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Читать книгу: «Engelhart Ratgeber», страница 5

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Sechstes Kapitel

Im darauffolgenden Herbst zogen Ratgebers in jenes Haus, in dessen Hoftrakt sich die Fabrik des Vaters befand. Engelhart hatte jetzt ernsthaft für die Schule zu arbeiten, wenn er vorwärts kommen wollte, doch er genügte keineswegs allen Ansprüchen und brachte vielfach schlechte Zensuren.

»Du bist nicht bei der Sache,« sagte Herr Ratgeber streng, »du träumst.«

»Er ist ein Duckmäuser,« fügte die Stiefmutter hinzu, »sieh ihn nur an, er hat keinen freien Blick.« Dieser Vorwurf traf den Knaben empfindlich; er wußte sein Auge nach innen beschäftigt, wenn ihn jemand anrief, riß er sich erst los von einem inneren Bild, aber dann fühlte er seinen Blick ohne Scheu, er fürchtete die Augen der Menschen nicht, höchstens die der fremden Frau, die er Mutter nennen sollte. Er konnte sich freilich nicht geben, sondern wollte genommen werden, doch liebte er die Menschen, und das mit jedem Tage mehr; selbst vom Gleichgültigsten zurückgestoßen zu werden, war ihm ärgerlich. Er suchte Zuneigung, Zustimmung, Einverständnis und gewahrte, wohin er auch sah, die Spuren halbverwischter, mühsam verdeckter Leiden und die Schatten des Hasses, alle quälten sich aneinander, einer schürfte sich am andern wund, auch im eignen kleinen Kreis war niemals Frieden. Die Sparwut der Stiefmutter überschritt jedes Maß, bei den Bekannten in der Stadt sprach man offen davon, daß die Ratgeberschen Kinder hungern müßten, Frau Karoline Curius schrieb es an Michael Herz nach Wien. Dieser gab nun seiner Schwester eine Summe in Verwahrung, sie solle sich der Kinder annehmen, und Engelhart solle wöchentlich eine Mark Taschengeld erhalten. Ferner beschloß er, Gerda aus dem elterlichen Haus zu nehmen; er verständigte sich mit dem Vater, und ehe Weihnachten kam, reiste das glückliche Mädchen, jetzt erst seiner Kindheit wiedergegeben, nach dem oberfränkischen Städtchen Neustadt, wo sie in einem rühmlich bekannten Pensionat Aufnahme fand.

Engelhart erschien sich mit seiner wöchentlichen Rente als reicher Mann, doch erwuchs ihm keine Freude daraus. Wenn er den Besitz genießen wollte, mußte er ihn ängstlich geheimhalten, und diese Heimlichkeit bedrückte ihn: das lichtscheue Gebaren beim Kauf jedes Stückchen Brotes, das Verstecken seiner Pfennige am Abend vor dem Schlafengehen; was eine Erleichterung hätte sein sollen, beschwerte ihn, er haßte sich, wenn er seinen Hunger stillte, und inbrünstig suchte sich sein Geist aus der trüben Täglichkeit zu lösen. Durch Zufall kam ihm ein populäres Buch über die Sternenwelt in die Hand, und entzückt sog er das fabelhafte Neue in sich auf. Welch ein Himmel, welch eine Welt! Die Gestirne ein feuerflüssiges Chaos, alles Werden ein Spiel von Jahrmillionen, die unscheinbare Milchstraße in zahl- und namenlose Sonnen geteilt, jede sich regend in grauenhafter Gesetzmäßigkeit, das ganze Universum ein Bild zielloser Eile, ein Hinrasen durch unendliche Finsternis. Des Knaben Gedanken tasteten sich schauernd von Erscheinung zu Erscheinung, wie Schneegestöber in einen Garten mit jungen Blättern wirbelte und stürzte dies alles in seinen Kopf, Andacht mischte sich mit Traurigkeit, und es schien ihm vergeblich, ein Glück für das eigne schwanke Herz zu suchen, das wie ein Atom im Staubmeer unter einem kurzen Lichtstrahl leuchtend zuckt, um dann still in die Dunkelheit zu gleiten. Oft drohte ihm die Brust zu zerspringen, und wenn er lange in einer entlegenen Ecke vor sich hingegrübelt, lief er hinaus durch die Straßen ins freie Feld, redete laut vor sich hin, berauschte sich in unsinnigen Gesängen, um an einem einsamen Punkt der Landschaft plötzlich stehen zu bleiben und sehnsüchtig auf Stimmen zu horchen, die seine entbrannte Phantasie in die Fernen und Tiefen zauberte.

War all das nur ein buntes, böses Träumen der ums Wachsein sich quälenden Seele? An Nebeltagen verschwimmen Himmel und Erde, und der Schatten an einer Mauer scheint sich in die Wolken zu recken.

In dieser Zeit kam Engelhart fast täglich ins Haus der Tante Curius. Herr Peter Salomon hatte seinen Posten im Ratgeberschen Geschäft längst aufgegeben und betrieb eine Kohlenhandlung, aber seine Einkünfte hätten ihm nicht gestattet, das Feinschmeckerleben zu führen, zu dem er sich ausersehen glaubte, wenn nicht Michael Herz in Wien regelmäßige und bedeutende Zuschüsse gewährt hätte. Peter Salomon betrachtete das als einen selbstverständlichen Tribut, und wenn kein Geld mehr da war, sagte er mit einer gravitätischen Handbewegung: »Karoline, du mußt nach Wien schreiben; dein Michael muß bluten, da hilft kein Herrgott.« Dann tänzelte er lächelnd von einem Fuß auf den andern, trällerte ein Lied und ging ins Wirtshaus. Der Kohlenhandel ging natürlich schlecht, da Herr Curius nicht zu arbeiten liebte; er begnügte sich mit dem Bewußtsein, daß in ihm das Talent zu einem Millionär stecke. Eines Tages kaufte er für zwölftausend Mark, es war alles, was er überhaupt besaß, einen Bauplatz, der am äußersten Rande der Stadt gegen Muggenhof zu lag, und obwohl ihm alle vernünftigen Leute die Aussichtslosigkeit des Projektes lebhaft vor Augen stellten, führte er seinen Willen durch, und seine Hauptbeschäftigung bestand von nun an darin, erstens so oft als tunlich auf seinem eignen Grund und Boden spazieren zu gehen, zweitens zu warten, bis irgendein wunderbares Ereignis die Landpreise so in die Höhe treibe, daß er zum reichen Manne würde. »In zehn Jahren,« behauptete er mit jener Sicherheit, die ihn in den Augen seiner Frau zu einem Genie machte, »wird man mir zweimalhunderttausend Mark anbieten, aber ich werde noch weitere zehn Jahre zusehen. Ihr sollt den Curius kennen lernen.«

Nun war beinahe seit dem ersten Tag der Ehe eine Person namens Barbara Kroner im Hause, die zuerst als Köchin, dann als Wirtschafterin galt, die aber in Wirklichkeit die Geliebte Peter Salomons war. Man erzählte sich, daß alle drei, Mann, Frau und Magd, in demselben Zimmer schliefen und daß die Frau gezwungen sei, die Zärtlichkeit ihres Mannes mit der Fremden zu sehen, man entrüstete sich darüber und gab der Frau schuld, da sie etwas beschränkten Geistes war. Aber sie liebte ihren Peter Salomon so abgöttisch, daß sie in seiner Gegenwart nicht den Blick von ihm wandte, und ihre Selbstverleugnung war so groß, daß sie die andre mitliebte, daß die andre die Herrin spielen und mit demselben Allerweltshohn wie Curius jede Billigkeit vergessen durfte. Barbara Kroner weigerte sich schließlich, die gemeine Hausarbeit zu verrichten, und drang darauf, daß ein Dienstmädchen angestellt werde. Peter Salomon benutzte die Gelegenheit und wählte unter denen, die sich dazu anboten, ein höchst scharmuzierliches Frauenzimmer, wie er sich ausdrückte, eine gewisse Anna Wild aus der Gegend von Baireuth. Sie gefiel Peter Salomon so über die Maßen, daß er Frau samt Kebsweib vergaß und sich emsig hinter die Neue machte. Anna Wild war in der Tat ein schönes Weib; sie ging meist mit kokett gesenkten Augen, und wenn sie lächelte, flammten hinter den feuchten Lippen die weißesten Zähne. Die Kroner wurde von Eifersucht erfaßt, es gab fortwährend Zänkereien, einmal wollte die Wild Phosphorkappen von Zündhölzern in ihrer Suppe gefunden haben. Alledem sah Frau Curius still zu. Nicht nur, daß sie die Unbequemlichkeiten ertrug, sondern sie warb auch noch bei Anna Wild für ihren Gatten und begünstigte sie, als sie in ihr die Mehrgeliebte sah.

An einem Abend kam Engelhart hinüber und sah Anna Wild hinter der Kellertür sitzen, ein Öllämpchen neben sich, und in die Tiefe starren. Der Knabe fragte, auf wen sie warte, sie blickte ihn flüchtig an, schüttelte den Kopf und rief nach einer kleinen Weile gegen die Wohnung hinauf: »Herr Curius! Herr Curius!« Es kam keine Antwort, das Mädchen wandte sich zu Engelhart und forderte ihn auf, sie in den Keller zu begleiten, sie fürchte sich allein. Er ging mit, sie rollte ein kleines Bierfaß aus dem Verschlag, stellte es auf die Bank, wo das Lämpchen stand, nahm den Hammer und hieb mit starken Schlägen den Keil in den Spund. Dann nahm sie den Abzugsschlauch, steckte ihn in die Öffnung und trank am andern Ende mit langen, durstigen Schlücken. Plötzlich hielt sie inne und sagte: »Du könntest mir gleich einen Kuß geben, du Kleiner.« Da er nicht antwortete, zog sie ihn am Arm heran und hieß ihn aus dem Schlauch trinken, wie sie selbst getan. »Ordentlich!« befahl sie. »Du wirst kein Mann, wenn du nicht trinken kannst.« Und ehe er sich dessen versah, ergriff sie ihn ganz wie er war, drückte seine Schulter an ihre Brust, packte mit der Hand sein Kinn und küßte ihn mitten auf den Mund. Engelhart packte sie zornig bei den Haaren und suchte ihren Kopf zurückzustemmen, ihm war, als berühre ein zuckender, kühler Fisch seine Lippen, endlich riß er sich mit aller Kraft los und stolperte die finstere Treppe hinauf. Anna Wild lachte hinter ihm drein und rief: »Wirst kein Mann, wenn du nicht küssen kannst.«

Tagelang vermied Engelhart den Blick der Menschen, und wenn ihn jemand anredete, erschrak er. Bisweilen rieb er mit den Fingern seine Lippen ab, als suche er das Gedächtnis an jenen fischhaften Druck fortzuwischen. Wenn er aus dem Schlaf erwachte, blickte er unruhig in die Finsternis, der Wind rüttelte am Fenster, und es war ihm, als laure draußen, den Raum zwischen Himmel und Erde füllend, ein ungeheures Raubtier. Vielleicht hätte er das ganze Erlebnis wieder vergessen, wenn nicht andre Dinge sich ereignet hätten, die seinem Nachdenken und seiner dumpfen Verstörtheit neue Nahrung gaben. Die Magd bei Ratgebers hatte einen Liebhaber aus der Fabrik, und es kam heraus, daß dieser sich allnächtlich in ihre Kammer schlich. Eines Nachts wachte Engelhart von wildem Schreien und Schimpfen auf. Er erhob sich und lugte durch die Türspalte. Die Magd und ihr Liebhaber standen beide im Hemd vor Herrn Ratgeber, das Weib heulte, der Liebhaber und Herr Ratgeber brüllten. Oben und unten öffneten sich Türen, verschlafene Leute erschienen, und endlich mußte das Paar, nachdem es sich angekleidet hatte, schimpflich das Haus verlassen. Darauf folgte eine angstvolle Zeit, in jeder Nacht vor Torschluß läutete die Flurglocke stürmisch, der Liebhaber und seine Kumpane standen draußen und verlangten unter unheimlichen Reden den Lohn der Magd für die nichteingehaltene Kündigungsfrist. Da nicht aufgemacht wurde, stießen sie das Glas an der Türe ein und einer warf sein Messer in den Korridor. Das ging so fort, bis die Polizei dem Treiben ein Ende machte.

Langsam und mit unerbittlicher Gewalt tauchte für Engelhart ein Warum nach dem andern aus der Tiefe des Nichtwissens empor. Er dürstete nach Wahrheit und Aufklärung und mußte unerlöst hangen zwischen Lüge und Feigheit, mußte zitternd weilen wie der Blinde, der an einen Stein stößt und sich nicht weiter wagt, trotzdem zu beiden Seiten kein andres Hindernis ist. Ja, er mußte in der Luft der Heuchelei zum Heuchler werden, so daß ihm bangte, wenn von den mysteriösen Dingen zu Hause oder unter Freunden geflüstert wurde und er sich anschickte, mit Befangenheit den Unbefangenen zu spielen. Was er auch von den Menschen und ihren Einrichtungen beurteilen lernte, erschien ihm widersinnig und grausam.

Es war im Karneval, da ereignete es sich, daß unter Engelharts Mitschülern das Gerücht umlief, ein gewisser Bachmann, der dieselbe Klasse besuchte, aber zwei Jahre älter und wegen seines gewalttätigen Wesens von allen gefürchtet und gemieden war, habe seinem Vater eine große Summe Geldes entwendet und alles im Verlauf kurzer Zeit in einem öffentlichen Haus verpraßt. Die Sage kam zu den Ohren der Lehrer und des Rektors, es fand eine große Untersuchung statt, in die auch einige Schüler der oberen Klassen verwickelt wurden, und Bachmann und seine Mitschuldigen wurden dimittiert. Am Nachmittag des Faschingdienstags kehrte Engelhart mit einer Schar von Kameraden von der Turnstunde zurück. Die Turnhalle war etwas außerhalb der Stadt gelegen, und ohne daß Engelhart wußte, was im Werk war, bemerkte er plötzlich ein heimliches Raunen und aufgeregtes Tuscheln unter den Knaben, und sie zogen in eine Seitengasse, wo ein paar unscheinbare Häuser standen, deren Fenster mit grünen Läden verschlossen waren. Die Schar, es waren zwanzig bis fünfundzwanzig Knaben, wurde immer stiller, einige sahen sich mit furchtsamen, fast irr glänzenden Augen um, andre lächelten scheu. Sie standen eine Weile unschlüssig, zwei oder drei rieten umzukehren, da öffnete sich im oberen Stock eines Häuschens ein Fenster, und der dicke Bachmann, der Stier, wie sein Spitzname lautete, lehnte sich über das Sims. Er hatte eine Harlekinmütze auf dem Kopf und sah wüst und verkommen aus. Hinter ihm erschienen zwei oder drei Mädchen, bis zur Brust entblößt; sie lachten und klapperten zugleich vor Kälte mit den Zähnen, die eine hielt eine Weinflasche in die Höhe, die andre stieß Lockrufe aus, wie wenn man Hunde lockt. Auch sie hatten bunte Papiermützen, mit klingenden Schellen behangen.

Unten standen die Knaben vollständig lautlos. Von denen, die rückwärts standen, schlichen einige ängstlich davon. Bachmann forderte sie auf, ins Haus zu kommen, er habe Geld genug, doch keiner antwortete. Es dunkelte schon, und nach und nach machten sich alle aus dem Staub. Engelhart trieb sich noch eine Weile in der heute mehr als sonst belebten Stadt umher; als er heimkam, sah er unten im Packraum neben dem Schreibzimmer des Vaters den Kommis Lechner. Es drängte ihn, mit irgend jemand zu sprechen. Er hatte die Gesellschaft gerade dieses Menschen bis jetzt gemieden, er war einmal dabei gewesen, als Lechner im epileptischen Krampf niedergestürzt war, Tisch und Bank mit sich reißend, in grauenhaftem Gebrüll mit allen Gliedern zuckend; seitdem war ihm seine Nähe unerträglich, und doch konnte er heute nicht anders, er gesellte sich zu ihm, begann scheinbar harmlos zu plaudern und erzählte ihm die Geschichte mit Bachmann stockend und umständlich. Gewiß merkte Lechner das Bedrückte und Fragende in Engelharts Gebaren, und er benutzte den Anlaß, um als Wissender den Unwissenden zu sticheln. Engelhart setzte sich auf eine Kiste und hörte zu wie einer, der Vorwürfe verdient. Da nahm Lechner einen mitleidig-lehrhaften und vertraulichen Ton an, lehnte sich flüsternd über den Tisch und seine Augen flackerten glimmerig. Von namenloser Scham wie gerädert, lauschte Engelhart den unverkleideten Worten des Menschen. Sein erster stechender Gedanke war: ›Und meine Mutter?‹ Es erleichterte ihn, daß er ihr nicht begegnen mußte, daß ihr Tod ihm erspart hatte, sie mit Augen voll solcher Kenntnis ansehen zu sollen. Mit einem Abscheu vor Lechner, der keines Wortes fähig war, erhob er sich und ging. Der andre, der Dankbarkeit und begieriges Eingehen erwartet hatte, war erzürnt; er haßte den Knaben von da an und verfolgte ihn bei jeder Gelegenheit mit hämischen Anspielungen. Ja, seine Tücke scheute nicht davor zurück, Herrn Ratgeber mit dem wohlgemeinten Hinweis auf Engelharts frühe und gefährliche Reife zu beunruhigen.

Engelhart schlief mit seinem Bruder Abel, der jetzt neun Jahre alt war, in einem Bette. Abel war ein ganz und gar verprügeltes Kind; die steten Gefahren, von denen er umlauert war, hatten ihn tückisch und verschlagen gemacht, und da ihm jede wahre Zucht mangelte, bot sein Charakter dem Schlechten und Niedrigen immer weniger Hemmungen dar. Engelhart hatte ihn wegen kleiner Verrätereien, durch die sich Abel bei der Stiefmutter ein Stück Brot oder ein gutes Wort erkaufte, vielfach zu fürchten, doch hatte er schließlich ein Mittel gefunden, durch das er den Bruder im Zaum halten und an sich fesseln konnte: er erzählte ihm allabendlich vor dem Einschlafen Geschichten, Märchen und Abenteuer, die er gelesen hatte, und als ihm der Vorrat ausging, fing er an, selbsterfundene Geschichten zu erzählen, und zwar solche, die er nicht zu Ende führte, sondern in schlauer Manier stets im spannendsten Moment mit der Zeitungsphrase abbrach: Fortsetzung folgt morgen. So entstanden nicht selten sonderbare und raffinierte Verwicklungen, deren Lösung immer weiter hinausgeschoben wurde und die an Engelharts Gedächtnis große Anforderungen stellten. Abel war ein atemloser Zuhörer, es kam vor, daß er den Bruder auch bei Tag bedrängte, weil ihm die Neugier keine Ruhe ließ.

Heute lag Engelhart schweigend neben Abel in der Dunkelheit, und so sehr ihn dieser auch um die Weitererzählung der Geschichte bestürmte, er konnte kein Wort über die Lippen bringen; das Reden schien ihm häßlich, im unverfänglichsten Worte spürte er plötzlich einen Stachel, der die Seele ritzte. Als Abel sich endlich zufrieden gegeben hatte und schlief, erhob sich Engelhart aus dem Bett und setzte sich im Hemd ans Fenster. Weite dunkle Höfe lagen vor ihm, und schwarze Dächer klebten am Gewölke, hinter dem umrißlos der gelbe Mond zerfloß. Engelhart stützte den Ellbogen auf das Sims, sein Herz badete erleichtert in der wunderbaren Nachtstille, und Tränen stürzten ihm aus den Augen.

Frau Wahrmann hatte Engelhart schon im Winter eingeladen, die Osterzeit bei ihr zu verbringen; Herr Ratgeber verweigerte seine Erlaubnis, doch, besorgt über des Knaben Fortschritte in der Schule, gab er das Versprechen, ihn zu den Sommerferien nach Gunzenhausen zu schicken, wenn er in die höhere Klasse aufsteigen dürfe. Engelhart gehörte nicht zu den Naturen, für die eine Belohnung zum inneren Ansporn wird, im Gegenteil, er fand sich durch Erwartungen, die er erregte, entschieden gelähmt; nichts ward bei ihm durch Entschluß und klar bewußtes Handeln, alles wuchs aus einem ungeheuern Druck und Trieb hervor, und das seinem Wesen Widrige nahm oft nur durch die Fügung eines guten Sterns keinen übeln Ausgang. So hatte er geringe Hoffnungen für einen Sommer, wie ihn seine Sehnsucht wollte, jetzt, wo alle Lernfreudigkeit geschwunden war und sein tiefbetrübter Geist, der Unschuld des Betrachtens entrissen, lichtscheu an den Wurzeln des Lebens nagte. Es vergingen die Monate, und er ertrug ungeduldiger als jemals die gleichmäßige Fesselung durch ehern eingeteilte Stunden, oft wurde seine Ruhelosigkeit so groß, daß ihn kein noch so geliebtes Buch zu halten vermochte, und er spürte es: wenn er diesen Sommer die Freiheit nicht bekam, und das, was er, geheimnisvoll vorauserlebend, in ihm ahnte, dann mußte er den feindseligen Gewalten erliegen, denen er keinen Namen geben konnte. Einmal, auf dem Weg zur Schule, hörte er bei einem Neubau einige Leute aufschreien und ihm zuwinken; in derselben Sekunde vernahm er ein unheimliches Klirren und Knattern, rings um ihn schwirrte es, da sah er sich mitten in dem Flügel eines großen Fensterstockes stehen, der aus der zweiten Etage herabgestürzt war. Das riesige Ding war durch den erstaunlichsten Zufall gleichsam rings um ihn herumgefallen, die Scheiben waren nach außen geflogen und auf dem Pflaster zersplittert, er stand unverletzt mitten im Rahmen, als hätte er sich hineingestellt. Wie trunken blieb er eine Weile stehen und wurde von den Zuschauern kopfschüttelnd betrachtet. Er nahm es als ein gutes Vorzeichen, er faßte wieder Vertrauen, und süße Lebenssicherheit ergriff Besitz von ihm.

Endlich kam die Entscheidung, und sie fiel günstig aus. Anfangs August durfte er reisen. Des Abends langte er an, herzlich begrüßt, und lag bald darauf wieder im selben Bett wie vor sechs Jahren, hörte die dröhnenden, langsamen Stundenschläge der Blasturmglocke, den mahnenden Gesang des Nachtwächters, die Eisenbahnzüge im Tal draußen, wie auf einer Brücke durch den Weltraum rollend. In der Frühe fragte ihn Frau Wahrmann über die Verhältnisse daheim aus; sie war eine gute und gerechte Frau und geriet beinahe außer sich über seine Erzählungen, in denen er zudem alles ihn selbst Demütigende verschwieg.

Im Hause der Frau Wahrmann hatte sich wenig geändert. Helene war nun ein heiratsfähiges Mädchen, aber sie machte sich wenig Gedanken darüber, und ihre Hauptsorge war auf ein harmloses Amüsement gerichtet; die zweite, die Gottsucherin, ergrübelte sich ein Leben voll eingelernter Idealismen, und ihr Los war schon jetzt die beständig seufzende Trauer darüber, daß das Lebendig-Seiende mit dem sehnsüchtig Erdachten so wenig übereinstimmte. In Esmee zeigte sich die Unbefangenheit einer kräftig auf Form und Erscheinung gerichteten Natur, und sie war immer wieder die Versöhnerin zwischen der spöttisch-überlegenen Helene und der hadernd-unzufriedenen Jette; sie ließ alles Unangenehme an sich herankommen und wurde dann spielend damit fertig. So sehr sie noch Kind war, so hatte ihr Herz schon für immer gewählt, einen jungen Studenten, Spiel- und Schulkameraden. Dies zu wissen war für Engelhart schmerzlich, nicht als ob seine Gedanken jemals wünschevoll um Esmees Bild gewebt hätten, aber sie schon in Besitz genommen zu wissen, das erregte seinen Unwillen. Es war etwas Gehemmtes und Zelotisches in seinem Blick, wenn er ihre naiv koketten Künste beobachtete, er suchte Streit mit dem Mädchen wie mit dem hübschen Gymnasiasten, der ihr Freund war. Schien es nicht, als ob Lechners Enthüllungen das Liebestreiben der Menschen für ihn zu einem epileptischen Krampf gemacht hätten? Oft geschah es, daß er sich absonderte, wenn die Mädchen und Knaben hinaus in die Wiesen wanderten, doch er ging dann nicht seine eignen Wege, sondern folgte jenen wie ein Spion, verbarg sich hinter Gebüsch, wenn sie rasteten, beobachtete argwöhnisch und erregt ihr Treiben und wandte das Auge nicht von Esmee und ihrem Anbeter. Und wie schimpflich, wie erniedrigt erschien er sich dabei, ausgestoßen von dem Kreis fröhlicher Beziehungen, untötbaren Neid in der Brust.

Es kam auch ein junger Mensch namens Benedikt Knoll ins Wahrmannsche Haus, gleichfalls ein Student, siebzehn Jahre alt, also drei Jahre älter als Engelhart, und dieser gewann durch Scharfsinn und vielfaches Wissen dort eine geistige Oberherrschaft, ja eine Art Tyrannei. Er war ein sehr kleiner, häßlicher Mensch von früh entwickeltem sarkastischen Witz, ein Jude und eine echte Judennatur, den frommen und gedrückten Geschlechtern entsprossen und unbewußt bemüht, diese Abkunft durch ausschweifende Freigeisterei und ein brünstiges Streben nach Unabhängigkeit zu verleugnen. Ihm näherte sich Engelhart schüchtern, bereit, eine Überlegenheit anzuerkennen, die sich so selbstherrlich gab und die keinen Widerspruch, sondern nur Bewunderung erfuhr. Benedikt Knoll ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, seine erzieherischen Ideen zu verwirklichen, und am lebhaftesten experimentierte er dann an Engelhart, wenn er an den Mädchen willige und andächtige Zuhörerinnen hatte. Er hatte sehr viel Heine gelesen und verachtete, wie es damals unter jungen Leuten Brauch war, Schiller und Schillersche Begeisterung; mit einem Heineschen Witz ließ sich jede ins Traumhafte und Fantastische schweifende Wendung des Gesprächs mühelos und unter dem Dank des Publikums ersticken. An Sommerabenden, wo man unter dem klaren Sternenhimmel zwischen den Häusern und duftenden Gärten auf und ab wandelte, wurde mit wenigen ironischen Seitenhieben Gott aus der Welt gejagt und Wissenschaft, das heißt blöder Augenschein trat an seine Stelle. Nun hatte ja Engelhart freilich auf seine Weise schon Gott verloren, nur nicht so leicht, so überhebend, so hausbacken, und immerhin lag im verlassenen, noch nicht entheiligten Tempel der schutzlose Mensch ehrfürchtig auf den Knien. Dies aber verwirrte sein Gemüt schwer, und bei all der unwiderstehlichen, prickelnden Gewalt, die Benedikt über ihn gewonnen hatte, fing er doch an, ihn im Innersten zu hassen und zu fürchten. Dann bestach ihn wieder die freiere Anschauung von den Dingen des Lebens und das kühnere Urteil des kleinen Studenten, und sie verabredeten, in Korrespondenz zu bleiben. Engelhart trat jetzt in ein Alter, wo Geist oder die Maske des Geistes, das scheinhafte Wort, schon als Triumph über die lastenden Schicksalsmächte gilt. Diese Andacht des Alleshinnehmens und Alleseinsaugens kam dem kritischen Knoll verdächtig vor, er ärgerte sich über die zage Verschleierung des Ausdrucks, wenn Engelhart von der Zukunft und seinem künftigen Beruf sprach. »Da dich dein Vater zum Kaufmann machen will, so tu nicht, als ob du zu was Besserem geboren wärst,« schalt er grob; »du gehabst dich, als ob’s eine Schande wäre, aber es sitzen noch ganz andre Leute wie du auf dem Drehsessel.«

Engelhart schwieg, und eine dunkle Verstimmung bemächtigte sich seiner. Was konnte es helfen, er hatte keine Lust dazu. Aber wozu sonst? Die Zukunft war ihm eine finstre Nacht, aus deren Tiefe wie ein scharlachner Brand irgendetwas Unbekanntes strahlte. Auch wenn er in sein Inneres schaute, sah er dieses Feuer, dessen er sich vor den Menschen schämte und das ihn beunruhigte, wenn er allein war. Es schwebte ihm etwas vor, ähnlich wie atemloses Graben und Schaufeln im Innern der Erde und daß junge Frauen aus einer jäh geöffneten Pforte traten, um ihm schweigend und ergriffen zuzuhören, wenn er von der Finsternis und seiner Einsamkeit erzählte. Oder er dachte sich in einem seit Jahrhunderten verlassenen und verfallenen Haus von Gemach zu Gemach wandernd; nur die letzte Tür war verriegelt, und als er weitergehen wollte, vernahm er aus dem Innern eine Stimme, die voll unerhörten Schmerzes ein unerhörtes Leiden berichtete. Er sah auch das Bild zahlloser, über eine Heide hinstürmender wilder Pferde, und er selbst kam des Wegs, die ungestüme Schar blieb versteinert stehen und er schritt ruhig durch die willigen Reihen. Er sehnte sich nach den Menschen im allgemeinen und fürchtete sie wieder im besonderen. Er liebte es, mit halbgeschlossenen Augen dazuliegen und über etwas zu lächeln, was ungreifbar, ein süßer Hauch, über seine Seele flog. Das war es ungefähr, und es erschien ihm verwerflich und unfruchtbar, so zu sein, aber er konnte nicht anders.

An einem Regentag zeigte sich ein fremdes Gesicht im vertrauten Kreis, ein Mädchen namens Hedwig Andergast, eine Offizierstochter aus Nürnberg, die bei ihren Verwandten, den Notarsleuten, zu Besuch weilte. Sie war ein wenig älter als Engelhart; da er sie sah, hatte er ein höchst wunderliches Gefühl: ihm war, als träume er und sie tanze luftig leicht auf seiner ausgestreckten Hand. Er wurde später gefragt, ob er sie hübsch fände, und er konnte nicht antworten, weil er, kaum daß sie aus dem Zimmer gegangen, sich an keinen Zug ihres Gesichts erinnern konnte. Die Mädchen bedrängten ihn, besonders Helene hätte gern gewußt, ob die Fremde den Vorrang vor ihr verdiente, da tat er eine feindselige Äußerung gegen Hedwig Andergast, ganz ohne Ursache, in unklarer Wallung des Gemüts. Natürlich kam Hedwig oft, sie hatte Gefallen an den Wahrmannschen Mädchen gefunden, und da hatte Esmee, boshaft gelaunt, den Einfall, Hedwig die Worte Engelharts in seinem Beisein zu wiederholen. Das Mädchen sagte nichts, sie zuckte nur die Achseln, aber der ruhige, verwunderte Blick ihrer grauen Augen traf ihn tief.

An einem Nachmittag, wo es regnete und gewitterte, wurde beschlossen, auf den großen Dachboden zu gehen und dort zu spielen. Die meisten Spiele erwiesen sich für längere Dauer als unzulänglich; Helene und Jettchen brachten Blumen herauf, steckten sie mit den Stengeln der Reihe nach in die Fugen zwischen die Dielen, und der öde Dachboden stellte einen Garten vor. Man dachte sich einen hohen Zaun ringsum, Helene war Pförtnerin und ließ nur diejenigen hinein, die einen selbstgereimten Vers aufzusagen wußten. Alle zogen sich mehr oder weniger geschickt aus der Schlinge, nur Engelhart brachte in der kritischen Lage nicht ein Wort über die Lippen. Dies schmerzte ihn selbst, denn er wußte etwas und konnte es nur nicht sagen, hätte es nicht sagen können um keinen Preis der Welt. Als sie ihn verspotteten, nahm er eine Holzlatte, hieb den Blumen die Köpfe ab und fuchtelte derart um sich, daß die Cousinen schreiend in eine Ecke flüchteten, während Hedwig Andergast sich in den großen Schlitten setzte, der hier oben seine Sommersiesta hielt, und gleichgültig, ja etwas müde vor sich hin blickte. Schließlich, sein Gebaren wurde ihm selber unbehaglich, sprang Engelhart auf eine Kiste und schleuderte die Latte wie einen Speer von sich. Sie traf Hedwig seitwärts an der Stirn, ein Aufschrei folgte, Engelhart sah Blut, die Mädchen kamen bleich aus ihren Verstecken, Esmee lief, um Wasser zu holen, Helene wusch die unbedeutende Wunde und band ein Tuch um Hedwigs Stirne. Nachher gingen sie alle ins Klavierzimmer hinunter, räumten Tische und Stühle beiseite, um zu tanzen, denn Hedwig wollte zeigen, daß sie sich aus dem Unfall nichts mache. Aber Engelhart war verschwunden. Er hatte sich eine Weile im Hof herumgetrieben und war dann in die Scheune gegangen, wo er sich oben zwischen den Holzstößen verbarg. Das Gewitter hatte aufgehört, die Sonne schien in das kleine Fenster an der Mauer; er sah hinaus, über ein schmales Gäßchen hinweg bot sich der Blick auf den Garten des Kasinos und auf die leuchtenden tropfenden Bäume. Unten ging Premierleutnant Siderlich vorbei und wie gewöhnlich folgten ihm einige Knaben mit höhnenden Zurufen. Premierleutnant Siderlich wohnte längst nicht mehr bei Wahrmanns, auch war er aus dem Heeresdienst entlassen, lief in Zivilkleidung herum und war zur öffentlichen Spottgestalt geworden. Die Knaben machten sich über seine Trunkenheit lustig, vielleicht schien er auch nur betrunken und war in Wirklichkeit krank, jedenfalls torkelte er haltlos am Zaun entlang. Währenddem kam Hedwig Andergast aus dem Wahrmannschen Hause und betrat das Gäßchen. Sie hatte noch das weiße Tuch um die Schläfe gebunden. Der Premierleutnant Siderlich blieb vor ihr stehen und legte, als ob er noch Soldat wäre, die Hand salutierend an den Hut. Die Knaben johlten, Siderlich lächelte verzerrt. Hedwig sagte zu dem vordersten der Knaben: »Schämt euch doch, ihr Buben, seht ihr denn nicht, daß sich der Mann nicht wehren kann?« Einer aus der Schar entgegnete frech: »Er wirft immer in der Nacht Steine nach den Fenstern.« Der Premierleutnant machte eine protestierende Geste, aber die andern lachten und schrien: »Ja, ja!« Hedwig sah noch eine Weile zu, bis sie alle fort waren, dann ging sie weiter. Engelhart hörte sie etwas murmeln und sie schüttelte den Kopf. Ein unwillkürlicher Ausruf oder ein Räuspern von ihm ließ sie emporschauen; sie hemmte ihren Schritt und lachte, wobei sich ein goldiger Glanz über ihre Lider breitete; Engelhart war es, als ob er durch den lachenden Mund bis in ihr Herz hinabsehen könnte.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2018
Объем:
290 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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