Читать книгу: «Grenzgänge», страница 2

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Sie wandte sich nach links und bog wie gewohnt in die Wundtstraße ein, an deren oberem Ende Elke wohnte. Hoffentlich begegnete ihr kein Bekannter von früher. Aber wer erinnerte sich nach sieben Jahren noch an eine unscheinbare ältere Frau, die hier zweimal am Tag vorbeigehastet war? Zu den Nachbarn, die dem Zonenrundfunk und seinen Mitarbeitern ohnehin misstrauten, hatte es kaum Kontakt gegeben. Elke hingegen war von Anfang an akzeptiert worden.

Bei dem Gedanken, die Tochter gleich in die Arme zu schließen, schlug ihr Herz schneller. Sie blieb stehen, atmete tief ein und schaute hinunter auf den Lietzensee. So idyllisch war ihr die Gegend damals gar nicht vorgekommen. Leute saßen auf den Bänken – Arbeitslose, wie sie vermutete –, Kinder spielten auf dem Rasen. In der wärmenden Maisonne wirkte alles so friedlich, dass sie plötzlich sicher war, alles würde gut ausgehen. Elke hatte sich bestimmt aus reiner Gedankenlosigkeit nicht gemeldet, obwohl das nicht ihrer Art entsprach. Wie die Mutter war sie eine umsichtige und zuverlässige Person, die auf Ordnung hielt. Schon in Moskau, in Taschkent und in Ufa am Ural war das so sorgfältig gekleidete, zierliche Kind mit dem Madonnengesicht jedermann aufgefallen. Immer wieder hatten Frauen versucht, Charlotte zum Tausch oder Verkauf abgelegter Kleidungsstücke zu überreden, nur war da nichts zu tauschen gewesen. Jeder Fetzen Stoff wurde gebraucht, damit ihre Elke nicht abgerissen herumlief wie die anderen Kinder.

Erst in letzter Zeit war ihr aufgefallen, dass Elke anscheinend etwas weniger auf ihre Kleidung achtete, das rabenschwarze Haar manchmal strähnig wirkte. Sie schwieg dazu, um die viel zu seltenen Treffen mit der Tochter nicht durch Gemecker zu belasten. Oder hatte Elke ihr etwa doch eine Bemerkung übelgenommen, ohne dass es ihr aufgefallen war?

Was hatte sie falsch gemacht, das eine solche Kluft zwischen Elke und ihr rechtfertigte? Gewiss, in den Jahren beim Rundfunk war viel zu wenig Zeit für die Heranwachsende geblieben. Elke hatte ihr eigenes Leben geführt, das äußerlich keinen Grund zur Beunruhigung bot. Was wirklich in dem Mädchen vorging, war Charlotte verborgen geblieben. Auch jetzt wusste sie im Grunde nicht mehr über ihre Tochter, als dass sie studierte. Publizistik und Theaterwissenschaft. Und dass sie für Brecht schwärmte und öfter das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm besuchte. Ein ideologischer Hoffnungsschimmer für Charlotte, während Max aus seinem Misstrauen gegen den «Augsburger», wie er Brecht stets betitelte, kein Hehl machte. Wo Elke politisch wirklich stand, vermochte Charlotte nicht einmal zu erraten. Den knappen, nur flüsternd vorgetragenen Bericht über die Schreckenszeit in der Haft, zu dem sich Charlotte nach dem Parteitag in Moskau überwand, hatte Elke mit Schweigen quittiert. Davon, dass ihr Vater inzwischen rehabilitiert worden war, ahnte sie nichts. Auch deshalb musste sie unbedingt mit Elke reden.

Vor dem Haus angelangt, fiel ihr die renovierte Fassade auf. In dem ehemaligen Antiquitätengeschäft residierte eine Fahrschule. Ein chices Auto stand vor der Tür und dahinter ein Gefährt mit gläsernem Dach, das an ein Kleinstflugzeug erinnerte.

Es hatte sich noch mehr geändert. Die stets offenstehende Haustür war verschlossen, links in der Wand war eine Klingelleiste installiert. Menzel las sie dort und hinter einem Schrägstrich einen zweiten Namen: U. Losinski. Richtig, Elke hatte vor einiger Zeit ihre Absicht erwähnt, der steigenden Miete wegen einen Untermieter aufzunehmen. Entschlossen drückte Charlotte auf den Klingelknopf. Ein scharfes Klicken ertönte, dann quäkte eine Männerstimme: «Bin schon unterwegs!»

Ratlos starrte Charlotte die Tür an. «Das ist ein Missverständnis», sagte sie dann. «Ich möchte zu Fräulein Menzel.»

Eine Antwort blieb aus.

Sie drückte erneut auf den Knopf. Nichts. Dann die sich überschreiende Männerstimme, die ungeduldig «Ja doch!» hervorstieß. Kurz darauf vernahm Charlotte das Zuknallen der Wohnungstür im Treppenhaus. Sie kannte das vertraute Geräusch noch.

Schritte polterten die Treppe herab, die Haustür wurde aufgerissen. Ein baumlanger junger Mann wollte an ihr vorbeistürmen. Sie hielt ihn am Ärmel fest. «Herr Losinski?», fragte sie.

Überrascht blickte er auf sie hinab. «Ja, bitte?»

«Ich möchte zu Fräulein Menzel.»

Sein Befremden wuchs sichtlich. «Die ist nicht da», sagte er barsch und wollte gehen, nicht ohne die Frau, die noch immer seinen Arm umklammerte, mit einem gewissen Misstrauen zu betrachten. «Was wollen Sie denn von ihr?»

«Ich bin ihre Mutter.»

Er schien zu erschrecken. «Sie ist trotzdem nicht da», sagte er ablehnend, doch immerhin eine Spur höflicher.

«Und wann kommt sie wieder?»

«Keine Ahnung.» Es war klar, dass er an einem Gespräch mit ihr nicht interessiert war.

«Sie wohnen doch mit ihr in derselben Wohnung!»

Moralische Skrupel waren Charlotte fremd. Aber wenn eine bildhübsche 25-jährige Frau und ein Mann, der nur ein wenig älter sein konnte, gemeinsam in einer Zweieinhalbzimmerwohnung lebten, sah das nach einer engeren Beziehung aus.

«Elke ist zurzeit nicht hier», äußerte der Mann vage. Das Thema schien ihm nicht zu behagen. «Tut mir leid, ich muss los.»

Charlotte besann sich nicht lange, versperrte ihm den Weg in Richtung auf das rote Kleinflugzeug. «Einen Moment werden Sie wohl noch Zeit für mich haben», sagte sie kühl. «Wo ist meine Tochter?»

Er wich ihrem Blick aus.

Der Kerl gefiel Charlotte überhaupt nicht. Sein Äußeres wirkte ungepflegt, der Bartflaum zottelig, das Haar zu lang. Passte es zu Elke, sich mit so einem einzulassen?

«Kann ich nicht sagen», murmelte er, wobei er sich nach allen Seiten umblickte, als könnte jemand sie beobachten. «Sie wird sich schon wieder melden.»

So leicht war Charlotte nicht abzuschütteln. Sie sagte laut und bestimmt: «Ich möchte wissen, wo sich meine Tochter aufhält! Und ich erwarte eine vernünftige Antwort von Ihnen.»

Ihm war anzumerken, wie lästig sie ihm wurde. «Ich weiß es nicht», sagte er unbestimmt. «Sie ist weggefahren …» Er wandte sich um und klappte die Glaskanzel des Fahrzeugs auf.

«Wenn Sie mir keine Auskunft geben wollen, muss ich mich wohl an die Polizei wenden», sagte Charlotte.

Er erschrak. «Lassen Sie das lieber sein!», sagte er halblaut und ein wenig drohend, wie ihr schien. «Sie bringen uns in Teufels Küche!»

DREI

IM GRUNDE gefiel Oberkommissar Otto Kappe die Frau, die vor ihm saß. Als Frau jedenfalls: eine schlanke, aber keineswegs magere Mittdreißigerin mit rötlich getöntem Haar, das nicht ganz so akkurat frisiert war, wie es zu der eleganten Erscheinung der Dame und ihrer teuren Kleidung gepasst hätte. Auch die leicht verschmierte Schminke um ihre braunen Augen verriet etwas von dem Kummer, den sie berechtigt war zu zeigen. Vielleicht zeigte sie ihn etwas zu deutlich, wie Kappe in einer Aufwallung von Misstrauen empfand. Etwas störte ihn an dem Bild der untröstlichen Witwe. Spielte sie ihm etwas vor? Hatte sie den Stuhl vor seinem Schreibtisch mit Absicht so weit nach hinten gerückt, dass er ihre wohlgeformten Beine unbedingt wahrnehmen musste, oder war das nur die Haltung einer selbstsicheren Person, die sich ihrer Wirkung bewusst war?

Andererseits gab es keine Norm, wie eine so plötzlich in eine Witwe verwandelte junge Frau sich als Zeugin zu betragen hatte. In dieser Rolle gefiel sie Kappe weniger. Nur stockend teilte sie auf seine bewusst zurückhaltenden Fragen ihre persönlichen Daten und karge Einzelheiten ihres Lebenslaufs mit: Verena Roeder, am 8. April 1922 als Verena Hassenkamp in Stralsund geboren, nach Abitur und abgebrochenem Kunststudium infolge der Kriegsereignisse ins Mecklenburgische verschlagen, 1953 wie ihr späterer Mann Ronald als politischer Flüchtling in West-Berlin anerkannt, seitdem in Reinickendorf ansässig. Das Häuschen, dessen Reste nunmehr ihren ganzen Besitz darstellten, sah man von dem blauen Ford Taunus ab, mit dem sie in der Nacht bei der Brandstätte aufgetaucht war, hatten sie mit Hilfe der Hassenkamp’schen Verwandtschaft erworben und zu einem wohnlichen Heim ausgebaut. Ihr Mann, obwohl von Hause aus studierter Volkswirt, hatte sich als ein handwerklich begabter Mensch erwiesen, der auch wesentliche Teile der teuren Heizanlage selbst installiert hatte …

An diesem Punkt schlug sie die Hände vor das Gesicht und beugte sich aufschluchzend weit vor, wobei sie, wie Kappe nicht umhinkam zu bemerken, mit den Ellenbogen den engen Rock um einiges zurückschob, was ihm zwangsläufig einen Blick weit über ihre aufreizenden Knie hinaus gestattete. Gerne wäre er jetzt aufgestanden und hätte ihr väterlich-mitfühlend die Hand auf die Schulter gelegt, doch er hütete sich von jeher vor derlei Vertraulichkeiten. Außerdem stand ihm – und ihr – das Schlimmste noch bevor: die Identifizierung der Leiche, die bereits abtransportiert war, als Frau Roeder zu Hause erschien. Dass es sich bei dem Brandopfer nur um ihren Mann handeln könne, hatte sie im Angesicht der qualmenden Ruine fassungslos zu Protokoll gegeben. Er habe die Heizung nach dem langen Winter überprüfen und in Ordnung bringen wollen. In letzter Zeit habe es Schwierigkeiten mit dem Warmwasser gegeben.

«Kommen wir nun zur Person Ihres Mannes», sagte Kappe mild, nachdem sich Frau Roeder etwas beruhigt und den Rock wieder züchtig bis an die Knie gezupft hatte. «Wann und wo ist er geboren?»

«Am 22. Juni 1916, in einem kleinen Ort in Westpreußen. Den Namen vergesse ich immer wieder.» Sie blickte Kappe entschuldigend an. «Er steht in unserer Heiratsurkun …» Sie stockte, wohl weil ihr bewusst wurde, dass dieses Dokument unwiederbringlich ein Opfer der Flammen geworden sein musste. «Alle unsere Papiere sind verbrannt», stellte sie denn auch mit schreckgeweiteten Augen fest. «Alle.»

«Haben Sie die nicht in einem besonderen Behältnis aufbewahrt? In einer Kassette oder etwas Ähnlichem?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht. Mein Mann war in solchen Dingen nicht übertrieben ordentlich. Das lag alles in einer Mappe in seiner Schreibtischschublade. Wer rechnet denn mit einer solchen Katastrophe?»

Ich!, hätte Otto Kappe jetzt sagen können. Die Papiere waren doch das Wichtigste, was ein Mensch besaß. Wie waren solche sorglosen Zeitgenossen wie diese Roeders über den Krieg gekommen?

«Hätte das Feuer nicht auch eine Kassette ausgeglüht?», gab Frau Roeder mit einem Augenaufschlag zu bedenken, der Kappes Misstrauen neue Nahrung gab. Viel Tränen waren bei ihrem Aufschluchzen nicht geflossen, konstatierte er.

«Na gut, das finden wir ja alles in den Unterlagen», sagte er, was sie zu erstaunen schien.

Irritiert fragte sie: «In welchen Unterlagen?»

«Sagten Sie nicht, Sie hätten das Anerkennungsverfahren für politische Flüchtlinge absolviert? Außerdem muss Ihr Mann ja beim Finanzamt und bei einer Versicherung gemeldet sein. Das ist also kein Problem.»

Ihre unsichere Miene verriet Kappe, dass es eines werden konnte. «Bei welcher Krankenkasse war er denn versichert?», erkundigte er sich vorsichtshalber.

Sie hob die Schultern. «Er war nie krank.»

Kappes Hände umfassten die Schreibtischkante. «Wollen Sie damit andeuten, er sei nicht versichert gewesen?»

Sie riss die Augen weit auf. Die verlaufene Schminke gab ihrem tragischen Blick zugleich etwas Dämonisches. «Um so etwas habe ich mich nie kümmern müssen», entgegnete sie.

Kappe glaubte, eine Spur von Arroganz herauszuhören, die ihn erboste. «Aber Steuern wird er doch wohl gezahlt haben!», stellte er in einem Ton fest, den er bisher sorgsam vermieden hatte – und der bei ihr schlecht ankam.

Im gleichen herablassenden Ton sagte sie: «Wie ich bereits andeutete, habe ich mich um so etwas nie kümmern müssen.»

«Sie haben keine eigenen Einkünfte?»

Sie zögerte. «Nein, nicht direkt. Ist daran etwas auszusetzen?»

«Natürlich nicht. Welcher Tätigkeit ist Ihr Mann nachgegangen?»

«Er ist … er war Künstler. Er … hat gemalt.» Sie schnäuzte sich umständlich. «Seine graphischen Arbeiten fanden bei Sammlern reges Interesse.»

«Er hat also nicht in seinem Beruf als Volkswirt gearbeitet, sondern von der Malerei gelebt?», vergewisserte sich Kappe.

«Ja. Er hat hin und wieder etwas verkauft. Nötig war das eigentlich nicht, wir haben ja die Unterstützung meiner Familie.» Ihr Blick erschien ihm jetzt beinahe treuherzig. «Ich entstamme einer wohlhabenden Reederfamilie. Besonders der Hamburger Zweig ist recht vermögend.»

«Ich verstehe», sagte Kappe, obwohl er keineswegs verstand, welches Glück manchen Leuten beschieden war. Eine reiche Familie, keine Steuern und ein bisschen Farbenkleckserei, ein Häuschen im Grünen, ein Auto und eine schöne Frau – da kam kein gewöhnlicher Kriminalbeamter mit. Obwohl sich wenigstens seine Gertrud vor so einer Schmarotzerin nicht zu verstecken brauchte. Es gab genügend Männer, die ihn mit Recht um sie beneideten. «Na schön. Auf Ihre Vermögensverhältnisse kommen wir noch zurück», sagte er. «Wenden wir uns der äußerlichen Beschreibung Ihres Mannes zu. Wie groß war er?»

«1,79 Meter.» Sie dachte einen Augenblick nach. «Das hat er jedenfalls immer gesagt. Vielleicht war er auch zwei, drei Zentimeter kleiner.» Wieder so ein Augenaufschlag. «Er hielt sich immer sehr aufrecht, um groß zu wirken. Ist das so wichtig?»

«Sehr wichtig. Wir müssen den aufgefundenen Körper eindeutig identifizieren.» Er vermied das Wort Leiche. Den Anblick würde er ihr nicht ersparen können.

Sie sah ein wenig blass aus um die Nase und senkte den Kopf. «Schrecklich!», stöhnte sie.

«Sein Gewicht?»

Sie blickte auf. «Wissen Sie, was Sie mir zumuten?», fragte sie anklagend. Ihre Stimme wurde lauter. «Mein Mann ist heute Nacht auf entsetzliche Weise zu Tode gekommen, und Sie fragen nach seinem Gewicht! Er war ein ganz normaler, gutaussehender, schlanker Mensch! Genügt Ihnen das?»

Es genügte Kappe nicht, doch beharrte er nicht auf einer exakten Antwort. Nicht in dieser Situation, in der sich die Frau nur unnötig aufregte. Begütigend hob er die Hand und fragte: «Bei welchem Zahnarzt war er in Behandlung?»

«Zahnarzt?», fragte sie gedehnt zurück. «Was soll das nun wieder? Er hatte gesunde Zähne und brauchte keinen Zahnarzt!»

Kappe lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Allmählich wurde die Angelegenheit mysteriös. Ein malender Volkswirt ohne Papiere, der keine Steuern zahlte und keinen Zahnarzt benötigte. Hatte es diesen Mann überhaupt gegeben? Wenn nicht – um wen handelte es sich dann bei der Leiche?

Immerhin hatte der Tote eine trauernde Witwe hinterlassen, die leibhaftig und nicht ohne Attraktivität vor ihm saß und deutliche Anzeichen von Unmut verriet. Zu ihrem Alibi für den vergangenen Abend hatte er sie noch nicht befragt. Es war überhaupt allzu viel offen in diesem Fall, für den die Mordkommission bis jetzt nur deshalb zuständig war, weil er Bereitschaft gehabt und die ersten Untersuchungen am Auffindungsort der Leiche geführt hatte. Weshalb wartete er nicht einfach das Ergebnis der Obduktion ab? Der Brand war ein bedauerlicher Unfall, um den sich die Gutachter der Versicherung kümmern würden. Dass es eine Lebensversicherung von Ronald Roeder zugunsten seiner Frau und eine Police für das Haus gab, hatte Verena Roeder ihm noch in der Nacht am Brandort bestätigt. Da sie noch nicht genau gewusst hatte, wo sie unterkommen würde, hatte er sie für den Nachmittag zu einer ersten Befragung ins Landeskriminalamt bestellt.

Kappe erhob sich und sagte gemessen: «Ich möchte Ihre Geduld und Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen. Es wird sicherlich noch die eine oder andere Frage zu klären sein. Deshalb ist es unumgänglich, dass Sie zu erreichen sind.»

Kappe merkte ihr die Erleichterung an, als sie aufstand. Er reichte ihr den leichten Sommermantel vom Kleiderhaken und wartete höflich, bis sie hineingeschlüpft war. Sie war einen halben Kopf kleiner als er und roch nach einem teuren Parfum. Keine Spur von Rauch. Sie musste ihre Haare gründlich gewaschen haben.

«Ich habe vorläufig in der Pension Rosenkranz in der Potsdamer Straße Unterkunft gefunden», sagte sie. «Adresse und Telefonnummer notiere ich Ihnen.»

Während sie schrieb, gestattete sich Kappe einen letzten Blick auf ihre Waden. Weshalb es eine solche Frau aus Frohnau ausgerechnet in die übelbeleumdete Potsdamer Straße zog, war ihm schleierhaft. Zuvorkommend geleitete er sie durch das Vorzimmer und verabschiedete sie mit einer gemessenen Verbeugung.

Als er sich umwandte, blickte er in die grinsenden Gesichter seiner Kollegen Günter Kynast und Jürgen Rückert. Kynast, allemal der Dreistere von beiden, verkniff es sich nicht einmal, anzüglich das Gesicht zu verziehen und so etwas wie «Glücklicher Witwentröster» zu murmeln.

Das war selbst Rückert zu viel. «Wenn du mal im Dienst erschossen wirst», bot er Kynast hinterhältig an, «übernehme ich die Tröstung sämtlicher deiner Flammen. Einverstanden?»

Kynast salutierte militärisch. «Einverstanden, Herr Oberleutnant!» Er liebte es, Rückerts Hang zum Militärischen zu karikieren. Lachend fügte er hinzu: «Aber schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch! Mehr als ’ne Woche gibt dir Keunitz bestimmt nicht frei.»

Kriminalrat Keunitz war der Leiter des Referats M, zuständig für alle Tötungs- und Sittlichkeitsdelikte, und damit ihr Vorgesetzter. Otto Kappe wusste, wie der zu nehmen war, und kam einigermaßen gut mit ihm aus. An Günter Kynast aus Neukölln, von Otto gern als James Dean von Rixdorf tituliert, missfiel ihm dagegen die amerikanischen Filmschauspielern abgeguckte Lässigkeit. Seit Lilli Lenné, die jugendliche Schönheit der Truppe, zum Lehrgang in Westdeutschland weilte, artete sein Ton ein wenig aus.

«Euch steigen wohl die linden Maienlüfte zu Kopf», knurrte Kappe. Er war müde und wurde das Gefühl nicht los, immer noch wie ein Scheiterhaufen zu riechen. Dabei hatte er am Morgen länger als gewöhnlich geduscht. «Habt ihr nichts zu tun?»

Kynast zog den sorgfältig frisierten Kopf ein. «Angelwetter, wie?», sagte er spöttisch und spielte damit auf Otto Kappes Gewohnheit an, sie in ruhigen Zeiten mit den «nassen Fischen», den ungelösten Mordfällen der Vergangenheit, zu beschäftigen.

Kappe ging nicht darauf ein. «Ich mache jedenfalls Schluss für heute. Hab mir die ganze Nacht da draußen in Frohnau um die Ohren geschlagen.» Und außerdem hatte er noch Galgenberg zur Rettungsstelle begleitet, in der sie beide allein schon durch den sie umgebenden Brandgeruch aufgefallen waren. Galgenberg hatten sie im Krankenhaus gleich dabehalten. Diagnose: Knöchelbruch.

«Da wartet noch diese Frau …», sagte Rückert. «Ich hatte das Gefühl, sie möchte eher mit einem etwas gesetzteren Kollegen reden.»

«Was denn für eine Frau?», fragte Kappe ungehalten. Die Höflichkeit erforderte es eigentlich, dass er jetzt noch seinen verunfallten Mitarbeiter im Krankenhaus besuchte.

«Sie sitzt draußen. Kommt aus dem Osten und vermisst ihre Tochter. Sie ist sich ganz sicher, dass der was Schreckliches passiert ist. Die Kollegen vom Revier in Charlottenburg haben sie hergebracht.»

«Und was habe ich damit zu tun? Für solche Fälle sind die da oben zuständig.» Aufgebracht wies Kappe zur Decke. Im obersten Stockwerk saßen die Kollegen, die sich um vermisste Personen kümmerten.

Rückert ließ sich nicht beirren. «Die Tochter wohnt in der Wundtstraße. Das ist doch gleich bei dir um die Ecke.»

«Seid ihr nicht ganz bei Trost?», fauchte Kappe. «Übernimmst du neuerdings nur noch Fälle, wenn die Leiche aus Siemensstadt stammt?»

Dort wohnte Rückert, seit er vor beinahe zehn Jahren aus dem Osten gekommen war. Jetzt wand er sich wie ein Aal. «Red doch wenigstens mal mit der Frau! Ich hab nicht viel aus ihr rausgekriegt.»

VIER

CHARLOTTE WEIDNER hatte in ihrem 49-jährigen Leben so manches mitgemacht und geriet nicht leicht in Panik. Im Augenblick aber fühlte sie sich dicht davor. Verzweiflung hätten andere es wohl genannt, doch dieses Gefühl war ihr in härteren Zeiten abhandengekommen. Irgendwie ging es immer weiter, das wusste sie.

Ihre bösen Vorahnungen hatten sie nicht getrogen, dessen war sie sicher. Ihr Herz flatterte, und sie fühlte sich, als drohe die innere Unruhe sie zu zerreißen. Worauf hatte sie sich eingelassen? Aber was blieb ihr anderes übrig? Die Tochter, die wahrscheinlich nicht einmal ahnte, was sie der Mutter bedeutete, konnte, durfte nicht einfach verschwunden sein!

Der unangenehme Auftritt dieses Losinski vor dem Haus hatte ihre schlimmsten Vermutungen bestätigt. Der Mensch hatte etwas zu verbergen. Man musste nicht über so viele böse Erfahrungen verfügen wie Charlotte, um dem das schlechte Gewissen anzumerken. Die hastige Abfahrt mit dem bonbonroten Fahrzeug hatte einer Flucht geglichen.

In ihrer Ratlosigkeit war Charlotte in die Fahrschule gegangen. Die junge Frau dort kannte Elke tatsächlich, wusste aber nichts Beruhigendes mitzuteilen. Auch sie hatte Elke seit Tagen, vielleicht seit Wochen nicht mehr gesehen, dafür aber andere junge Frauen in Losinskis Begleitung bemerkt. «Bei denen herrscht ja immer reger Verkehr», sagte sie. «Studenten eben. Er soll so ’ne Art Assistent an der Uni sein. Hat sich hier vor dem Haus auch mal mit einem geprügelt. Wegen Politik, hieß es. Ich war nicht dabei.»

Als Charlotte den Laden verließ, war sie der Nachbarin aus dem ersten Stock begegnet, an deren Namen sie sich nicht einmal mehr erinnerte. Die hatte sie sofort erkannt und auf sie eingeschwatzt, als wären sie die dicksten Freundinnen gewesen. «Wo ist denn Ihre Tochter abgeblieben?», lautete die erste Frage. «Die ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Weg. Von einem Tag zum andern! Oder hat sie zu Mama heimgefunden, nach all dem Theater hier? Kann einem ja leid tun um das junge Blut, wenn man so was sieht.»

Und bevor Charlotte überhaupt zu einer Frage anzusetzen vermochte, erfuhr sie ausschließlich Beunruhigendes über Elkes Lebenswandel und ihren Umgang mit diesen schrecklichen Menschen, die sich als Studenten ausgaben. «Was die studieren, möchte unsereins wissen! Nichts Vernünftiges jedenfalls. Rauchen, trinken, singen, nachts die Musik aufdrehen, bis einem das Trommelfell platzt. Was waren das für friedliche Zeiten, als Sie und Ihr Mann noch hier wohnten! Wie geht’s ihm überhaupt? Sah ja immer ’n bisschen blass aus, der Gute. Aber ein feiner Mensch ist er. Auf so einen Schwiegersohn kann der dankend verzichten.»

Endlich gelang es Charlotte, den Redefluss der Frau zu unterbrechen. «Wann haben Sie Elke zum letzten Mal gesehen?»

Die Nachbarin riss die Augen unnatürlich weit auf. «Zum letzten Mal?», fragte sie erschrocken. «Wollen Sie damit sagen …»

Beinahe fassungslos über diese Reaktion, schüttelte Charlotte heftig den Kopf. «Nein, nein, ich …»

Die Frau war von der einmal aufgenommenen Spur nicht mehr abzubringen. «Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Der hat ihr was angetan! Wie der schon immer guckt, so scheel, und kann einem nicht in die Augen blicken. Wenn einer Dreck am Stecken hat, dann der! Weiß man denn, was der mit seinem komischen Roller alles abtransportiert? Ein paarmal hat er das Ding beladen wie einen Lkw. Und Ihre Tochter, diese zarte Person, das ist ja nur so ein Bündel.» Ihre Hände zeigten ein handliches Paket.

Charlotte hielt eine Hand der Frau fest. «Nein», stieß sie entsetzt hervor, «das ist unmöglich!»

«Na, wenn Sie meinen.» Achselzuckend wandte sich die Frau ab. «Wenn es um meine Tochter ginge, wäre ich jedenfalls längst bei der Polizei. Das Revier ist immer noch gleich um die Ecke.»

Und so war Charlotte tatsächlich entgegen aller politischen Einsicht und Vernunft auf dem Revier gelandet und dort auf einen Beamten gestoßen, der vermutlich seit Jahrzehnten hinter dem abgestoßenen Schreibtisch hockte und sich seine eigenen Gedanken zu machen schien und sich der politisch verdächtigen Frau vom Ostrundfunk womöglich besann. Ihr fiel der eigenartige Zug um seine Augen auf, nachdem sie sich als Charlotte Menzel vorgestellt, knapp ihr Anliegen samt Elkes Adresse vorgetragen und auf seine Frage hin behauptet hatte, den eigenen Personalausweis leider nicht bei sich zu haben. Natürlich fragte er nach ihrer Adresse. Widerstrebend musste sie zugeben, im Osten zu wohnen, wo man von ihren Erkundigungen besser nichts erfahren sollte.

Dazu nickte er vielsagend. Ob verständnisvoll, bezweifelte sie. Als er jedenfalls «Das ist eher ein Fall fürs Präsidium. Ich denke, da wird man Ihnen helfen» sagte, versuchte sie vergeblich, einen Rückzieher zu machen. «Vielleicht warte ich erst noch ein paar Tage», sagte sie und erhob sich. Doch der Beamte, der schon zum Telefonhörer gegriffen hatte, bedeutete ihr sitzen zu bleiben.

Zehn Minuten später hatte man ihr höflich, aber doch sehr bestimmt auf die Rückbank eines Volkswagens geholfen, und der hatte sie hierher gebracht, in eine Gegend, die sie nicht kannte und von der sie annahm, dass es sich um die Friesenstraße handelte, von der so häufig in den Zeitungsmeldungen über die Untaten der Stumm-Polizei die Rede war. Mein Gott, wozu hatte sie sich hinreißen lassen!

Wenn Max davon erfuhr, war mehr als eine heftige Auseinandersetzung zu erwarten. Und wenn die Partei davon Wind bekam … Sie wagte dem Gedanken nicht zu folgen. Sich direkt an die Büttel des Klassenfeindes zu wenden – das grenzte schlichtweg an Verrat und bedeutete mindestens Parteiausschluss. Einen hatte sie schon hinter sich, wie ihr plötzlich einfiel. Nach ihrem Aufenthalt in der Lubjanka war sie zur Unperson geworden. Erst Max hatte das später in Moskau wieder in Ordnung gebracht. Parteimitglied seit 1924, hieß es in ihrem Fragebogen. Und nun so etwas!

Andererseits machte nur Elke ihr Leben wirklich aus. Gewiss, Max hatte sie nie enttäuscht. Dennoch war zu ihm nie die gleiche Nähe entstanden wie zu ihrem geliebten Jakob und dem Einzigen, das sie als bleibendes Vermächtnis an diesen erinnerte: Elke. Die war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur die Hoffnung, sie wieder in die Arme zu schließen, hatte Charlotte damals in der Zelle die Kraft gegeben, sich nicht umzubringen. Die Partei hingegen hatte nichts für sie getan, sie einfach fallenlassen, ohne sie je anzuhören.

Das waren ketzerische Gedanken, auf die sie sich trotzig versteifte, während sie auf dem kahlen Gang vor den feindlichen Büros darauf wartete, sich in neues Ungemach zu verwickeln. Es war ihr unmöglich gewesen, sich dem ersten Beamten auf dem Präsidium anzuvertrauen, einem nicht einmal unsympathischen jungen Menschen, der sie aber nicht recht zu verstehen schien.

Nachdem eine rothaarige junge Frau in einer Duftwolke an ihr vorbeigerauscht war, öffnete sich nach einiger Zeit die Tür und ein gutgekleideter, beinahe athletisch wirkender Beamter mittleren Alters musterte sie aus müden Augen. «Na, dann kommen Sie mal rein!», forderte er sie auf. Seine Lustlosigkeit schien mit Händen greifbar. Am besten machte sie es kurz und erklärte alles zu einem Missverständnis, bevor es wieder um ihre Personalien ging. Für eine Flucht, an die sie seit ihrem Besuch auf dem Revier gedacht hatte, war es allemal zu spät. Bei jedem Versuch davonzulaufen würde ihr Herz sich überschlagen. Auf einer Polizeidienststelle in West-Berlin versterben – das war das Letzte, was sie Max antun wollte.

Drinnen stellte sich ihr Gegenüber als Oberkommissar Kappe vor, und sie sagte ohne nachzudenken: «Charlotte Weidner.»

Nun war es heraus und konnte nur noch schlimmer werden. Der Oberkommissar achtete nicht darauf. Vielleicht war ihm der Name Menzel vom Revier nicht übermittelt worden. Charlotte beruhigte sich selbst. Von diesem Herrn Kappe ging eine Ruhe aus, die wohl nicht nur auf seine Müdigkeit zurückzuführen war.

Er hörte sich die Kurzfassung ihrer Geschichte an, ohne Fragen zu stellen oder Notizen zu machen. «Wundtstraße, gleich um die Ecke vom Horstweg?», vergewisserte er sich schließlich.

Sie bestätigte es.

«Ihre Tochter könnte verreist sein, ins Ausland möglicherweise», gab er zu bedenken.

«Das hätte sie mir vorher mitgeteilt. Oder wenigstens eine Ansichtskarte geschickt, selbst aus Paris oder sonst woher.»

Er nickte bedächtig. «Wie lange braucht die Post wohl von Paris nach Ost-Berlin?», fragte er mehr sich selbst als sie.

Paris! Wie fremd das für Charlotte klang. Eine Karte von dort ins Städtchen – jemand würde die wohl vor ihr lesen und sie nicht der Empfängerin, sondern seiner Dienststelle weiterreichen. Aber Elke kannte diese Gepflogenheiten. So unvorsichtig würde sie niemals sein. Post nach Niederschönhausen gab sie stets im demokratischen Sektor auf. «Wahrscheinlich haben Sie recht», sagte Charlotte resignierend. Sie fühlte sich plötzlich sehr hilflos und hatte nur noch einen Gedanken: Weg hier, bevor noch mehr Porzellan zu Bruch geht!

Herr Kappe jedoch schien erst am Anfang. «Ihre Tochter ist Studentin», stellte er fest. «Eigentlich ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass sie mitten im Semester eine längere Reise unternimmt. Und welchen Grund hat dieser Herr Losinski, den Unwissenden zu spielen? Dem könnte man nachgehen. Allerdings sind wir in dieser Abteilung ausschließlich für Tötungsverbrechen zuständig.»

Ein eisiger Schmerz durchfuhr Charlotte. Fahl und schwer atmend schloss sie die Augen und sank in sich zusammen. Erst das Glas Wasser, das ihr der Oberkommissar reichte, brachte sie in die Gegenwart zurück.

«Ich wollte damit nur ausdrücken, dass für Ihren Fall andere Kollegen zuständig sind – und hoffentlich auch bleiben.» Er lächelte Charlotte aufmunternd zu und nahm ihr das Glas aus der Hand.

«Ich verstehe», sagte sie leise. Es klang hoffnungslos.

Er blieb freundlich. «Da Sie nun einmal bei uns gelandet sind, werden wir trotzdem nachforschen, wo Ihre Tochter abgeblieben sein könnte. Wir verfügen sicher über bessere Möglichkeiten als Sie.» Er ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder. «Also gehen wir die Sache noch einmal Punkt für Punkt durch. Elke Menzel, geboren am?»

399
525,72 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
Объем:
231 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783955520243
Издатель:
Правообладатель:
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