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Читать книгу: «Engelhart Ratgeber», страница 14

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Dann kam ein schöner Wandertag durch sommerlich blühendes Land unter wolkenlosem Himmel. Er nächtigte in einer Fuhrmannsschenke, und am zweiten Tag fuhr er auf dem Wagen einer Seiltänzerfamilie bis nach Baden mit. Es waren abgerackerte Leute, selbst die Kinder schienen sterbensmüde, nur der Clown war ein aufgeweckter Mensch, der sich nicht ohne Geist über die Eigentümlichkeiten verschiedener Nationen lustig machte. Am Nachmittag des dritten Tages sah Engelhart von fern den silberglänzenden Zürcher See, und er setzte sich in den Kopf, noch ans Gestade zu gelangen, bevor das Unwetter ausbrach, das schon seit Stunden am Himmel sich zusammenzog. Bald begann der schwere Regen zu fallen, die Bäume der Allee schienen sich in den schwefelgelben Blitzen wie Fackeln zu entzünden und den Flammen oben schien der Donner aus der Tiefe der Erde heraus zu antworten. Weit und breit war kein Haus, der Regen strömte wie aus Fässern, im Nu war der einsame Wandersmann schlottrig naß, auch merkte er, daß seine Stiefel zerrissen waren und Wasser fingen. Er lief über einen Wiesenweg und schloß die Augen vor den Blitzen. Nun glänzte der See nicht mehr, einem erblindeten Auge gleich dämmerte er durch den Nebel herauf. Endlich ein Garten, endlich ein Haus, und ein Wirtshaus zum Glück. Als er in den Flur stürmte, stoben zwei Mädchen kreischend auseinander. Die Wirtin kam, eine junge Frau mit schmachtenden Augen. Sie blickte zuerst unwillig auf den heruntergekommen aussehenden Gast, als sie aber sah, wie er unter den triefenden Kleidern zitterte, bot sie ihm von selbst ein Zimmer an und führte ihn in den oberen Stock. Von rascher Sympathie ergriffen, erzählte ihr Engelhart von seiner Wanderschaft, und während ihm die fremde Frau wie eine Mutter beim Auskleiden behilflich war, öffnete er zutraulich sein Herz und führte die durch lange Einsamkeit wohlgenährten Hoffnungen vor. Die Frau lächelte; sie sah, daß sie es mit keinem gewöhnlichen Landstreicher zu tun hatte; als er im Bett lag, setzte sie sich zu ihm und plauderte unbefangen über ihr Leben; sie war Witwe und ihr um vieles älterer Mann war während eines Herbststurms im See ertrunken. Die Wirtschaft ging schlecht, fuhr sie fort, Neider und Verleumder brächten ihr üble Nachrede in der Stadt, und sie wolle nun den Kram verkaufen und in die neue Welt fahren. Sie berichtete alles in einem einzigen kunterbunten Satz, und ihr Gesicht sah auch bei den bekümmertsten Worten froh und freundlich aus. Später brachte sie Essen und Wein, und dann küßte sie ihren jungen Gast und blieb bis in die späte Nacht bei ihm. In der Frühe war Engelhart entzückt, als er, die Fensterladen öffnend, den See vor sich liegen sah und dahinter die Gebirge, von grünen Kuppen an aufwärts steigend bis zu rosigen und silbernen Schneegipfeln. An der Mauer unter dem Fenster hingen die reifen Kirschen und der betaute Garten glich einem Diamantfeld. Seine Kleider waren getrocknet, er rüstete zum Aufbruch und ließ sich durch das Bitten der Frau nicht halten. Sie weigerte sich, Bezahlung von ihm zu nehmen und ließ ihn noch mit dem Boot zur Stadt hinüberfahren.

Zwei Stunden später war er in Oberstraß, in Schildknechts Wohnung. Schildknecht war nicht zu Hause. Engelhart wartete im Garten und malte sich still träumend das Gesicht des Freundes beim Wiedersehen aus. Es wurde Mittag, schließlich sagte die Vermieterin, er möge doch einmal bei Herrn Heilemann nachfragen, dies sei ein Freund von Herrn Schildknecht, bei dem er alle Tage zu Besuch sei und wohne in der Geßner-Allee. ›Ein Freund?‹ dachte Engelhart überlegen, ›nein, liebe Frau, Schildknecht hat nur einen einzigen Freund, und das bin ich.‹ Die Frau beschrieb ihm den Weg, er ging hin und erfuhr, daß die Herren in dem großen Kaffeehaus an der Bahnhofstraße seien. Als er dort eintrat, sah er Schildknecht an einem Tisch in Gesellschaft mehrerer stutzerhaft gekleideter Männer, schweigsam und finster vor sich hinbrütend. Engelhart trat von rückwärts näher und legte lächelnd beide Hände auf seine Schultern. Schildknecht zuckte zusammen, drehte sich um, sprang empor, und sein jubelnder Aufschrei, sein echtes, wildes, beinahe kindisches Lachen rührten und erschütterten Engelhart; in der Freude darüber, daß ihn der ersehnte Augenblick nicht enttäuscht hatte, vergaß er alle Sorgen. Dies eifervolle, heiter-belebte Gespräch, er genoß es als die Erfüllung eines Traumes; die Gegenwart war verdrängt, auch das Letzterlebte schien belanglos im Vergleich zu den gemeinsamen Erinnerungen.

Aber die Fragen: Wie steht’s? Wie bist Du gerüstet? Was hast du in der Tasche? Was soll’s überhaupt? waren doch, klar oder umschrieben geformt, unvermeidlich. Schildknecht sah, daß er das ganze Geschick des zärtlich vertrauenden Menschen halten und lenken sollte, das war zuviel, dem fühlte er sich nicht gewachsen. In einer schlaflosen Stunde zündete er die Kerze an, leuchtete hinab auf die Matratze, auf der Engelhart lag, und Schildknecht suchte etwas in diesem vom Schlummer trunkenen Gesicht. Seine eigne Miene trug den Ausdruck des Zweifels. Da die Lippen des Schläfers sich zu bewegen begannen, beugte er sich noch tiefer und lauschte ängstlich, wie wenn er das Geständnis eines Verrats erwarte. Plötzlich schlug Engelhart die Augen auf und erschrak, als er den im Kerzenlicht flammenden Blick des Freundes lauernd auf sich ruhen sah. Schildknecht schüttelte besorgt den Kopf und sagte mild: »Etwas haben Sie mir verborgen, lieber Ratgeber; nun sprechen Sie mal von der Leber weg.«

Engelhart antwortete nicht. Er starrte in den Lichtkreis an der Decke. Wie gewöhnlich war sein Erstaunen größer als der Trieb zu fragen. Ja, er hatte von dieser Minute an ein Geheimnis.

Zwölftes Kapitel

Nur mit Mühe ließ sich Schildknecht davon abbringen, dem famosen Herrn Lutterott einen Zorn- und Schmähbrief zu schreiben. »Solche Kerle sind jetzt das Bürgerideal,« knirschte er; »so sehen sie aus, die oben wohl gelitten und unten gefürchtet sind. O herrliches Deutschland!«

Engelhart hatte längst aufgehört, des Mannes in Groll zu gedenken. Nur daß Lutterott es gewagt hatte, ihm aus seinem Judentum eine Schuld zu machen, erfüllte ihn mit nachhaltiger Verwunderung.

»Haben Sie denn nie an persönliche Gefahren aus solcher Quelle gedacht?« fragte Schildknecht.

Engelhart verneinte; er habe sich des Judentums nie geschämt und habe auch nie Anlaß gehabt, sonderlich stolz darauf zu sein. »Ist es nicht gleichgültig, welcher Provinz der großen Menschheit der einzelne seine Herkunft zuschreibt?« fragte er.

»Gewiß,« antwortete Schildknecht. »Aber ist Ihnen denn nicht bekannt, daß Millionen von Ihren Stammes- und Herkunftsgenossen im tiefsten Jammer vegetieren, nur eben deshalb, weil sie Juden sind?«

»Ich weiß es,« sagte Engelhart; »aber der größte Teil der Menschen lebt im Jammer, und die Tatsache berührt mich mehr als der Grund.«

»Und wissen Sie nicht, daß das ganze Mittelalter vom Blut der Juden gedüngt ist?«

»Ich weiß es, aber ich sage mir, Blut ist ein guter Dünger; aus Blut wächst Leben. Mit Blut wird die Freiheit bezahlt, mit Blut wird die Erde erobert.«

»Und erinnern Sie sich nicht aus Ihren Kindertagen, daß der Christ in Ihren Augen ein Fremdling war?«

Engelhart nickte lebhaft. »Ich erinnere mich auch an Blicke, Worte und Gebärden, die mich verletzen sollten und zurückweisen wollten,« entgegnete er. »Aber es war mir nicht gegeben, daraus einen Schmerz zu machen; ich fühlte, daß es kein Problem für mich war. Ich bin vielleicht zu stolz dazu. Wenn ich im Verkehr vom Menschen zum Menschen dies als wichtig nehmen müßte, dann wären eben alle meine Wurzeln der Nahrung beraubt. Den such’ ich nicht, der deshalb an mir vorübergeht. Ich bin ein Jude, aber ich bin es nicht mehr, als wie Sie ein Christ sind. Unsre Vergangenheit liegt in den Worten, nicht unsre Zukunft.«

Schildknecht dachte eine Zeitlang nach. Dann fing er wieder an und sagte: »Es ist ein großes Kapitel. Ich für meinen Teil, ich liebe ja die Juden. Dennoch, es ist eine Verstandesliebe, mein Blut sträubt sich dagegen.«

»Auch gegen mich?« fragte Engelhart lächelnd und besorgt.

»Man soll nicht ein Gefühl zergliedern, sonst hört es auf, ganz zu sein,« antwortete Schildknecht mit niedergeschlagenen Augen. »Aber es kommt mir oft vor, als ob in unserm Verhältnis noch eine andre Macht gebieten würde als die, die Menschen sonst einander begegnen und sich finden läßt. Es kommt mir vor, als ob dabei eine Art höhere Vergeltung im Spiel wäre. Meine Vorfahren sind altsässige Nürnberger Patrizier gewesen. Es wird Ihnen ja bekannt sein, daß vor ziemlich genau vierhundert Jahren die Juden aus unsrer Stadt vertrieben wurden und zwar unter den üblichen Greueln: Erpressung, Raub und Mord. Nun ist es in unsrer Familie eine alte Tradition, und ich habe es auch einmal in einem alten Schriftstück bestätigt gefunden, daß ein gewisser Schildknecht vom Schildknechtstein, der den Juden tief verschuldet war, mit großer Leidenschaft und Tücke das Volk aufgehetzt, dann die Brunnen in seinem Haus habe vergiften lassen und schließlich mit eigner Hand an die hundert Juden erschlagen habe. Vielleicht, lieber Ratgeber, war einer oder der andre Ihrer Ältervordern unter den Erschlagenen, aber sehen Sie mich nicht so beklommen an, ich fühle mich nicht verantwortlich für den Schweinehund von damals, wenn ich auch zum Beispiel von meinem Vater weiß, daß er den Juden zwar günstig gesinnt war, jedoch nie einem die Hand reichte und es, wenn möglich, überhaupt vermied, mit Juden zu reden. Dem sei, wie ihm mag, es kommt mir immer vor, als ob der Sturm des Schicksals uns, mich und Sie, auf einem Gebirgshang zueinander getrieben habe, mich beim Heruntersteigen und Sie beim Hinaufsteigen. Als ich Sie damals im Paradieschen zum erstenmal sah, da zog’s mich zu Ihnen mit einer Mischung von Haß, Neid und Schuld. ›Möglicherweise,‹ dacht’ ich mir, ›geht es doch wieder aufwärts,‹ und ich suchte die Oberhand über Sie zu gewinnen –«

»Aber damit haben Sie mich gerettet, Liebster,« warf Engelhart ein, voll seltsamer Angst vor dem bekenntnishaften Ton Schildknechts.

Dieser ließ sich nicht irre machen und fuhr mit bleicher werdendem Gesicht fort: »Mag sein. Aber ich habe keine Sicherheit, daß Sie mir nicht, ein paar hundert Meter weiter auf dem Berg angelangt, einen Stein auf den Kopf werfen werden. Sie sind keiner von den Dankbaren. Was ist denn Freundschaft? Ein Kampf um Macht wie alles, was zwischen Menschen vorgeht; und was wahre Freundschaft ist, erkennt man erst an den Wunden, die man davongetragen hat. Doch was ich eigentlich sagen wollte, ist das: solche Menschen, die wie Sie aus der Dunkelheit eines Stammes emporgetrieben werden und in denen die stumm gewesenen Geschlechter, wie soll ich mich ausdrücken, einen Mund erhalten, die haben viel Chaos, viel flüssiges Schicksal in sich. Das Judentum sind Sie ja los, aber der Jude, der in Ihnen steckt, wird Ihnen noch viel zu schaffen machen, er wird Ihnen immer wieder Finsternis ins Gemüt pressen, auch die Lust zur Finsternis und die Lust, sich selber zu entfliehen und die Lust zu erlösen und all diesen Quark, an dem unsre Besten verbluten.«

Auf Engelhart machte dies alles tiefen Eindruck, nicht, weil es ihm so neu war, sondern weil er plötzlich seine Art und sein Blut, das Persönliche und Kreatürliche, gesetzmäßiger empfand. Dem lebendigen Geist tut es wohl, das Leben seiner niedrigen Zufälligkeiten entkleiden zu dürfen; je inniger er sich in das Auf und Ab des Menschentums verwoben sieht, je mehr muß seine Zuversicht und Ruhe wachsen. Justin Schildknecht war diese Wirkung nicht ganz willkommen, und es war, als bereue er das Gespräch. Er wünschte nicht, daß Engelhart auf sich allein gestellt sei, und vermied von nun an, über Gegenstände zu sprechen, aus denen das Selbstbewußtsein des Freundes Nahrung ziehen konnte. Sein Wohlwollen verdunkelte sich mit seinem Schicksal; furchtbar spürte er, wie man zu lieben und zu hassen vermag in einem Atemzug.

Schildknecht hatte seine Anstellung schon verloren; aus welchem Grunde, erfuhr Engelhart nicht, vermutete jedoch, daß er sich von jenem Heilemann, in dessen Gesellschaft er bis zu Engelharts Ankunft den größten Teil seiner Zeit verbracht hatte, von regelmäßiger Arbeit hatte abziehen lassen. Auch über die Person Heilemanns vermochte Engelhart nicht Klarheit zu gewinnen. Er war Vertreter einer großen deutschen Maschinenfabrik und verdiente viel Geld, lebte aber auf dem Kavaliersfuß und zog mit einem Hofstaat von armen und halbarmen Teufeln in der Stadt und in den Ausflugsorten am See herum. Schildknecht und er waren Schulkameraden; jetzt schien es, als ob Schildknecht in sonderbarer Abhängigkeit von ihm bestehe. Vielleicht, daß er Schulden bei ihm hatte machen müssen; jedenfalls benahm er sich in Heilemanns Gegenwart gedrückt und zweideutig ergeben, ein Anblick, bei dem es Engelhart jämmerlich zumute wurde, um so mehr, als er hintennach immer die Launen und das Aufschäumen des verletzten Stolzes ansehen und ertragen mußte. Es war ein nicht zu durchschauendes Spiel unterirdischer Feindseligkeit. Mit Schmerz sah Engelhart den Freund in den trüben Fluten kämpfen, aus denen er selbst durch Schildknechts Hilfe kaum gerettet war. Und diesmal bestand keine Wahrheit zwischen ihnen; Schildknecht tat alles, um die Ursachen seiner Lage zu verwischen, und gab sich den Anschein dessen, der die Gesellschaft studieren, ein Stück Leben ergründen will.

An einem der ersten Abende fand in Heilemanns Wohnung ein Gelage statt, und um die Lustbarkeit zu vermehren, beschlossen alle Teilnehmer, bei Heilemann zu nächtigen. Neun Personen schliefen in zwei kleinen Zimmern. Engelhart lag auf einem Teppich und konnte kein Auge zutun. Als er alle andern schnarchen hörte, erhob er sich und floh aus dem Wein- und Atemdunst hinaus auf einen kleinen Balkon, an dessen Gitter blühende Glyzinien hingen. Nach kurzer Weile sah er Schildknecht hinter sich stehen, der, wie er selbst, im Hemde war. Engelhart freute sich und dachte, nun könnten sie wieder einmal ein bißchen reden, aber Schildknecht machte ihm Vorwürfe über sein schweigsames und unfrohes Wesen, das in einer Gesellschaft von so harmloser Art übel vermerkt werden müsse. Engelhart nickte zu allem und gab dem Freunde recht. Doch hatte er in keiner Stunde des Lebens seine Armut tiefer bedauert als jetzt. Ähnliche Nächte wiederholten sich nicht, aber es wurden Ausflüge zu Schiff unternommen, bei denen Heilemann die Zeche zahlte. Bei einer solchen Gelegenheit wandte sich Heilemann an Schildknecht und machte ihn unwillig auf Engelharts schäbige Kopfbedeckung aufmerksam. »Ihr Freund soll sich einen Hut kaufen,« sagte er und warf ein Zehnfrankenstück über den Tisch. Das war nun allerdings zuviel für Schildknecht; er erblaßte und entfernte sich schweigend mit Engelhart. Gleichwohl merkte dieser, daß Schildknecht ihm wegen dieses Vorfalls insgeheim grollte.

Mitte Juli mußte Heilemann eine Geschäftsreise antreten, und kaum war er fort, so stob auch seine Schmarotzergarde auseinander. Nun sah sich Schildknecht gezwungen, Engelhart von seiner trostlosen Vermögenslage zu unterrichten. Sobald er offen und wahr sein durfte, kam seine gütigere Natur wieder zum Vorschein. Er sagte, es sei wesentlich, daß sie jetzt aneinander festhielten und nicht der ordinären Notdurft wegen das Freundschaftsgärtlein verdorren ließen. Er bemühte sich bei seinen Bekannten, um für Engelhart eine Stelle zu erhalten, und lief tagelang mit ihm von Geschäft zu Geschäft, aber die erhaltenen Empfehlungen waren mager, wohlwollendes Entgegenkommen trafen sie selten bei diesem herben und selbstzufriedenen Menschenschlag, die Vergeblichkeit der Mühe spiegelte sich in ihren Gesichtern wider, und der trotzige Unmut machte auch Bereitwilligere stutzig. »Sie müssen sprechen,« sagte Schildknecht zu Engelhart, »Sie müssen sich ins Licht setzen, die Leute merken ja, daß Sie keine zehn Rappen im Sack tragen, dem Bettler wirft man höchstens ein Stück Brot hin, nur wer fordert, wird gehört.«

In den ersten Tagen hatte das vorhandene Geld noch zu einem Mittagessen in einer Gastwirtschaft ausgereicht, dann kam die Stunde, wo man sich aufs Hungern einrichten mußte. Schildknecht hatte keinen Menschen in der Stadt, den er, ohne seine Empfindlichkeit aufs tiefste zu verwunden, um ein Darlehen ansprechen konnte. Und ehe er sich nach Hause wandte, wollte er das Schlimmste über sich ergehen lassen. Die Augen zu und hinein ins Wasser, war seine tägliche Redensart. Engelhart hatte sich noch einmal mit einer schüchternen Bitte an den Vater gewandt, natürlich umsonst; Herrn Ratgebers Antwort war ein einziges Händeringen, worüber sich Schildknecht weidlich lustig machte. Sie richteten nun ihr Leben so ein, daß sie bis über den Mittag hinaus im Bette lagen, sich dann mit der Umständlichkeit von Modedamen ankleideten und ins Kaffeehaus marschierten, wo sie den Nachmittag über sitzenblieben. Nur hier hatten sie, hauptsächlich durch das Ansehen, welches Heilemann genoß, ein wenig Kredit; sie tranken Tee und verzehrten zur Stillung des Appetits eine große Anzahl von Semmeln, lasen Zeitungen und Wochenschriften aus aller Welt, beobachteten und kritisierten die vor den Fenstern vorüberwandelnden Menschen, wobei diejenigen, die sattgegessen aussahen, am übelsten wegkamen. Niemals und nicht mit einem Blick ließ Schildknecht in all der Zeit Engelhart merken, daß er ihm zur Last falle, ihn fessele und das eigne Fortkommen erschwere. Eher noch schien er selbst den Freund zu halten und tat so, als wäre die ganze Pein nur ein Examen, das ihnen das Schicksal bereitet. Aber schließlich, er war in seinem Hause, er war es, der gab, und Geben macht müde und tyrannisch. Am Abend wurden tiefsinnige Gespräche ausgesponnen, und Schildknecht verstand es, zwischen zwei gesprochene Worte eine ungesagte Bitternis zu legen wie jemand, der eine Nadel auf ein Butterbrot streicht. Gegen Mitternacht gediehen die Fäden dünner, weil der Magen, wie ein Hund gegen Diebe, sein Knurren gegen das Wortgeklapper erhob, dann nahm der eine in seinem Bett, der andre auf der Matratze zu den Träumen Zuflucht.

Schildknecht träumte schwer, oft erwachte Engelhart von seinem Stöhnen und sah ihn beim Morgengrauen totenbleich liegen, mit feuchten Angstperlen auf der Stirn. Er liebte nicht das schlafende Gesicht Schildknechts, ja er fürchtete es. Einmal nun hatte Schildknecht einen angenehmen Traum und erzählte ihn: er sei am Meer gestanden und drei Schiffe, voll mit Gold beladen, seien auf ihn zugeschwommen, seien wie Vögel geradeswegs in seine Arme geflogen, und dann sei in zahllosen kleinen Fässern das Gold um ihn aufgestapelt worden, aber immer, wenn er zugreifen wollte, habe sich eine Hand auf seine Schulter gelegt, und eine Stimme sprach: »Warten, es kommt noch mehr.«

Das war der ganze Traum, und Engelhart bedauerte, daß er zu Ende war, denn er hätte gern gewußt, was Schildknecht mit seinen Reichtümern angefangen. Allmählich wurde dieser Gedanke zu einer sorgenvollen und krankhaften Vorstellung, es war etwas dabei, was ihn bezüglich seiner eignen Person beunruhigte, und da er es über Tag und Nacht nicht los werden konnte und mit sich zu Rate ging, wie er dem Freund von seinem zweifelvollen Zustand Kunde geben sollte, entsann er sich einer alten Geschichte, und mitten in einem Gespräch bat er Schildknecht ziemlich unvermittelt, ihm zuzuhören.

»Zwei edle Ritter in der Bretagne,« so begann er, »liebten einander sehr. Beide waren arm, nur besaß der eine von ihnen einen schönen Zelter. Und der andre fing eines Tags an nachzudenken und sprach bei sich: ›Mein Freund hat einen schönen Zelter; wenn ich ihn darum bäte, würde er ihn mir wohl geben?‹ Eine Zeitlang schwankte er zwischen ja und nein, endlich aber kam er zu dem Schluß, der Freund würde ihm den Zelter nicht geben. Der Ritter wurde traurig und erschien mit anderm Gesicht vor seinem Freund, doch dieser merkte nichts. Darüber wurde der Gram des Ritters immer größer, er hörte auf, mit dem Freund zu sprechen und wandte das Auge ab, wenn jener vorüberging. Der andre, der den Zelter besaß, konnte dies nicht länger ertragen und stellte ihn zur Rede, fragte, weshalb er ihn meide, weshalb er erzürnt sei. Da antwortete er: ›Weil ich dich um deinen Zelter gebeten habe und du ihn mir abgeschlagen hast, und weil ich nun sehe, daß wir zu Unrecht Freunde heißen.‹«

Schildknecht war ziemlich erstaunt über die Geschichte, und als er darüber nachzudenken begann, geriet er in eine gereizte Stimmung. Eben das hatte Engelhart gefürchtet und hatte deswegen auch die Erzählung nicht zu Ende gebracht. Natürlich hatte der Ritter, der den Zelter besaß, voll Rührung den andern umarmt und gesprochen: »Alles, was mir gehört, gehört auch dir.« Es war ihm zu banal erschienen, dies hinzuzufügen, vielleicht kam es der Wahrheit näher, wenn die beiden Ritter von nun an Feinde wurden.

Als Heilemann zurückkehrte, waren die zwei Hungersgenossen so ausgemergelt, daß selbst der kühle Genüßling erschrak und sich ernstlich bemühte, für Schildknecht einen anständigen Posten aufzutreiben. Doch sagte er ihm: »Das mit deinem Freund Ratgeber ist nichts, der taugt nicht, den mußt du loswerden,« und nach einer kurzen Beratung wurde beschlossen, daß Engelhart zu seinem Vater reisen müsse, der habe die nächste Pflicht, für ihn zu sorgen. »Hier sind zwanzig Franken,« sagte Heilemann, »damit kann er bis München durchkommen, und er soll sich nur schleunigst trollen, ist überhaupt ein unleidlicher Kumpan.«

Engelhart ahnte nichts von diesen Beschlüssen, als er am Nachmittag desselben Tages an einer Partie teilnahm, welche von Heilemann, Schildknecht und einigen andern, Damen und Herren, veranstaltet wurde. Sie fuhren mit dem Dampfer bis Meilen, wanderten noch eine Stunde am Ufer entlang und kamen gegen Abend in ein Gartenwirtshaus, wo eine Musikkapelle spielte. Inzwischen hatte sich der Himmel schwarz umzogen, die meisten Leute flüchteten auf das eben abgehende Schiff, und so blieb die kleine Gesellschaft, in der Engelhart sich befand, mit den Musikanten fast allein zurück. Heilemann ließ im Saal oben den Tisch decken und mietete die Musikanten, da nach dem Essen ein Tanzvergnügen geplant war. Während der Mahlzeit war Schildknecht sehr aufgeräumt, erzählte ein halb Dutzend seiner lustigen Geschichten und hielt dabei geflissentlich seine Augen von Engelhart fern, dem er gegenüber saß. Engelhart glaubte, es sei darum, weil er all diese Geschichten schon kannte und Schildknecht sich deshalb vor ihm geniere. Es lachten alle, nur er lachte nicht, und dies kränkte Schildknecht; am Schluß stand er hastig auf, warf die Serviette auf den Stuhl und verließ den Saal. Engelhart war ein wenig erkältet durch dies auffällige Benehmen, indessen folgte er alsbald dem Freund und traf ihn nach einigem Suchen unten an der Uferböschung, wo er auf einem Felsstück hockte und in die blitzezuckende Ferne starrte. Engelhart setzte sich zwei Schritte von ihm weg, noch dichter an das Wasser.

Das Schweigen, das zwischen ihnen herrschte, schien die Dunkelheit des Abends rascher zu beschwören, und nach einer Weile gewahrte Engelhart den Freund nur noch als formlosen Schattenriß, kaum von dem Laubwerk eines tiefhängenden Weidenbaums abgehoben, in welchem ein Vogel klagenden Gesang anstimmte. Mit jeder Minute mehr spürte Engelhart das Schweigen als etwas Feindseliges, und es war, als ob sein Ohr Zuflucht nähme zum Glucksen des Wassers und zum leisen Geroll des Donners. Endlich fing Schildknecht an zu sagen, was er sagen mußte, seine Stimme klang tief, ruhig und verschleiert. Hätte er sich darauf beschränkt, zu sagen: So und so liegen die Dinge, es geht nicht mehr weiter, wir halbieren uns bloß die Möglichkeiten und Hoffnungen des Lebens, statt sie zu verstärken, und es ist ein Ausweg gefunden worden, der in der Natur der Dinge liegt, so wäre alles gut gewesen; aber das tat er nicht, er ging der Sache vom sittlichen Standpunkt aus zu Leibe und suchte es so hinzustellen, als hätten die Fehler und schlechten Eigenschaften Engelharts von Anfang an alles zum Schlimmen gewandt. Er redete sich eine Fülle aufgespeicherter Bitterkeit von der Brust und meinte, er sei immer der Gaul, der den fremden Wagen aus dem Dreck zerren müsse, von ihm verlange man Haltung, Verantwortung, Verständnis, von ihm den Zelter, aber andre wollten nicht geben, andre säßen düster und stumm da, wenn er für eine ganze Affenkompagnie den Extrahanswursten mache.

Als er seine Rede beendigt hatte, fiel die dumpfe Streichmusik vom Saale oben ein, und Engelhart beobachtete weit draußen in der Schwärze, die über dem See brütete, ein langsam gleitendes Laternenlicht; aber allmählich verschwamm es in seinen Augen, und mit dem Gedanken: Alles verschwendet, das ganze Herz verschwendet, schoß ihm das Wasser unter den Lidern hervor, und er weinte lange still vor sich hin.

Zwölf Stunden später saß er schon auf der Eisenbahn und fuhr mit dem geringsten Gepäck, das je ein Reisender besessen, gegen Norden. Sein jämmerliches Ausgehungertsein war schuld, daß er auf jeder Station etwas zu essen kaufte und während der Überfahrt auf dem Bodensee-Dampfer unbedenklich an der teuern Mahlzeit teilnahm. So kam es dann, daß er, auf dem Bahnhof in Lindau stehend, von seinen paar Franken nichts mehr übrig hatte. Es war fünf Uhr nachmittags, in einer Viertelstunde ging der Schnellzug, dieser hatte keine dritte Klasse, und Engelhart sah sich außerstande, den Zuschlagspreis zu entrichten. Der nächste Zug ging erst in der Nacht und fuhr elf Stunden statt sechs. Und wo Unterkunft suchen bis dahin, wovon leben; außerdem drängte es ihn vorwärts, als ob am neuen Ziel das Heil bereit sei. Wie er nun in den letzten zehn Minuten, während der Zug schon dastand und die Lokomotive gleichsam einladend schnaubte, ratlos und verzweifelt auf dem Bahnsteig hin und her rannte, trat ein graubärtiger Schaffner auf ihn zu und fragte, was ihm denn sei, ob er jemand erwarte oder ob er sich krank fühle. Engelhart wollte kurz ausweichend antworten, aber das ehrlich-gute Gesicht des Mannes flößte ihm Vertrauen ein, und er gestand zögernd seine Verlegenheit. Da sagte der Alte, er wolle ihm gern helfen, er möge sich nur einen Platz suchen, die Überzahlung betrage etwas über sechs Mark, die wolle er für ihn auslegen. »Ich werd’ es Ihnen morgen zurückbringen, bei meiner Seligkeit!« rief Engelhart mit heiligem Eifer. »Nun, nun, ich glaub’ Ihnen schon,« beschwichtigte ihn der Alte und klopfte ihm auf die Schulter. Als er während der Fahrt das Billett brachte, schrieb er ihm seine Adresse auf einen Zettel und wies alle Danksagungen schmunzelnd ab.

Es wurde Mitternacht, ehe Engelhart, weit in der nördlichen Vorstadt irrend, die Straße und das Haus fand, wo sein Vater wohnte. Dann mußte er lange läuten, bis Frau Ratgeber herunterkam. Sie war sehr überrascht und schien des Ankömmlings nicht eben froh zu sein; bedrückten Herzens schlich er hinter ihr die vier Stockwerke empor, und seine scherzhafte Anspielung über die Nähe des Himmels hier oben beantwortete sie mit einem Seufzer über das harte Leben. Sie brachte willig herbei, was sie noch zu essen im Haus hatte, setzte sich ihm sodann gegenüber, blickte mit ihren scheuen Augen ängstlich-musternd in sein Gesicht und meinte vorwurfsvoll, er sehe gut aus. Ihr Antlitz war förmlich zusammengeschrumpft von den Sorgen, und die dünnen schwarzen Haarsträhnen gaben den Zügen einen zigeunerhaften Ausdruck. Der Vater sei verreist, berichtete sie, und werde erst über den andern Tag zurückkommen; und nun suchte sie ihn auszuforschen voll Angst, daß sie da einen müßigen Kostgänger zu füttern haben werde, aber es verdroß Engelhart, daß sie keine gerade Frage stellte, sondern nur so um den Brei herumging; daher schwadronierte er eine Weile von seinen Aussichten, und es wurde ihm selber gläubig zumute, bis ihm einfiel, daß er doch am Morgen seinem guten Schaffner das geliehene Geld zurückbringen müsse. Er schluckte und würgte an den Worten, endlich kam es heraus, halb Bitte, halb Forderung. Frau Ratgeber erklärte mit Entschiedenheit, daß sie keinen überflüssigen Pfennig besitze und nichts geben könne. »Es muß sein,« sagte Engelhart erbleichend. »Wenn es sein muß, so verschaff’ dir’s eben,« entgegnete sie höhnisch, »von mir bekommst du’s nicht, von deinem Vater auch nicht. Wir haben genug Trübsal mit dir gehabt, und jetzt kommst du wieder als Bettler.« Alle seine Sünden und seine ganze Schmach hielt sie ihm vor und blieb bei ihrer Weigerung, auch als er sich aufs Flehen verlegte. »Und jetzt ist es spät,« schnitt sie endlich ab, »ich habe gearbeitet, ich will schlafen.«

Für Engelhart war an Schlaf nicht zu denken. Endlose Stunden hindurch schritt er im Zimmer auf und ab. Pläne zu schmieden war er nicht der Mann, ihn peitschte es bloß von Impuls zu Impuls. Als er am Morgen die Stiefmutter zur Küche gehen hörte, eilte er hinaus und vertrat ihr den Weg. »Ich verpfände mich dir mit meinem ganzen Leben, mit meiner ganzen Zukunft,« flüsterte er, »nur gib mir diese paar Mark, sonst bin ich ehrlos.« Frau Ratgeber zuckte die Achseln und machte ein böses Gesicht, aber es war etwas in seinem Blick, wovon sie niedergezwungen wurde. Ungefähr eine Minute lang besann sie sich, dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Engelhart ließ sie nicht aus den Augen, als fürchte er den gewonnenen Vorteil sonst wieder einzubüßen, er begleitete sie und sah zu, wie sie die Kommode aufschloß. Stumm reichte sie ihm ein schweres silbernes Armband, in der Mitte war ein alter Reichstaler eingelötet, der ein Städtebild mit vielen Türmen zeigte. »Geh damit ins Leihamt,« sagte Frau Ratgeber, »du bist mir schon genug schuldig, jetzt auch noch das.« Engelhart erkannte das Schmuckstück, es hatte einst seiner Mutter gehört, und er betrachtete es mit düsterer Miene, hinter der er seine Wehmut versteckte. Doch ging er hin, löste Geld dafür und bezahlte seine Schuld.

Nachträglich bereute Frau Ratgeber ihre Schwäche, und Engelhart mußte ihren erbitterten Hader dulden. Es war ihm keine ruhige Stunde gegönnt. Sein ernster Entschluß, sich um einen Verdienst umzutun, geriet einigermaßen ins Wanken, weil ihn davor ekelte, fremden Menschen unter die Augen zu treten und ihre Gleichgültigkeit ertragen zu sollen. Indessen kam sein Vater zurück, müde von der Arbeit und erschöpft von der Hundstagshitze. Der Mann war sichtlich gealtert, an Körper und Gesicht trat eine fette Aufgeschwommenheit hervor, doch sein Anzug war höchst adrett und den ergrauenden Schnurrbart hatte er schwarz gefärbt und nach der neuesten Mode gebürstet. Die Begrüßung zwischen Vater und Sohn war beeinflußt durch das finstere Schweigen der dabeistehenden Frau, und dieses Schweigen enthielt für Herrn Ratgeber die Aufforderung zu Vorwürfen und Abrechnungen. Während Engelhart auf dem Sopha saß, ging Herr Ratgeber mit seinen kurzen Schritten im Zimmer herum und redete sich in Zorn und Schmerz. Doch beständig war auch ein Ausdruck der Verlegenheit in seinem Gesicht, und wenn Engelhart antwortete, zuckte das seltsame Schmunzeln um seine Lippen, durch das er seiner Aufregung Herr zu werden suchte.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2018
Объем:
290 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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