Achseln.

»Di Matteo, Heiderlein und Izniv wollten so gegen drei wieder anfangen. Werde mich dann wohl dazugesellen.«

Melanie nickte und schaute auf die Uhr an der Wand der Messe. »Ach, gut, dann haben wir ja noch zwei Stündchen. Wobei ...«, sie legte den Kopf leicht schief und Sebastian konnte das mittlerweile als ihre Geste des Nachdenkens einordnen, »eigentlich könnte ich jetzt gleich besser wieder in mein Büro verschwinden. Um diese Zeit erreicht man in New York die Leute am Besten und ich muss noch ein paar Gespräche mit den UN-Eierköppen dort führen.«

Sie stopfte den letzten Bissen ihres Hamburgers in ihren süßen Mund und wischte mit der Serviette darüber. »Und, sehen wir uns nach deiner Schicht?«

Sebastian konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. »Glaubst du wirklich, du wirst mich jetzt noch so leicht los?«

Sie schüttelte mit gespieltem Ernst den Kopf. »Aber Herr Born. Glauben Sie wirklich, ich hatte mehr als eine Befriedigung der ureigensten Triebe im Sinn?« Dann stand sie auf, ging zu ihm und küsste ihn sanft. »Es war sehr schön. Ich freue mich darüber. Über uns.«, flüsterte sie ihm ins Ohr und ging zur Tür. Bildete er sich das nur ein, oder wackelte sie etwas mehr mit dem Po, als notwendig. Als sie sich umdrehte und ihm zuzwinkerte, musste er lachen. Sie spielte mit ihm und er stellte sich nur zu gerne zur Verfügung.

Als sie aus der Tür war, vertilgte er ebenfalls sein Müsli, spülte mit etwas O-Saft nach und ging in sein Quartier zurück. Mit etwas Glück konnte er noch fast zwei Stündchen pennen, bevor sich die anderen Forscher aus seiner Gruppe wieder treffen wollten. Die Müdigkeit schwemmte durch seine Glieder. Er hatte diese Nacht nicht wirklich geschlafen. Und bereute keine Minute davon.

»Stimmen Sie da zu, Herr Kollege?«

Sebastian schreckte hoch und sah, dass die anderen Leute aus seinem Team erwartungsvoll zu ihm sahen. Blut schoss ihm in die Wangen. Er war gedanklich gerade völlig woanders gewesen. Sanfte Haut, fordernde Berührungen, absolutes Glück für einen Sekundenbruchteil.

Sebastian schüttelte den Kopf. »Entschuldigen Sie bitte, ich habe den letzten Teil nicht mitbekommen.«

Der untersetzte Italiener Di Matteo lachte auf, ging um den Labortisch, der reich gefüllt war mit Reagenzgläsern unterschiedlichsten Inhalts, und schlug Sebastian freundlich auf die Schulter, wobei sein drittes Kinn im Takt mit seinem zweiten wabbelte.

»Keine Sorge, es war nichts Wichtiges. Sie sehen eh sehr müde aus.«

»Nichts Wichtiges?«, ereiferte sich Frau Heiderlein, der ihr weißer Kittel viel zu groß war. Kein Wunder, bei fast bulimischen Körpermaßen war selbst eine Wurstpelle zu weit. Dazu noch die strohig-blonden Haare und das kantige Mittfünfziger-Gesicht und Sebastian konnte nur zu gut verstehen, dass hinter ihrem Rücken diverse Bezeichnungen die Runde machten. Mit der aktuellen, »Hungerhaken«, war sie noch gut bedient. Ihr Mangel an Humor tat ein Übriges. Aber sie war eine brillante Chemikerin, daher hatte er sich diesem Team angeschlossen. Die Führung ließ den Forschern alle Freiheiten, sich zusammenzuschließen oder allein zu forschen, jeder wie er mochte. Es waren einfach zu viele Freigeister unter einem verdammt dicken Dach versammelt, jeder Zwang wäre da kontraproduktiv gewesen. Wenigstens war der ewig kalauernde Izniv, der die meist schweinischen Witze mit seinem russischen Akzent nicht wirklich besser machte, heute nicht mit von der Partie. Sonst hätte sich Sebastian längst die Kugel gegeben.

»Ach, lassen Sie es doch gut sein, meine Beste!«, beschwichtigte Di Matteo und schob sich einen weiteren Schokoriegel in den Mund, nur um ausgerechnet Hungerhaken auch einen anzubieten, die ihn anschaute, als ob er ihr vorgeschlagen hätte, sich augenblicklich auszuziehen und es mit ihm auf dem Boden des gläsernen Labors zu treiben.

Sebastian grinste, versteckte es schnell hinter der Hand und ließ es in ein Gähnen übergehen, als Heiderlein auch ihm einen bösen Blick zuwarf.

»Also, wo waren wir stehengeblieben?« Sebastian ging zum nächsten der reichhaltig im Raum verteilten Terminals hinüber, zog sich einen Hocker heran und rief das Berechnungsprogramm auf, an dem sie gemeinsam arbeiteten. Das Klima war derart kompliziert, dass eine Berechnung verschiedener Einflussfaktoren ohne Computer völlig unmöglich war. Und zudem basierte das Modell auf seinen Entwürfen, was ihn etwas stolz machte.

Der Italiener walzte von hinten heran und trotz der Größe des Labors, dem gläsernen Kasten in der Haupthalle der Anlage, fühlte sich Sebastian beengt.

»Unsere werte Kollegin hier hatte gerade eingeworfen, dass Ihr Modell bisher die Auswirkungen der Meeresströmungen auf das Klima nicht ausreichend berücksichtigen würde.«

Sebastian drehte sich auf dem Hocker um und erschrak fast. Heiderlein war nahezu lautlos direkt hinter ihn getreten und machte nun erschrocken einen kleinen Satz zurück, nur um ausgerechnet ihn danach tadelnd anzuschauen. Er nickte ihr zu. »Da haben Sie Recht. Das ist noch ein Schwachpunkt.« Das Grinsen, dass nun auf Hungerhakens Gesicht erschien, erinnerte mehr an einen Hai als an eine Frau und Sebastian beeilte sich, sich wieder zum Terminal umzudrehen.

»Gut, dann wollen wir mal die zusätzlichen Daten einpflegen«, sagte er mehr zu sich und machte sich an die Arbeit. Das konnte dauern.

Dreißig silberne Bytes für seinen Kopf

Ein muffiger Geruch lag in der Luft, gemischt mit dem bitteren Aroma von rostigem Metall und altem Öl. Regina spürte jede einzelne der altersschwachen Federn des Sofas, saß mit angezogenen Beinen einfach nur da und ließ die Tränen über ihr Gesicht laufen. Ben war weg. Lebensmittel besorgen, damit sie sich erst mal verkriechen konnten. Hier. Im Nirgendwo. Irgendein halbleeres Lagerhaus, irgendein Industriegebiet. Völlig egal. Ihre Existenz war weg, einfach davongewischt von den Ereignissen der letzten Stunden. Wie sie im Eiltempo zu ihren beiden Wohnungen gerast waren und das Nötigste zusammen gekratzt hatten. Immer einen Blick über die Schultern geworfen, ein kerniges »Stehenbleiben, Sie sind verhaftet« erwartend. Nichts dergleichen war passiert, aber untertauchen mussten sie trotzdem. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei ihre Namen und Adressen hatten, ihrem verlorenen Laptop sei Dank. Natürlich war sie eine brave IT-Frau gewesen und hatte ihr Laptop mit einer entsprechenden Verschlüsselung versehen. Aber wenn die Polizei es wirklich ernst meinte ... wie gesagt, nur eine Frage der Zeit. Dass außerdem ihr Portemonnaie mit im Rucksack gewesen war, machte die Diskussion um den Laptop überflüssig. Und ein Foto von Ben mit Liebesschwur in Handschrift auf der Rückseite lag in der Vordertasche. Ein letztes sarkastisches Detail, ein letztes Puzzlestück, das endgültig jenes Bild ergab, dass das Schicksal sich eine Meinung über ihre Aktivitäten gebildet hatte. Und es war ihnen nicht mehr wohlgesonnen, sondern hatte ihnen stattdessen in die Kniekehlen getreten. Lege dich nicht mit Mächten an, die du nicht begreifst. Sie umschlang ihre Beine. Salzig warm lief ihr die Tränen über die Wangen.

Ihr fehlte Bobo. Aber Ben hatte recht. Einen Hund mit »auf die Flucht« zu nehmen, wäre eine bescheuerte Idee gewesen. Also hatte sie den Hund bei einer Nachbarin gelassen, die schon früher ab und zu mit ihm Gassi gegangen war. Bobo, der immer bei ihr im Bett geschlafen hatte und sie morgens so lange nervte, bis endlich Futter im Napf war. Ihr Schniefen hallte laut in dem halb leeren Büro der Lagerhalle nach, ein Weinkrampf schüttelte ihre Glieder und sie ließ sich von ihren Emotionen davontragen. Ihr Leben, wie sie es kannte, war vorbei.

Ben saß neben ihr auf der altersschwachen Couch. Sie schwiegen sich an. Draußen surrte ein Gabelstapler durch die halbleere Halle und Regina schreckte hoch.

»Keine Sorge. Das Büro wird nicht mehr gebraucht, wir können hier bleiben, hab ich abgeklärt.« Er legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. Fast panisch wischte sie den Arm weg und stand auf.

»Spinnst du? Ich soll mir keine Sorgen machen? In so einem Mist wie dem hier hab ich noch nie gesteckt. Wir sind völlig am Arsch, Schatzi!« Regina verschränkte die Arme vor der Brust und schaute Ben direkt in die Augen. Am liebsten hätte sie ihm eine runtergehauen.

Ben breitete die Arme aus, ließ sie aber schnell wieder sinken, als sie ihn düster anfunkelte.

»Hey, komm schon. Ich weiß selbst nicht, was da gelaufen ist.«

»Ach nein, auf einmal weiß Mister Allwissend mal nicht weiter?! Ist ja was ganz Neues!« Das Blut stieg ihr in den Kopf.

Sein Mund blieb halb offen stehen, dann zogen sich seine Augenbrauen zusammen.

»Jetzt hör mal zu. Hätte ich dich besser den Bullen überlassen sollen, anstatt dich aus ihren Händen zu retten? Kannst du haben! Geh einfach zu ihnen. Dank deines Laptops und deines Rucksacks wissen sie ja auch gar nicht, wer du bist ...«

Sein Kopf flog nach links, die Ohrfeige hatte er nicht kommen sehen. Regina rannte in die andere Ecke des Raums, ließ sich an der Wand zu Boden sinken und vergrub ihren Kopf in den Armen.

Die Minuten verstrichen. Dann setzte sich Ben neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. Erst versteifte sie sich, dann ließ sie ihn gewähren und die Tränen fließen.

Ben strich ihr sanft über den Kopf.

»Komm schon, wir schaffen das. Ich kenne Leute, die uns neue Identitäten besorgen können. Wir fangen einfach noch mal von vorne an. Und du kannst nicht gerade behaupten, dass du deinem Traumjob ewig hinterher trauern wirst«, und knuffte ihr in die Seite.

Sie lachte, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Wie sie wohl aussah ... völlig egal in diesem Moment. Regina kuschelte sich an seinen Arm. Seinen starken Arm. Und schloss die Augen.

»Und wie geht es jetzt weiter?«

Ben küsste sie auf den Kopf und sagte: »Jetzt hören wir erst mal bei den anderen nach, wie sie aus der Scheiße herausgekommen sind. Oder ob wir vor unserem Besuch beim Türken noch zum Baumarkt müssen, um eine Metallsäge für die Gitter zu besorgen.«

»Du kannst auch nicht einen Moment ernst bleiben«, schalt sie ihn.

»Nein. Wenn du in meiner Nähe bist, verliert das Leben an Ernsthaftigkeit.«

»Alter Charmeur.«

Dann stand sie auf und reichte ihrem Adonis die Hand.

»Dann lass uns mal, bevor wir hier endgültig in Tränen versinken.«

Er lächelte zu ihr hoch, griff ihre Hand und ließ sich hochziehen. Sie umarmten und küssten sich.

Es musste einfach weitergehen. Und Ben hatte Recht. Wenn Sie es genau bedachte, war ihr altes Leben nichts, dem sie ewig hinterhertrauern würde. Teile davon würden ihr fehlen. Das Gros aber nicht. Aber konnte Sie als Flüchtling leben? Immer den Kopf unten halten, falsche Identitäten benutzen, immer den Atem der Verfolger im Nacken? Sie schüttelte innerlich den Kopf, alles war so kompliziert geworden. Ein Seitenblick zu ihrem Traummann, dessen Augen selbst in diesem Moment siegessicher strahlten. Hauptsache, er war bei ihr.

»Ischar ist nirgendwo aufzufinden«, sagte Mike und schüttelte den Kopf. Wie eine Klischee-Verschwörer Truppe standen Sie unter dem Bahnhofsvordach, in Reichweite von Taxistation, U-Bahn und mehreren Fluchtmöglichkeiten in alle Richtungen.

»Ich hab auch nichts von ihm gehört«, pflichtete Kevin bei und nippte an seinem Kamps-Kaffee.

Ben warf Regina eine Brötchentüte zu und gesellte sich zu der Truppe.

»Die Bullen haben ihn nicht, da sind meine Informanten absolut sicher.« Die letzten Worte gingen fast im Schmatzen unter, als Ben in sein Bulettenbrötchen biss. Das beste Essen seit Tagen.

Sie standen schweigend beisammen, Nieselregen zog Schlieren über die Welt. Der dumpfe, allgegenwärtige Verkehrslärm übertönte leisere Gespräche.

Mike brach als erster das Schweigen. »Ich sprech es ja nur ungern aus. Aber wir müssen davon ausgehen, dass das mit den Bullen kein Zufall war. Unsere Truppe ist aufgeflogen.«

Er sprach den Fakt so kühl, fast berechnend aus. Regina schauderte, auch wenn sie Mike mittlerweile gut genug kennengelernt hatte, um zu wissen, dass er in Krisensituationen so reagierte. Ben nannte ihn manchmal »den Vulkanier«. Das passte – wenn es hart auf hart kam. Sonst war auch Mike ein Spaßvogel.

Ben nickte und auch von Kevin kam zwischen zwei Schlucken Kaffee ein zustimmendes Brummen. Wortkarg wie so oft.

»Also?«, fragte Regina in die Runde.

»Also?«, erwiderte Ben und zuckte mit den Achseln. »Wir machen weiter, oder?«

Mike schaute Ben an, zögerte einen Moment, nickte dann fast unmerklich.

»Die ganzen schlauen Sprüche hätten wir uns sparen können, wenn wir schon beim ersten wirklichen Ärger den Schwanz einziehen und zu den McDonalds-Jüngern desertieren.« Der Öko drückte einige hartnäckige Strähnen seines dunkelblonden Haares wieder unter die Norweger-Mütze, die er sich so weit wie möglich ins Gesicht zog. Im wärmsten Winter seit Menschengedenken. Sie sahen wirklich aus wie die Archetypen einer Verschwörergruppe. Warum riefen sie nicht gleich nach den Jungs in Grün?

Kevin nippte weiter an seinem Kaffee, die Sekunden verstrichen. Ein LKW fuhr brummend vorbei. Dann ließ er den Pappbecher sinken und schaute in die Runde. »Ich bin mir nicht sicher. Ganz ehrlich, Jungs. Wir werden eh in der nächsten Zeit die Köpfe unten halten müssen, bis die Bullen ihr Interesse an uns verloren haben. Wenn wir nicht unsere komplette Identität wechseln wollen samt neuem Ausweis und so, werden wir umziehen müssen. Da weiß ich nicht, ob wir uns den Ärger neuer Aktionen in dieser Zeit wirklich aufladen sollten.«

Regina hatte sich bei Ben eingehakt und spürte, wie er die Faust in der Tasche ballte.

»Du willst also die Umweltverschmutzer für ein ›paar Monate‹ gewähren lassen? Die Natur hat auch keinen Urlaub, Kevin!« Er spuckte den Namen fast aus, wie ein Schimpfwort.

Der Dürre zuckte zusammen, blickte schuldbewusst zu Boden.

»Ich sag doch nur für kurze Zeit. Nicht ewig. Dann machen wir natürlich weiter, egal ob hier oder woanders in Deutschland.«

Ben ging zu seinem Mitstreiter, hielt ihn an den Oberarmen fest und schaute ihm ins Gesicht.

»Ich brauche dich, Mann. Ohne dich können wir nicht weitermachen. Wir haben das hier zusammen angefangen, also müssen wir es auch gemeinsam zu Ende bringen. Dass wir in dieser beschissenen Welt des Kommerz und Politikbetrugs am Ende wohl kaum als strahlende Helden in den Sonnenuntergang reiten würden, war uns allen klar.«

Kevin konnte den Blick seines Anführers nicht aushalten und schaute zu Boden. Dann nickte auch er und aus der Umklammerung wurde ein Umarmen. Bens Laune machte einen 180-Grad-Turn und er lachte seinen Mitstreitern zu.

»Wir schaffen das, gemeinsam.«

Regina schluckte. Die letzten Worte ihres Adonis hatte sie sich so bisher nie klar gemacht. Wohin führte ihr Weg, wenn man ihn mal zu Ende dachte? Letztlich doch ins Gefängnis. Oder ein »ewiges«- und wahrscheinlich kurzes – Leben im Untergrund, dauernd auf der Flucht. War es das, was sie wollte? Gab es noch eine Abfahrt »normales Leben«?

Ben nahm sie am Arm, ging mit ihr und den anderen hinunter zur U-Bahn.

Er musste ihre Zweifel gespürt haben, jedenfalls setzte er sich in der U-Bahn mit einem Nicken zu den anderen allein mit ihr auf eine Bank. Ben verscheuchte ein paar Punks, die die restlichen beiden Sitzplätze in der Vierergruppe ergattern wollten und sich daraufhin vom Acker machten. So sicherte er ihnen den größtmöglichen Raum an Privatsphäre, den das moderne Reisen ohne Auto bieten konnte. Einen Einzelplatz in einer brechend vollen U-Bahn. Mitten im modernen Sprachen- und Geruchsgewirr, das über allem lag mit seiner Mischung aus Deo-, Achselschweiß- und Pommesgeruch.

»Willst du aussteigen, Schatz?« Er sah ihr tief in die Augen, strich ihr über die Wange. »Wenn es das ist, was dich glücklich macht, werde ich das möglich machen. Okay, anderer Name und andere Stadt, darum wirst du kaum herumkommen nach dem unerfreulichen Aufeinandertreffen mit den Grünen Männchen. Aber du könntest wieder halbwegs normal leben.«

Sie zuckte mit den Achseln, kämpfte mit den Tränen, blickte zu Boden. Sanft hob er ihr Kinn hoch und legte seine Stirn an ihre.

Die U-Bahn fuhr ratternd los, ihre Köpfe schaukelten.

»Hör mir zu, Baby. Du hast hinter den Vorhang geblickt. Gesehen, was in dieser Welt möglich ist, wenn man mit den lächerlichen Vorschriften der ach so aufgeklärten Beckmann-Jauch-Teletubby-Gesellschaft bricht.« Er ließ seinen Blick durch die prall gefüllte Bahn streifen.

»Willst du wirklich wieder zurück zu den Horden uninformierten Wahlviehs? Oder den Handzettel-Verteilern von Greenpeace?«

Ihr Kopf schwirrte. So viele Fragen, so schwerwiegende Entscheidungen. Regina schaute zu ihm hoch, ihre Blicke trafen sich. Und das Gefühl kehrte zurück, das wichtigste Gefühl in ihrem Leben. Das, das sie die letzten Wochen bereits begleitet hatte: Sicherheit. Sie spürte es tief in ihrem Inneren mit einer Vehemenz, die alles andere davonwischte. Mit ihm an ihrer Seite fühlte sie sich sicher. Sie gestand sich ein, dass es ihr letztlich relativ egal war, was sie da taten. Wenn sie ihn aufgefordert hätte, mit ihm als Schausteller über die Lande zu ziehen oder nach Australien auszuwandern um Straußenfarmer zu werden, sie hätte es genauso getan. Sie stand der grünen Sache nahe und gestand sich durchaus ein, dass ihre Aktionen in wenigen Wochen sicherlich mehr bewirkt hatten, als die lokale Greenpeace-Zelle in Jahren geschafft hatte. Richtig fühlten sich Sachbeschädigung, Einbruch und Diebstahl trotzdem nicht an. Dafür sein Blick, sein Geruch, den sie selbst hier, in dieser Geschmacksverwirrung von U-Bahn, riechen konnte. Es war völlig egal, wofür oder wogegen sie kämpften. Solange sie an seiner Seite war. Über das Ende, das irgendwann unausweichlich kommen musste und wahrscheinlich Knast hieß, wollte sie nicht nachdenken. Noch Jahrzehnte Lohnsklavin zu sein und irgendwann dankbar über ihre Einheitsrente auf der Couch im Altenheim zu sitzen und Quizshows zu schauen, konnte sie sich auch nicht vorstellen. Dann lieber wie eine Sternschnuppe leben: Schnell, hell und dann verglühen. Wenn es am schönsten war.

382,18 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
470 стр.
ISBN:
9783957770615
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
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