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SECHS

ES WAR EIN BÖSES ERWACHEN für Anton Gomolla, als die mollige Emmi plötzlich in panischer Hast ins herrschaftliche Schlafzimmer stürmte und ihn anschrie: «Du musst sofort verschwinden! Ab in die Küche und weg durch die Hintertür!»

«Was ist passiert?», erkundigte er sich und fuhr dabei vorsichtshalber schon in seine Hosen. So aufgeregt kannte er die eher phlegmatische Emmi gar nicht. Es musste einen triftigen Grund geben, ihn aus dem Paradies zu vertreiben, in dem er sich gerade wohl zu fühlen begann. Vor gut einer Woche hatte er das späte Mädchen kennengelernt, und vor drei Tagen war er endgültig bei ihr in der Achtzimmerwohnung geblieben, Beletage am Luisenufer mit Blick auf den Kanal. Wenn er sich aus dem Fenster lehnte, konnte er die Wanda an der Ufermauer erkennen. Aber er lehnte sich nicht aus dem Fenster. Niemand durfte merken, dass er sich hier bei Emmi eingenistet hatte, bis die Herrschaft aus der Sommerfrische in Heringsdorf zurückkehren würde.

«Die schicken vorher ein Telegramm», hatte Emmi ihn und sich selber beruhigt, und da das schmale Lager in ihrer niedrigen Dienstbotenkammer für zwei wirklich nicht ausreichte, waren sie der Bequemlichkeit wegen umgezogen ins eheliche Schlafzimmer des Herrn Professor und seiner Frau Gemahlin.

Die jedoch, beunruhigt von den sich täglich mehrenden Tartarenmeldungen über den bevorstehenden Krieg, beschlossen plötzlich und unerwartet und ohne es telegrafisch anzukündigen, die Heimreise anzutreten. Nun standen sie nebst ihrer gelangweilt den Sonnenschirm drehenden Tochter Mechthild, in wortreiche Verhandlungen mit dem Droschkenkutscher verwickelt, unten vor der Haustür. Der Mann verlangte für das Hinauftragen des umfangreichen Gepäcks glücklicherweise mehr, als der knickrige Herr Professor Nothnagel zu zahlen bereit war, sodass Emmi genügend Zeit blieb, den zeitweiligen Liebsten eilig durch Korridor, Küche und Hinterausgang zu bugsieren und im Schlafzimmer Laken und Kissen abzuziehen, als wäre sie beim Bettenbeziehen überrascht worden.

Die professoralen Verhandlungen waren zu keinem Ende gelangt, als Anton Gomolla über die gewendelte Hintertreppe und durch den Dienstbotenausgang im Hof das Haus verließ und sich aufrechten Ganges und mit einem höflichen Lüpfen seiner nicht ganz neuen Schiffermütze an dem Gepäckgebirge vor Haustür und Vorgarten vorbeischlängelte.

«Halt, junger Mann!», fuhr ihm die sonore Stimme des Professors ins Genick, gerade als er glaubte, der Gefahr endgültig entronnen zu sein. Einen Augenblick dachte er an Flucht, dann siegte seine angeborene Unerschrockenheit. Was wollte der ihm denn?

Herr Professor Nothnagel begehrte nichts anderes als seine Hilfe, und unter diesen veränderten Bedingungen war auch der Droschkenkutscher bereit, dem Gepäcktransport in den ersten Stock näherzutreten. Als Erstes wuchteten sie den schweren Reisekorb nach oben, wo die in der Tür auftauchende Emmi fast der Schlag traf, als sie Antons ansichtig wurde. Sein beruhigendes Augenblinzeln schien sie kaum wahrzunehmen.

Zwanzig Minuten später und um eine Mark reicher - wenig genug für die Schlepperei - schlenderte Anton gemächlich über die Oranienbrücke und näherte sich unaufhaltsam der Wanda, die im Licht der hellen Nachmittagssonne schwarz und nutzlos an der Kaimauer des Kanals lag.

Schwager Bruno stand im Heck und erklärte mit weit ausholenden Gebärden einem Fremden etwas, das offensichtlich das schmuddlige Kanalwasser betraf. Anton konnte es nur recht sein, dass da noch jemand anwesend war, so dass Bruno seinen ersten Zorn wohl oder übel würde zügeln müssen. Vielleicht, und das wäre die glücklichste Lösung, wollte der Mann ja auch eine Ladung in Auftrag geben. Obwohl der eigentlich nicht danach aussah. Er wirkte eher wie ein. .. «Cholera!» entfuhr es Anton, obwohl er sich geschworen hatte, nicht polnisch zu fluchen, um den Schwager nicht zusätzlich gegen sich aufzubringen. Aber wenn das kein verkappter Greifer war, dann hatte er, Anton Gomolla, noch nie einen gesehen.

Zur Flucht war es zu spät, denn Bruno hatte ihn längst entdeckt und wies jetzt mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf ihn, der sich vergeblich im Schatten der Bäume zu verkrümeln versuchte.

«Antek!», rief Bruno und schien erfreut über sein Auftauchen.

«Komm her, du wirst schon erwartet!»

So ein verräterischer Hund! Aber was wollte man von einem Deutschen und noch dazu einem Evangelischen anderes erwarten, und sei es der eigene Schwager? Er hatte seine Schwester von Anfang an vor dem gewarnt.

Mit einem flauen Gefühl im Magen schritt Anton über die schmale Planke an Bord.

Eigentlich hatte er ja ein fast reines Gewissen, von ein paar hoffentlich längst vergessenen Stückchen in der Heimat mal abgesehen. Hier in Berlin hatte er sich so gut wie nichts zuschulden kommen lassen, und die Sache mit Emmi schien auch gut ausgegangen zu sein. Also erst mal hören, was der junge Kerl überhaupt wollte.

Der kam gleich zur Sache, kassierte, eins fix drei, Antons zerlumpte Flebben und fragte: «Na, wo haben wir denn die letzten drei Nächte verbracht?»

Zwietasch, das falsche Aas! Musste dem Greifer brühwarm mitteilen, dass er nicht auf der Wanda geschlafen hatte. Als ginge ihn das was an! Am Ende würde der es auch in der Heimat rumerzählen, und die schwarze Maria würde Antek die Hölle heiß machen. ..

«Antworten Sie gefälligst!», fuhr Kappe den bedrippt vor ihm Stehenden an. Dass den das schlechte Gewissen plagte, sah ein Blinder mit dem Krückstock.

«Ja, also. ..», begann Gomolla langsam in seinem harten Deutsch, «das ist nämlich so. ..» Umständlich zog er die Mütze vom Kopf. «Ich habe da einige Landsleute begegnet und sie geholfen. Bei der Arbeit - Sie verstehen?»

Kappe nickte und wartete. Er war sich sicher, dass dieser Gomolla sich die Geschichte gerade erst ausdachte, weil er etwas zu verbergen hatte. Etwas, das mit dem toten Mädchen zusammenhing? Hatte er sie vor Tagen ermordet, war einfach abgehauen und jetzt in der Hoffnung zurückgekehrt, niemand hätte die Leiche gefunden? Zumindest nicht hier im Kanal, direkt hinter der Wanda? Andererseits hätte ein Schiffer eine Leiche wohl kaum unmittelbar neben dem eigenen Kahn ins Wasser geworfen. Auch an der Wanda hing eine Nussschale von Beiboot, mit dem Gomolla wenigstens ein Stück den Kanal hätte entlangstaken können. Außerdem gab Zwietasch an, den Schwager nie länger alleine auf der Wanda gelassen zu haben.

Kappe verfolgte Gomollas langatmig vorgetragene Ausflüchte nur mit halbem Ohr und unterbrach ihn schließlich: «Nun erzählen Sie mal - wie hieß denn die junge Frau, deretwegen Sie so plötzlich verschwunden sind?»

Antek starrte ihn offenen Mundes an. Wie konnte der etwas von Emmi wissen, die er doch erst vor ein paar Minuten verlassen hatte?

«Ich verstehe nicht, wen Sie meinen. ..», stotterte er.

«Oh, Sie wissen schon. So eine kleine, dralle Person. Noch ziemlich jung. ..»

Das klang nicht unbedingt nach Emmi. Drall war sie gewiss. So nannte man das hier. Aber jung? Antek schüttelte den Kopf.

«Mit langen blonden Haaren», fuhr Kappe fort und spürte förmlich, wie der Mann aufatmete.

«Ich kenne keine Frau mit blondes Haar», sagte er fest und blickte Kappe treu in die Augen.

«Na schön, wie Sie wollen. Dann begleiten Sie mich jetzt am besten zum Präsidium, und dort werden wir das alles genau aufschreiben.»

«Nein.» Angstvoll sah sich Antek nach seinem treulosen Schwager um, doch der tat, als kenne er ihn gar nicht. «Ich will nicht ins Gefängnis! Ich habe nichts getan!»

«Nur in den vorläufigen Gewahrsam», beruhigte ihn Kappe, «bis wir geklärt haben, wo Sie sich tatsächlich aufgehalten haben.»

Die Aussicht, mit einem widerspenstigen Delinquenten noch einmal den weiten Weg zum Alex unternehmen zu müssen, missfiel ihm. Seine offizielle Dienstzeit war seit einer halben Stunde beendet. Gomollas Vernehmung samt Protokoll würde unweigerlich an ihm hängenbleiben. Also konnte er auch bis morgen damit warten.

Er musterte Gomolla von oben bis unten und tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die schmuddlige Hemdbrust. «Sie bleiben heute Nacht hier. Und Sie entfernen sich keinen Schritt von ihrem Kahn, verstanden? Sonst. ..» Er machte eine unmissverständliche Geste des Kassierens.

Gomolla nickte eifrig.

«Morgen um zehn melden Sie sich im Polizeipräsidium bei der Kriminalabteilung. Bei Herrn Galgenberg», fügte er hinzu. Sollte der ruhig auch was für sein Geld tun, wo er immer so stolz auf seine Vernehmungskünste war.

Kappe wandte sich zum Gehen. Die Furcht, wieder über das schmale Brett balancieren zu müssen, wollte er sich nicht anmerken lassen. «Sie sind verantwortlich, dass er sich morgen pünktlich meldet!», ordnete Kappe an.

Zwietasch salutierte. Schließlich hatte er gedient und wusste, was sich gehörte.

Gomolla aber erkundigte sich kleinlaut: «Und was ist mit Papieren?»

«Kriegen Sie morgen wieder», antwortete Kappe. «Aber nur, wenn alles in Ordnung ist.»

Anton Gomolla hob die Schultern. «Ich weiß gar nicht - was ist passiert?»

Das wird dir dein Schwager schon erzählen, dachte Kappe, und der legte auch gleich in voller Lautstärke los: «Sie haben eine Wasserleiche gefunden. Heute Morgen. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren.»

Du selber hast sie gefunden, dachte Kappe, doch er konzentrierte sich darauf, mit eiligen Tippelschritten die Planke zu überqueren und sich über das rettende Ufergeländer zu schwingen. Den jungen Mann, der ihn dabei beobachtete, bemerkte er erst, als der ihn ansprach.

«Ist das wahr mit der Leiche?» fragte er mit rauer Stimme.

«Wird wohl so sein», entgegnete Kappe knapp. Es war nicht seines Amtes, die Neugier jedes Passanten zu befriedigen. Doch war etwas an dem jungen und ärmlich gekleideten Burschen - außer der gebrochenen Nase –, das ihn für einen Augenblick zögern ließ.

«Vermissen Sie jemanden?», fragte er.

«Na ja - nicht direkt. Oder eigentlich doch. Ich werde mal den Schiffer fragen.. .»

«Moment mal!» In Kappe, der vor einer Minute beschlossen hatte, es für heute gut sein zu lassen, erwachte der Kriminalwachtmeister, als der er sich sofort zu erkennen gab, worauf der Bursche sich erst einmal umwandte, als suche er einen Fluchtweg. «Also – wer sind Sie und wen suchen Sie?»

«Bloß meine Schwester. Sie wird schon wieder auftauchen. ..»

Nach langem Hin und Her erfuhr Kappe, dass er es mit Otto Unrauh aus der Adalbertstraße 101 zu tun hatte, der seine sechzehnjährige Halbschwester Lina Jungnickel suchte, von der er zögernd eine recht genaue Beschreibung abgab. «Sie hat lange blonde Haare. Aber die trägt sie nicht offen», schloss er.

Kappe nickte bedächtig. «Sie werden in die Hannoversche Straße fahren müssen», sagte er mit belegter Stimme. Es dauerte einen Augenblick, dann verstand Otto.

«Haben. .. Sie die Tote gesehen?», erkundigte er sich tonlos. Kappe nickte.

«Das übersteht Mutter nicht», sagte Otto, drehte sich um und wollte davontrotten.

SIEBEN

AUGUST PANKRATZ, 31 Jahre alt und seines Zeichens wohlsituierter Oberbuchhalter mit Prokura im Comptoir der Cohn & Friesackschen Handelsgesellschaft mbH in der Ritterstraße, feine Gläser, Porzellane, Steingut etc., nahm seine Abendmahlzeit täglich in der elterlichen Wohnung in der Britzer Straße ein. Nichts ging über Mutters Küche, oder besser: über die der Köchin Frieda, der August von Kindheit an einen ansehnlichen Schmerbauch verdankte. Auch deswegen tat ihm der feierabendliche Marsch von der Ritterstraße aus am Ufer entlang, quer über den Wassertorplatz unter der Hochbahn hindurch und links hinein in die Britzer, ebenso gut wie der anschließende Verdauungsspaziergang zurück zur Waldemarstraße, wo er ein möbliertes Zimmer bewohnte. Gewöhnlich kam er dort allerdings erst spät an; einladende Kneipen lagen am Wege, und auch sonst hielt ihn mitunter die eine oder andere Annehmlichkeit auf.

Es hatte lange gedauert, bei Vater und Mutter die eigene Bleibe durchzusetzen, doch nach Vaters Schlaganfall, der dem Alten die linke Körperhälfte auf Dauer lähmte, hatte es August nicht länger in der hochherrschaftlichen, nunmehr endgültig von der hysterischen Mutter beherrschten Wohnung gehalten. Dorthin mal ein Mädchen, ja eventuell sogar eine Dame mitzubringen, war gänzlich unmöglich, obwohl zu Mutters täglichen Klagen die besonders laute über die nicht vorhandenen Enkelkinder gehörte, die stets anhielt, bis Augusts warnender Blick sie traf. Für die Zeit des Abendessens hatte er sich ausdrücklich Ruhe für seine vom Büroalltag angegriffenen Nerven ausbedungen.

«Ich kann auch in einer Gastwirtschaft essen!», drohte er, obwohl er dafür viel zu sparsam war. Aber nachdem nun auch Gustav, sein jüngerer Bruder, sich endgültig mit ihr zerstritten hatte und ausgezogen war, fürchtete Mutter nichts mehr, als den Kontakt auch zu ihrem Kronsohn zu verlieren.

Nur einmal hatte sie es gewagt, in seiner Junggesellenbehausung in der Waldemarstraße aufzutauchen und festzustellen, dass seine Wirtin eine viel zu junge Person zweifelhafter Reputation war, aber die wohlproportionierte Frau Wanierke hatte sich zu wehren verstanden und natürlich nichts über eventuelle Besucherinnen verlauten lassen.

August war sparsam, wie seine Konten bei Sparkasse und Köpenicker Bank bewiesen, wusste aber sein Geld an der richtigen Stelle anzulegen. «Schweigen ist Silber», pflegte er zu sagen, wenn er seiner Schlummermutter, die seine pünktlichen Zahlungen schätzte und ihm inzwischen manche vertrauliche Geste nachsah, ein zusätzliches Geldstück überreichte, das ihren Gehör- und Gesichtssinn für eine gewisse Zeit benebelte. «Man war ja auch mal jung. ..», merkte sie dabei nicht ohne Koketterie an und erhielt dafür das prompte Kompliment, dass sie das doch wohl noch immer sei. Frau Warnieke war eine füllige Person von 35 Jahren, die sich ihrer Reize durchaus bewusst war. Eines Abends hatte sie ihn, mit einem seidenen Nachthemd nur leicht bekleidet, in seinem Zimmer heimgesucht, weil sie angeblich mit der Lampe nicht zurechtkam, und es war nicht bei der Lampenreparatur geblieben.

Am nächsten Morgen hatte er getan, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen, und auch sie hatte mit keinem Wort auf die vergangene Nacht angespielt, deren Ereignisse sich allerdings in unregelmäßigen Abständen wiederholten. August Pankratz fand es an der Zeit, dass diese Art von Vertraulichkeit ein Ende fand. Es war nicht gut, wenn jemand so viel über ihn wusste. Mehrfach hatte er darüber nachgedacht, das Domizil zu wechseln, fühlte sich jedoch insgesamt bei der Wanierken recht wohl. Nun erforderten die Ereignisse auf dem Balkan mit großer Wahrscheinlichkeit sowieso eine grundlegende Änderung seiner Lebensumstände; da blieb die Kündigung des Zimmers noch das Geringste, was es zu bedenken galt.

August befand sich seit Tagen in einer geradezu euphorischen Stimmung, die ihn am Sonntag in die Innenstadt getrieben hatte, wo er auf Tausende Gleichgesinnte stieß und mit ihnen gemeinsam die Linden entlangparadierte. Auch heute Abend hatte er wieder vor, zur Friedrichstraße zu fahren und sich inmitten der patriotisch gestimmten Menge zu erbauen.

Seine Mutter indessen - als hätten sie keine eindeutige Vereinbarung über ihre Tischgespräche getroffen - schwätzte unaufhörlich daher, während er schweigsam den wohlgeratenen Sauerbraten samt Rotkohl und Klößen in nicht zu kleinen Happen in sich hineinschaufelte und es vermied, den Blick in Richtung Vater zu erheben, der sich mit seiner zitternden Rechten um ein Gleiches bemühte. Soße und Rotkohlsaft rannen ihm dabei aus dem links herabgezogenen Mundwinkel.

«Kannst du dir vorstellen, dass diese Person hier plötzlich mit einem Kind auf dem Arm erscheint?!», fragte die Mutter voller Empörung. «Angeblich das Balg einer nichtsnutzigen Nachbarin.»

August stieß nur einen brummenden Laut aus, der ebenso gut Zustimmung wie Ablehnung - und nur die war gemeint - bedeuten konnte.

«Weißt du, was ich glaube?», fuhr die Mutter ungerührt fort und sandte einen schnellen Blick herüber zu ihrem Ehemann, der hilflos mit der Gabel auf dem Teller herumfuhr. Sie senkte die Stimme, als sei der Vater nicht nur halb gelähmt, sondern auch schwerhörig. «Es ist der Bankert ihrer Tochter! Die bringt sie nämlich nie mehr mit. Angeblich hat sie eine Stellung angetreten. ..»

Verächtlich stieß sie die Luft aus.

August horchte auf. «Von wem redest du eigentlich?», erkundigte er sich unfreundlich.

«Na, von wem wohl? Von der Waschfrau, der Jungnickeln aus der Adalbertstraße!»

August hustete und hielt sich die Serviette vor den Mund.

«Ach, die. ..», sagte er langgezogen. «Kommt denn die immer noch ins Haus?»

«Ja, was glaubst du denn, wer deine Wäsche besorgen soll? Und seine. ..» Die abfällige Handbewegung zum Vater hin war deutlich genug. «Was der verbraucht, wird immer mehr.»

August verzichtete auf einen Kommentar. Mitunter tat ihm der Alte zwar leid, aber was der sich als Familienoberhaupt den Söhnen gegenüber an Drohworten und Tiraden, ja an Wutausbrüchen und niederträchtigen Strafen geleistet hatte, konnte und wollte er nicht vergessen. Unwillkürlich fuhr seine Zungenspitze zum oberen falschen Schneidezahn, den er einer solchen Attacke verdankte. Und Gustav war es noch schlimmer ergangen.

«Du erinnerst dich gewiss an das süße blonde Ding, das sie früher immer mitbrachte. Gustav hatte wohl ein Auge auf sie geworfen. .. Er hatte ja schon immer so einen gewissen Hang zum Ordinären. ..» Lauernd sah sie ihn an. «Weißt du etwas von Gustav? Lebt er etwa - mit irgendeiner Person zusammen. ..?

Der Vater stieß ein paar Laute aus, die wohl seine tiefe Abneigung gegen den Geschmack seines jüngeren Sohn ausdrücken sollten. Weder August noch die Mutter reagierten darauf. Resigniert verstummte der Alte und machte sich über das Kompott her.

Gewiss, August erinnerte sich an das dralle blonde Mädchen, verspürte aber nicht die geringste Lust, ausgerechnet mit seiner Mutter über diese Person oder über seinen Bruder Gustav zu sprechen.

Sie hingegen ließ sich nicht in ihrem Redefluss aufhalten.

«Die beiden Söhne von der Jungnickeln - das heißt, die sind von ihrem ersten Mann –, die sollen ja auch recht missraten sein, sagt man allgemein. Frau Professor Nothnagel. ..»

Unwillkürlich hob August den Kopf, was die Mutter als ein warnendes Zeichen auffasste, nicht auch noch Mechthild, die schon etwas altbackene Tochter der Familie Nothnagel zu erwähnen, von der sie lange Zeit gehofft hatte, sie einmal als Schwiegertochter in die Arme schließen zu dürfen.

Zu ihrer Überraschung jedoch fragte August mit einer Spur von echtem Interesse: «Sind denn die Nothnagels schon von der See zurück?»

«Heute Mittag eingetroffen. Die politische Lage, meint der Herr Professor. Die Frau Professor wäre mit Mechthild gerne noch geblieben.»

«Hmm. ..», machte August nur und zwirbelte selbstvergessen die linke Spitze seines martialischen Schnauzbarts.

Die Mutter, Augusts Empfindlichkeit bezüglich der Nothnagelschen Familie eingedenk, kehrte lieber zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. «Frau Professor ist jedenfalls der Meinung, sie ließe eine solche Person wie die Jungnickeln sicherheitshalber gar nicht erst in ihre Wohnung, weil die vielleicht bloß alles. .. ausbaldowere, und die Herren Söhne dann später. ..»

August unterbrach sie. «Mach dir keine unnötigen Sorgen. Demnächst rücken die Kerle sowieso ins Feld, da vergehen ihnen die Flausen!»

«Es gibt Krieg, nicht wahr?»

«Selbstverständlich. Glaubst du, wir ließen unsere österreichischen Brüder im Stich?»

«Ja, ja. Aber was wird aus eurer Firma? Liefert ihr nicht viel nach Petersburg?»

«Darum muss sich der Cohn gefälligst selber kümmern», entgegnete August. «Dem geht jetzt schon der Hintern auf Grundeis, weil Porzellan und Krieg ihm nicht so recht zusammenpassen wollen. Dabei vergisst er, dass man das Zerschlagene hinterher wieder ersetzen muss. Das wird ein Bombengeschäft, vor allem in Frankreich und in den neuen Kolonien, die wir dann beherrschen werden.»

«Na, wenn du meinst. ..»

Endlich stand ihr Mundwerk mal ein Weilchen still, und er fand Zeit, ein wenig nachzudenken. Wie sich doch alles fügte! Nun war es endgültig an ihm, noch etwas Grundlegendes zu erledigen, das er nicht länger vor sich her schieben durfte. Ein deutscher Mann, der kurz davor stand, ruhmreich in den Krieg zu ziehen, hatte gefälligst auch seine häuslichen und familiären Verhältnisse in jeglicher Beziehung zu ordnen, und das gedachte er zu tun.

Als er sich erhob, fragte die Mutter beinahe zaghaft: «Wirst du denn auch in den Krieg ziehen?», und er antwortete markig: «Wie es die Pflicht jedes echten deutschen Mannes ist!»

«Und Gustav?»

August hob die Achseln. Der Bruder war schon immer ein bisschen schwach auf der Brust gewesen. «Mach dir um den keine Sorgen. In spätestens acht Wochen sind wir sowieso alle wieder aus Paris zurück!»

Er blickte ein letztes Mal zu seinem Vater. «Und dann trinken wir alle gemeinsam echten französischen Champagner!», rief er dem gestrengen Antialkoholiker zu.

Der Alte ließ nur ein unverständliches Gurgeln hören.

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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
211 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783955520021
Издатель:
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