Читать книгу: «Attentat Unter den Linden», страница 3

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Die kluge Luise wusste sich anscheinend über die schwächliche Leibesbeschaffenheit ihres Angetrauten hinwegzusetzen. Dessen hochgewachsener Adjutant, Preußens hochgeschätzter Kartograph August von Schmettau, fünf Jahre jünger als Luise, galt insgeheim als der Vater mindestens ihrer sechs jüngeren Kinder.

Deren Onkel Louis Ferdinand, ein Bild von einem Mann, sechs preußische Fuß groß und blond gelockt, war ein tapferer Militär und noch dazu ein begabter Komponist und Musiker, der leider gegen Ende seines kurzen Lebens dem Alkohol verfiel und täglich ein Dutzend Bouteillen Champagner trank. In Berlin hatte er im Salon der Rahel Varnhagen verkehrt, wo er auch seiner letzten Geliebten Pauline Wiesel begegnet war. Bereits als 16-Jähriger hatte Louis Ferdinand ein Fräulein von Schlieben geschwängert, bevor er später die Magdeburger Bürgerstochter Friederike Fromme kennen und lieben lernte. Sie gebar ihm zwei Kinder, Louis und Blanche genannt, die nach dem Heldentod des Vaters geadelt wurden und im Hause ihrer Tante Luise Radziwil aufwuchsen.

In jener für Preußen so verhängnisvollen Schlacht gegen Napoleon lieferte auch der junge Prinz August als Chef eines Grenadier-Bataillons Beweise höchster Tapferkeit. Erst in den Sümpfen nördlich von Prenzlau geriet er in französische Kriegsgefangenschaft.

Zwei Jahre später reformierte und kommandierte er als Generalmajor Preußens Artillerie. Doch nicht diese Tätigkeit, die der scharfäugige Inspekteur später über Jahrzehnte überaus gewissenhaft ausübte, hatte Heidenreichs Interesse erweckt, sondern die zahllosen Affären, die sein Auftreten immer wieder begleiteten. Bei seinem Aufenthalt in England war die englische Thronfolgerin Charlotte in Liebe zu ihm entbrannt. In Wien traf er am Rande des Congresses neben Wilhelmine von Sagan, geborene Prinzessin von Kurland, die exzentrische englische Schönheit Lady Emily Rumbold. War es Zufall, dass seine bald danach in Berlin geborene Tochter den Namen Emilie erhielt, während es ihn schon wieder zu Juliette Récamier nach Paris zog?

Noch im Nachhinein erstaunte Gontard die Akribie, mit der der Freund Heidenreich dem vielfältigen Liebesleben Augusts nachgegangen war, dessen Liaisons mit bürgerlichen Frauen mindestens zwei neue preußische Adelsgeschlechter begründet hatten.

Nach der Trennung von Karoline Wichmann teilte der Prinz sein privates Leben mit der achtzehnjährigen Auguste Arend, der Tochter eines jüdischen Geldverleihers. Sieben Kinder, darunter drei Söhne, entsprossen der vierzehn Jahre andauernden Verbindung. Standesgemäß wurden Auguste und ihre Kinder mit dem Namen »von Prillwitz« geadelt. Davor und dazwischen kam es immer wieder zu neuen Affären. 1826 bezichtigte ihn eine Siebzehnjährige, der Vater ihrer Tochter Agnes zu sein. August bestritt es nicht, versuchte jedoch, die fällige Entschädigung herunterzuhandeln, bis sich das dafür zuständige Königliche Pupillenkollegium einmischte. Die junge Mutter erhielt schließlich fünfhundert Taler und monatliche Alimente für das geistig unterentwickelte Kind, wie Heidenreich herausgefunden hatte. Eine Frau Schlesinger, geborene Arend, bezog für ihren im September 1830 geborenen Sohn Rudolf eine jährliche Zahlung von sechshundert Talern.

Bald nach der Geburt seiner jüngsten Tochter Clara von Prillwitz hatte der Prinz seine Liebe zu Emilie von Ostrowska entdeckt, der anmutigen Tochter eines verwitweten polnischen Grafen. Er mietete für die Fünfzehnjährige eine Wohnung in der Leipziger Straße und besuchte sie dort regelmäßig. Sechs Tage nach seinem 59. Geburtstag gebar ihm Emilie eine weitere Tochter, die auf den Namen Charlotte getauft wurde. Von dieser kindlichen Halbschwester und ihrer Mutter hatte Melitta von Streyth Gontard berichtet, als sie ihn nach Heidenreichs Ableben aufgesucht hatte.

Nun war es an ihm, der Witwe seine Aufwartung zu machen und ihr seine Anteilnahme auszusprechen - ein nicht sonderlich angenehmer Gedanke, der gut zu den schwärzlich drohenden Wolken passte, die sich am nordwestlichen Himmel vor ihm aufzutürmen begannen. Waldemar schien das Unheil zu spüren und fiel in schnelleren Trab. Dennoch schaffte es Gontard nicht, das Städtchen Friesack zu erreichen, bevor das Gewitter losbrach.

Über dem Thiergarten brütete die sonntägliche Mittagshitze. Die Spaziergänger versuchten, unter den Kronen der Bäume zu bleiben, im Schatten ließ sich der Junisonntag ertragen. Adalbert Kirchner schlenderte mit der Sonne im Rücken durchs Grün. Er hatte das Brandenburger Thor ein paar hundert Meter hinter sich gelassen, und vor ihm ließ langsam das Gedränge nach.

Endlich Ruhe. Vergeblich versuchte er schon die ganze Zeit, die Erinnerungen an den zertrümmerten Kopf des Oberst-Lieutenants loszuwerden. Er hatte kaum geschlafen, in der Schule gelang es ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Verstohlen hatte er sich aus dem Labor geschlichen und behauptet, er müsse in der Königlichen Bibliothek etwas nachschlagen.

Eine Familie kam ihm entgegen. Die Frau trug ein Kleid der neuesten Wiener Mode. Die fassonierte Seide war mit Spitzen besetzt, die gerafften Ärmel ließen die Arme kräftig aussehen. Kirchner fand das nicht besonders hübsch - und der Hut mit der angesteckten Feder erschien ihm nachgerade albern. Aber so etwas musste die Frau von Welt in der Residenzstadt wohl anziehen. Auch die Kinder waren in feinen Stoff gehüllt, während die Kleidung des Vaters eher nüchtern ausfiel. Der Anzug war ziemlich neu und saß korrekt, aber es sah aus, als führe der Mann Buch über die Kosten jeder einzelnen Naht. Vielleicht war er ein Beamter in der Kämmerei.

Kirchner überholte eine Gruppe von Infanteristen in Uniform. Die vier unterhielten sich in obszöner Weise über Mädchen, prahlten laut mit Abenteuern. Ihre Milchbärte ließen Kirchner vermuten, dass die Angeberei und die Geschichten nur der Phantasie entsprangen. Aber war er selbst viel reifer? Genau betrachtet waren seine Erfahrungen mit Frauen dürftig.

Er beschleunigte seine Schritte, um Abstand von den Soldaten zu gewinnen. Sofort lief ihm der Schweiß übers Gesicht. Kirchner nahm den Helm ab, zog sein Taschentuch aus der Hose und tupfte sich die Stirn ab. Vor ihm lag eine Weggabelung. Er hörte, wie die Soldaten hinter ihm über ihren Weg diskutierten und schließlich entschieden, nach links abzubiegen. Also wandte sich Kirchner nach rechts. Da vorn floss die Spree am Rande des Thiergartens, eine schöne Ecke, augenscheinlich derzeit nicht sehr belebt. Gut so, denn Kirchner suchte Ruhe, wollte seine Gedanken sammeln.

Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, weil Pragenaus Schnarchen durch die Stube dröhnte - und wenn er doch eingenickt war, weckten ihn die Schreie in seinen Träumen gleich wieder auf. Dieses mörderische Quieken, er glaubte es jetzt schon wieder zu hören …

Nein, da war etwas anderes. Die Tonhöhe - das klang viel schriller als im Marstall. Und die Laute kamen von vorn, von der Spree herüber und nicht aus seinem Kopf.

Kirchner rannte los. Schon wieder!, dachte er. Er schwitzte immer mehr. Trotzdem lief er noch schneller. Er hörte keine Worte, er konnte das Quieken nicht einordnen. Das war bestimmt kein Mensch, dachte er erleichtert.

Der Weg endete an einer Spreewiese, und dort stand eine ältere Dame am Ufer und fuchtelte mit den Armen - mit offenem Mund, aber ohne ein Wort zu sagen. Ein Fellknäuel trieb vom Ufer weg und strampelte und kläffte. Kirchner lief noch schneller, warf die Pickelhaube ab. Den Waffenrock wurde er nicht so leicht los. Acht Knöpfe wollten geöffnet werden. Er zerrte am Kragen, am Revers, endlich bekam er den Rückenstoff zu fassen und warf das Kleidungsstück ins Gras. Jetzt nur noch die Stiefel! Er hüpfte, bis er sie los war. Mit Hose und in Hemdsärmeln stürzte Kirchner sich in die Spree.

Das Wasser war kühl wie ein Frühlingsregen, eine angenehme Temperatur. Erst jetzt merkte er, wie stark er geschwitzt hatte. Kirchner schwamm auf das Hündchen zu. Die Strömung war nicht stark, nahm aber gegen die Flussmitte zu. Sie reichte, um den Kläffer stromabwärts treiben zu lassen.

Also ab in die Mitte und hinterher! Sein Vater hatte ihm das Schwimmen in einem See im Riesengebirge beigebracht, aber seitdem hatte Kirchner kaum Gelegenheit zum Üben gehabt. Meter für Meter kämpfte er sich an das Tier heran. Aus der Nähe sah der Köter aus wie ein kleiner Dämon, japste beim Kläffen nach Luft, strampelte wie ein Besessener auf der Flucht vorm Exorzisten. Die spitzen Eckzähne schnappten beim Bellen. Also nicht ins Maul greifen!, dachte Kirchner.

Er umkurvte das Hündchen und griff in den haarigen Nacken. Der Kläffer zappelte in seiner Hand, Kirchner packte zu, so kräftig er konnte. Aus dem Quieken wurde ein Wimmern und dann ein Quengeln.

Kirchner schaute zum Ufer, er war ein ganzes Stück abgetrieben. Der Versuch, gegen die Strömung zurückzuschwimmen, erschien ihm aussichtslos. Mit dem freien Arm kam er kaum von der Stelle, und der Köter jaulte an der rechten Hand, den ließ er nicht wieder los. Er musste ans Ufer schwimmen und dann zu Fuß zu Waffenrock, Stiefeln und Helm laufen, das war die einzige Möglichkeit. Einarmig bewegte sich Kirchner aus der Flussmitte weg, er kam sich vor wie ein Kutter, der gegen den Wind kreuzen muss. Aber immerhin, das Ufer kam näher, und er trieb kaum noch ab.

Auf der Wiese trappelte ihm die Dame entgegen. Sie trug ein Bündel unterm Arm. Nun, da Kirchner nur noch ein paar Meter zu schwimmen hatte, sah er die Details: Die Alte hielt seinen Waffenrock ordentlich gefaltet in der einen Hand, die Pickelhaube und seine Stiefel in der anderen. Schön, da blieb ihm der Weg zurück erspart. Er merkte, wie seine Kraft nachließ. Allmählich wurde der linke Arm lahm.

Kirchner tapste, als er schließlich Boden unter den Füßen hatte, die letzten Meter bis zum Ufer und hob den Kläffer aus dem Wasser. Das Quengeln wurde zum aufgeregten Gebell, es klang fast so, als halte er eine Krähe mit nassen Haaren in der Hand. Das Fell triefte genau so wie Kirchners Kleidung. Das Hemd hing an ihm, als seien Gewichte in den Saum genäht.

In den nassen Sachen war die Hitze angenehm, jedoch pikste es an den Füßen, da er nur auf Strümpfen lief. Kirchner setzte den Kläffer auf die Wiese. Das Tier schüttelte sich und flitzte zu der Alten. Die bückte sich, legte Waffenrock, Pickelhaube und Stiefel ab, nahm das nasse Tier in die Arme und kam damit zu Kirchner gelaufen - mit kleinen Schritten, aber schnell wie ein Wiesel, wackelte sie heran.

»Hach, junger Herr, Sie waren so mutig! Wie kann ich Ihnen nur danken?«

»Keine Umstände, meine Dame«, krächzte Kirchner. Er hatte das Gefühl, er müsse sich ausruhen. »Es ist alles in Ordnung.« Er lief noch ein paar Schritte und setzte sich auf der Wiese nieder.

»Wirklich? Ich muss doch etwas für Sie tun …«

»Sie müssen auf Ihren Hund aufpassen. Mir geht es gut.«

Das Tier strampelte in den Armen der Alten. Sie redete auf das nasse Knäuel ein.

Kirchner winkte und sagte: »Nun gehen Sie nur.« Dann ließ er sich rücklings ins Gras fallen und schloss die Augen.

»Sie sind ein guter Mensch.« Das war nicht die Alte, aber zweifellos gehörte die Stimme einer Frau.

Kirchner öffnete die Augen. Eine junge Frau, sie zählte vielleicht achtzehn Jahre und stand mit einem einfachen handbreiten Haarband in den brünetten Locken direkt vor der Sonne. Das Licht, das um ihren Kopf herum blendete, zeichnete die Konturen scharf. Er konnte die Gesichtszüge kaum erkennen. Stand die Frau schon lange da? War er eingenickt? Und wenn ja, für wie lange?

Er richtete sich auf. In einiger Entfernung tippelte die Alte mit dem Kläffer von dannen. Viel Zeit schien nicht vergangen zu sein.

»Ich habe eine Decke.«

Kirchner überlegte, ob er fror. Nein, kalt war ihm nicht. Das Hemd klebte an seinem Oberkörper, und die Hose, nass wie ein Schwamm im Badebottich, schnürte die Beine ein. Doch er fror nicht.

»Nein, danke, das ist nicht nötig … Aber vielen Dank!« Kirchner stand auf. Die nasse Kleidung beschämte ihn. War dieser Aufzug eines preußischen Offiziers würdig?

Die Frau trat einen Schritt zurück und sagte: »Ich hoffe, ich wirke nicht aufdringlich.«

Da bemerkte Kirchner, dass sie offenkundig ohne Begleiter weitab von den großen Straßen im Park war. So eine junge Dame, fast noch ein Mädchen … Nein, wie ein Mädchen sah sie bei näherer Betrachtung nicht aus. Sie war sehr schlank und hatte Rundungen nur dort, wo sie für Kirchners Geschmack hingehörten. Sie trug ein dunkles Kleid, dessen Schnitt die Taille betonte. Als er ihr ins Gesicht schaute, bemerkte er, wie ernst ihre Augen aussahen. Er fragte: »Sind Sie … allein hier?«

»Nein, bewahre, natürlich nicht!«

»Oh, ich bitte um Entschuldigung.«

Sie sah ihn an, und im Augenblick wich die Entrüstung in ihrem Gesicht einer Milde, die erwachsene Geschwister zeigen, wenn sie das Brüderchen bei einer Dummheit erwischen. Kein Mädchen mehr, eindeutig, dachte Kirchner.

Würdevoll sagte sie: »Mein Vater hat einen Bekannten getroffen, und sie unterhalten sich für eine Weile unter Männern. Er braucht sicher noch einige Zeit, bis er mich abholen kommt.«

Wäre es nach Kirchner gegangen, so durfte der Vater seine Unterhaltung in aller Ruhe führen. Er schaute über die Wiese. Nur ein paar Schritte entfernt lag eine Wolldecke ausgebreitet auf dem Rasen. Vermutlich hatte sie dort gesessen, als er das Hündchen der Alten gerettet hatte.

Er fragte: »Darf ich Sie zu Ihrer Decke geleiten, Frau …«

»Fräulein - Fräulein Tschech.« Die junge Frau senkte kokett den Kopf und nickte.

Kirchner überlegte, ob er so eine Bewegung auch hinbekommen würde. Nein, so etwas Entzückendes konnten nur Frauen machen. »Mein Name ist Kirchner, Adalbert Kirchner. Und meinen Arm biete ich Ihnen lieber nicht an. Sie würden nass werden.« Er wies ihr mit der rechten Hand den Weg, legte den Waffenrock über den linken Unterarm, nahm die Pickelhaube und … bemerkte, dass er immer noch keine Schuhe trug. Sollte er mit den nassen Strümpfen in die Stiefel schlüpfen? Oder die Strümpfe erst ausziehen? Oder barfuß laufen?

Fräulein Tschech nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie die Stiefel aufhob und sagte: »Kommen Sie! Bis zur Decke wird es gehen.«

Sie liefen nebeneinander über die Wiese. Fräulein Tschech reichte Kirchner etwa bis zur Nase. Genau die Größe, die eine Frau haben musste, um sich an seine Schulter zu lehnen, dachte Kirchner. Schnell weg mit dem Gedanken - von Anlehnen, Umarmen und anderen Zärtlichkeiten waren er und die Frau neben ihm so weit entfernt wie ein Ochse von einem Universitätslehrstuhl. Und für den Augenblick fiel ihm auch nichts ein, was das ändern könnte. Die nasse Hose hing an ihm, als sei sie ein alter Lappen. Elegant sah das bestimmt nicht aus.

»Ich hatte auch einmal einen Hund. Eine Schäferhündin.« Sie schaute zu ihm auf. Ihre Augen waren braun wie Kastanien.

»Was ist mit Ihrem Hund?«

»Er ist tot.«

Warum stellte er so dumme Fragen? Als hätte die Vergangenheitsform in ihren Worten nicht genügt. Wie konnte er nur so grob sein?

»Olga hat wahrscheinlich den Umzug in die Residenzstadt nicht vertragen. In der Kleinstadt war sie glücklicher.« Fräulein Tschech schaute in den Sommerhimmel, träumte anscheinend von Hund und Provinz.

Kirchner biss sich auf die Zunge. Nur nicht gleich wieder eine so blöde Frage stellen! Doch sie sprach nicht weiter. Sie sah ihn nur an, als würde sie gern etwas sagen, aber traue sich nicht. Sie schwiegen. Was sollte er fragen, ohne sie noch trauriger zu machen? »Wo haben Sie mit Ihrem Hund gewohnt?« Das war sicher nicht die beste Frage, dachte Kirchner, aber immerhin beendete sie das Schweigen.

»Unsere Familie hat in Storkow gewohnt. Mein Vater war dort Bürgermeister. Es war eine glückliche Zeit. Die Felder, die Wiesen … Wir hatten ein schönes Haus mit einem großen Garten.« Fräulein Tschech lächelte beim Reden, als erlebe sie die Stunden gerade noch einmal. Dann kräuselte sie die Stirn und sagte: »Aber die Menschen … Es gab viele üble Neider. Deswegen mussten wir dort weg.«

Sie senkte den Kopf und schaute zu ihm. »Aber ich möchte Sie nicht mit meiner Vergangenheit langweilen …«

Wenn es etwas gab, das Kirchner in diesem Augenblick nicht verspürte, dann war es Langeweile. Ihr Mund sah zwar auch geschlossen hübsch aus - aber wenn sich die Lippen bewegten, konnte er kaum seinen Blick von ihnen lösen.

Sie hielt ihm die Stiefel hin, nur waren seine Strümpfe immer noch nass. Sie lächelte. Er schlüpfte in die Stiefel, es klang, als würde eine zahnlose Oma Kartoffelbrei schmatzen.

Wie konnte er sie wiedersehen? Was konnte er sagen, ohne aufdringlich zu wirken? »Bestimmt kommt Ihr Vater bald zurück.« Das war nicht das Richtige. Warum fielen ihm keine passenden Worte ein?

Sie nickte.

Er stand auf, hob Waffenrock und Pickelhaube auf, verbeugte sich und sagte: »Ich gehe oft im Thiergarten spazieren …« Eine Hitzewelle stieg von seinem Hals hinauf zum Kopf. Verstand sie seine Worte richtig, oder wirkten sie zu dreist?

Sie lächelte und machte einen Knicks. Kirchner drehte sich um und schritt in seinen durchnässten Hosen Richtung Stadt.

Drei

Unangenehmerweise begegnete Gontard am Montagmorgen zuerst seinem Director, dem Generalmajor von Schnöden, der ihm sicherlich anmerkte, was für ein anstrengendes Wochenende hinter ihm lag. Er hatte nicht mehr als zwei Stunden geschlafen, denn nach dem Gewitter, das ihn auf dem Weg nach Wutike aufgehalten und vollständig durchnässt hatte, war auch der lange Rückweg nicht ohne Hindernisse verlaufen, so dass er sein Heim in der Dorotheenstraße erst im Schein der hellen Morgensonne erreicht hatte. Leider war der Aufenthalt in Wutike weit weniger geruhsam ausgefallen, als Gontard erhofft hatte. Querelen mit dem Schwager gab es allemal, Henriette hatte sich allerdings diesmal auf dessen Seite geschlagen und damit eine Verstimmung hervorgerufen, die Gontard auch jetzt noch beschäftigte.

Von Schnöden gab sich ihm gegenüber so jovial wie immer, fragte jedoch selbstverständlich, wie denn der Stand der leidigen Angelegenheit von Streyth einzuschätzen sei, was Gontard dazu zwang, in unverbindliche Allgemeinplätze auszuweichen und sich mit dem noch ausstehenden Obduktionsergebnis herauszureden. Glücklicherweise genügte von Schnöden die Antwort, glaubte er doch die weiteren Untersuchungen bei Gontard in besten Händen.

Der, gezeichnet von den Strapazen der letzten Tage, hatte vorerst einmal eine Physiklektion zu halten, die ihm keine Zeit zur Besinnung ließ. Es ging um die Gesetze der Optik, ein Gebiet, auf dem der Lieutenant Kirchner schon mehrmals mit seinen vorzüglichen Einsichten geglänzt hatte, was Gontard zu einiger Vorsicht veranlasste. Sosehr er solchen Eifer schätzte, war es ihm dennoch nicht gleichgültig, wenn sich die Erkenntnisse der Schüler denen des Lehrenden überlegen zeigten. Für derlei Unterlegenheit war der Oberst-Lieutenant von Streyth bei seinem Train-Unterricht bekannt und wenig beliebt gewesen.

Kirchner schienen dessen Tod und die ungeklärte Rolle, die er selbst dabei gespielt hatte, so gehörig aufs Gemüt geschlagen zu sein, dass er sich heute auffallend still verhielt - so als berühre ihn der Unterrichtsgegenstand nicht mehr als die meisten seiner Kameraden, die sich dem schlecht getarnten Montagsschlaf hingaben. Gontard war lange genug an der Schule, um sich auch in dieser Hinsicht keinen Illusionen hinzugeben. Er war froh, wenn die Absolventen nach zwei Jahren wenigstens konkav und konvex zu unterscheiden wussten und Fokus nicht für ein journalistisches Modewort, sondern für den optischen Brennpunkt hielten.

So schleppte sich der Vormittag dahin, in den nach Süden gelegenen Unterrichtssälen trug die Sonne das ihre dazu bei, keine überflüssigen Aktivitäten aufkommen zu lassen. Gontard gab sich alle Mühe, der eigenen Mattigkeit nicht nachzugeben, zumal ihn der beständige Anblick von Kirchners Leidensgesicht zusätzlich in Unruhe versetzte. Drei Tage lang hatte er nicht das Geringste unternommen, um dessen Schuld oder Unschuld nachzuweisen - ein Pflichtversäumnis, wie er es sich üblicherweise nicht erlaubte. Auch die Gespräche der Kollegen, die mit von Streyth wahrlich kaum freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatten, betrafen verständlicherweise dessen überraschendes Ende und gemahnten Gontard daran, seine Aufgabe endlich in Angriff zu nehmen.

Der Ritt nach Wutike und zurück hatte ihm ausreichend Gelegenheit geboten, sein Wissen über den allseits unbeliebten Oberst-Lieutenant noch einmal zu rekapitulieren und dabei auch den Gedanken ins Auge zu fassen, dass der möglicherweise das Opfer eigener Streitsucht geworden sein konnte. Nomen est omen, hatten schon die Lateiner gesagt, und von Streyth hatte diesbezüglich einen entsprechenden Ruf genossen. Eigentlich war ihm jedermann aus dem Wege gegangen, kaum jemanden verlangte es danach, etwas Privates über ihn und seine Familie zu erfahren - ausgenommen von Gontard, der vor beinahe vier Jahren eher zufällig hinter einige Mysterien der von Streyth’schen Ehe gekommen war.

Dabei musste Gontard zugeben, dass es in den letzten Jahren recht still um den alten Haudegen geworden war, wenn man von gelegentlichen Ausbrüchen gegenüber den Studenten absah. Sollten die junge Frau und die späte Geburt des Sohnes einen besänftigenden Einfluss auf ihn gehabt haben? Sich von Streyth als liebenden Vater vorzustellen fiel Gontard schwer. Er empfand sich ja selbst kaum als ein guter Vater, das Wochenende hatte ihm dies gerade wieder schmerzlich vor Augen geführt. Die spürbare Entfremdung von seiner Frau Henriette würde sich nach dem langen Sommerurlaub hoffentlich wieder geben. Luise jedoch würde nie mehr das kleine, anschmiegsame Ding sein, das er so liebte, und Ferdinands stillen und beharrlichen Trotz zu überwinden mochte noch viel Geduld erfordern.

Als Gontard endlich sein Pflichtpensum erledigt hatte, beeilte er sich, aus dem Haus zu kommen. Draußen jedoch empfing ihn nur die brütende Mittagshitze, die ihn ganz taumlig machte. Nein, so verschwitzt und derangiert, wie er sich fühlte, konnte er der Frau von Streyth unmöglich seinen Kondolenzbesuch abstatten, noch dazu zu dieser unpassenden Tageszeit. Da war es besser, er begab sich in seine Wohnung, machte sich frisch und ruhte ein Stündchen, bevor er sich, korrekt gekleidet, in die Taubenstraße begab. Von dort waren es dann nur ein paar Schritte zum Café Stehely, wo Kußmaul ihn vielleicht schon mit ersten Ergebnissen der Obduktion erwartete.

Leider hatte er die Rechnung wieder einmal ohne die ausufernde Redseligkeit seiner resoluten Wirtschafterin Minna Koblank gemacht. Madame Koblank, vermutlich zu Napoleons Zeiten aus dem Märkischen zugewandert, schien seit dem Tag ihres Dienstantritts beim Major von Gontard um keinen Tag gealtert. Möglicherweise wies ihre nachlässig frisierte Haartracht einige graue Strähnen mehr auf. Die blaue Kattunschürze, die ihren fülligen Leib umhüllte, war indes gewiss seit jeher dieselbe. Mit dem langen Staubwedel aus Hahnenfedern in der Hand musste sie umgehend ihren Fleiß beweisen.

»Na, da ham sich der Herr Major mal wieder so richtig abjehetzt, wie?«, begann sie ihre vorwurfsvolle Suada, kaum dass Gontard die Treppe erklommen, den Waffenrock von sich geworfen und sich auf seinen bequemsten Stuhl hatte fallen lassen. »So was is bei die Hitze kreuzjefährlich!«, mahnte sie, während er nur ergeben nickte. »Is denn zu Hause auf Ihrem Jut wenichstens alles jut?«

»Danke der Nachfrage«, antwortete Gontard schwach. Sie jetzt einfach aus dem Zimmer zu weisen, nachdem sie ihn drei Tage als Zuhörer hatte entbehren müssen, brachte er nicht übers Herz. Und in der Tat hatte sich bei ihr einiges angesammelt, was es zu klären galt.

»Wieso ham Sie denn mit kein Sterbenswort diese schreckliche Untat erwähnt, die sich im Marstall hat abjespielt? Wo doch der Tote sojar einer von Ihre Attlerieschule is, und die Mörder auch! Sie sind doch sonst hinter jedes Verbrechen her wie so’n katholscher Pfaffe hinter de Erbsünde!«

»Liebe Madame Koblank, es handelte sich mit größter Wahrscheinlichkeit lediglich um ein geradezu tragisches Unglück, dem einer meiner Kollegen zum Opfer gefallen ist. Wollte ich über jedes durchgegangene Pferd einen Disput mit Ihnen führen, dann …«

»Det könn’ Se wem erzähln, der keene Krempe am Hut hat!«, schnitt ihm Madame das Wort ab. »Es hat eine mächtje Schießerei jejeben! Dem armen Mann soll ja der halbe Kopp fehlen! Aber so was fällt wohl wieder mal unter die militärische Jeheimnistuerei, nich wah?«

Gontard rollte mit den Augen. Was auch immer er jetzt äußerte, Madame Koblank würde weitere Verdächtigungen und durch Hörensagen aufgebauschte Details daran knüpfen und sie in ihrer weitläufigen Bekanntschaft ausstreuen. Deshalb sagte er kurz entschlossen: »Sie haben recht. Die Angelegenheit berührt in der Tat dienstliche Obliegenheiten, und ich bin nicht berechtigt, Ihnen darüber Rede und Antwort zu stehen.«

Verdutzt starrte sie ihn offenen Mundes an. Einen solchen Ton war sie kaum von ihm gewohnt, wobei er sofort einlenkte und beinahe vertraulich hinzusetzte: »Sie täten gut daran, sich in Ihren Bekundungen ebenfalls zurückzuhalten …«

Das war eine Drohung, die sie gut verstand und sogar zu beherzigen gedachte, zumindest fürs Erste. Beinahe flüsternd erkundigte sie sich dennoch: »Aber Sie kenn’ natierlich die Mörder, nich wah?«

Gontard erhob seine Stimme: »Es gibt keine Mörder! Ist das so schwer zu verstehen? Der Herr Oberst-Lieutenant ist einem höchst bedauerlichen Unfall zum Opfer gefallen. Nur sicherheitshalber wird eine gründliche Untersuchung des Vorfalls stattfinden.«

»Ja doch, ja doch, hab’ ick ja allens verstanden.« Madame Koblank hob begütigend die Hand. »Und auch, dass alles janz jeheim bleiben muss, von wejen der Schießerei.« Theatralisch verschloss der Zeigefinger ihre Lippen. »Von mir kein weiteres Wort, da könn’ Sie janz sicher sein!«

Das war Gontard nun keineswegs. Was das gemeine Volk, zu dem man Minna Koblank und ihren ganzen Stand getrost zählen durfte, in Berlin verbreitete, entzog sich nun einmal auch den hartnäckigsten obrigkeitlichen Berichtigungsversuchen, die dank der herrschenden Zensur ohnehin stets zu spät kamen. Das konnte ihm gleichgültig sein, hätte er nicht den Verdacht gehegt, dass Minna Koblank sich bei der Verbreitung ihrer ausgeschmückten Darlegungen nur allzu gern auf seine Autorität berief.

Seufzend erhob er sich. Am liebsten wäre er jetzt hinüber zum Spreeufer in das Bad des Herrn von Winterfeld gegangen, wie er es am frühen Morgen öfter tat, aber dazu fühlte er sich zu zerschlagen, und die Zeit würde knapp werden. »Bringen Sie mir bitte frisches Wasser!«, forderte er Minna auf, die immer noch mit dem Staubwedel auf den Möbeln herumfuhrwerkte.

»Sie verbrauchen janz schön viel davon!« war alles, was sie entgegnete. Sie selber kam eher mit einem Minimum der Flüssigkeit aus, was Gontard durchaus einleuchtete, schließlich war sie es, die jeden Eimer an der Pumpe im Hof füllen und nach oben schleppen musste.

Schon wieder einer dieser Tage, an dem nichts klappen wollte - so ging das ständig seit jenem vertrackten Vorfall im Marstall. Das Bild des toten Oberst-Lieutenants ging Kirchner nicht aus dem Kopf - die Wunden, das Blut. Und dazu dieses Fräulein Tschech … Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren.

Im Labor kam er nicht voran. Die Negativ-Ablichtungen auf dem Jodsilberpapier zeigten nur verschwommene Bilder, sie wollten einfach nicht besser werden. Wenn er bis zum Ende seines Studiums keine Ergebnisse erzielte, könnte er nicht mehr das physikalische Labor in der Artillerie- und Ingenieurschule nutzen.

Er spazierte Unter den Linden entlang, erst in Richtung Stadt, bald darauf begab er sich aber wieder auf den Rückweg. Es war beinahe, als liefen seine Beine den Weg zum Thiergarten von allein, als würden sie von einem Magneten angezogen - von einer Kraftquelle, die sich dort am Ufer der Spree befand. Seit Tagen spazierte er dorthin, wann immer es das Studium erlaubte. Er ging langsam und betrachtete die Menschen, die ihm entgegenkamen oder ihn überholten. Manchmal erntete er böse Blicke. Vielleicht hielten die Passanten ihn für einen Zuträger der Politischen Polizei. Aber die meisten Leute auf der Straße beachteten ihn nicht. Schlimmer war, dass er sie nicht sah - Fräulein Tschech. Früh, mittags, abends so viele Gesichter, aber nicht das eine. Mied sie ihn?

Nein, das durfte er nicht denken! In Berlin lebten über 350 000 Menschen. Die Zahl war ihm nach den vielen Monaten in der Residenzstadt noch immer unvorstellbar. Seine Eltern trauten sich kaum nach Breslau, das kaum ein Drittel der Einwohner Berlins hatte. Und schon die Stadt an der Oder hielt Mutter für einen lärmenden Moloch. Vermutlich verging sie vor Angst, wenn sie an ihren Sohn in Berlin dachte. Über den Mordfall hatte Kirchner im letzten Brief auch kein Wort verloren. Mutter bräche zusammen, wenn sie davon wüsste.

Kirchner blieb auf Höhe der Neustädtischen Kirchstraße stehen und schaute auf die Menschenmassen: Familien, Paare, Geschäftsleute, Mägde beim Einkauf und dazu auf dem Pflaster Gespanne und Reiter - auf beiden Straßenseiten und dem Gehweg unter den Bäumen wimmelte es von Leuten. Und wenn er zum Pariser Platz schaute, wurden es immer mehr. Wie sollte er hier auf Fräulein Tschech treffen?

Er trottete weiter, er musste einen anderen Weg finden, an sie heranzukommen. Wenn er darauf baute, dass vor seinen Augen plötzlich das Haarband in den brünetten Locken auftauchte, liefe er sicher noch in ein paar Monaten in jeder freien Minute gen Thiergarten. Aber was sollte er auch tun, solange ihm nichts Besseres einfiel?

Kirchner blickte weiter umher - und konnte es kaum glauben: Haarband und Locken bogen keine fünfzig Meter entfernt in die Schadowstraße. Er begann zu rennen. Aus der Entfernung konnte er nicht sicher sein, dass es sich bei der Frau tatsächlich um Fräulein Tschech handelte. Aber dieser Gang! Auch die Größe passte. Und hatte Fräulein Tschech im Thiergarten nicht genau so ein Körbchen auf ihrer Decke stehen gehabt, wie diese Frau es jetzt in die Schadowstraße trug?

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22 декабря 2023
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250 стр. 1 иллюстрация
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9783955520328
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