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2.Geschichtsdidaktik und Public History

2.1Geschichtsaneignungen in der Öffentlichkeit 1

Die Ausführungen zu Geschichts- und Erinnerungskultur im vorherigen Kapitel des Bandes haben gezeigt, wie die gesellschaftliche und kollektive Dimension von Public History, ihr öffentlicher Charakter also, beschrieben und analysiert werden kann. Wesentlicher Kern von Public History ist jedoch nicht primär eine bloße Beschreibung von öffentlicher Geschichte, sondern die „Lehre und Analyse der Vermittlung von geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen an eine breite Öffentlichkeit […] als zentraler Schwerpunkt“.2 Mit der Vermittlung von Geschichte beschäftigt sich vor allem die Didaktik der Geschichte. „Vermittlung“ wird dabei in der Geschichtsdidaktik nicht als ein gelehriger Prozess eines einseitigen akademischen Wissenstransfers in eine ungebildete breite Masse der Bevölkerung hinein verstanden, sondern als das Bereitstellen von fachlich fundierten Angeboten, mit denen sich Individuen Vergangenheit in ihrer Lebenswelt als Geschichte aneignen können. Richtet sich das Hauptinteresse der Geschichtsdidaktik zumeist an einer Aneignung von Geschichte in schulischen Zusammenhängen aus, so haben sich ihre Tätigkeitsschwerpunkte in den vergangenen Jahren auch in die Bereiche der außerschulischen Geschichtsarbeit ausgeweitet.

Die Idee, dass Vergangenheit als Geschichte kriteriengeleitet angeeignet werden soll (und eigentlich überhaupt erst durch den Prozess einer solchen Aneignung Geschichte neu entsteht), ist eine der Grundannahmen der Geschichtsdidaktik. Dazu hat sie sich intensiv mit Konzepten historischen Lernens beschäftigt. In diesem Kapitel des Buches soll zunächst vorgestellt werden, was unter ‚historischem Lernen‘ zu verstehen ist. Dabei soll der (oftmals) schulische Fokus auf den allgemeinen Bereich der Öffentlichkeit übertragen und es sollen Kriterien für gutes historisches Lernen auf diese Weise für Produktions- und Rezeptionsprozesse von Geschichte in der Öffentlichkeit nutzbar gemacht werden. Hierzu ist es notwendig, zunächst über einige Grundbegriffe der Geschichtsdidaktik Auskunft zu geben. Wird Geschichte in der Öffentlichkeit angeeignet, so handelt es sich dabei zudem um eine werthaltige politische Angelegenheit. Deshalb schließt dieses Kapitel mit Ausführungen zur Bedeutung von Diversität und Inklusion für eine solche Aneignung von Geschichte.

Die Beschäftigung mit Geschichte, so eine der Grundannahmen der Geschichtsdidaktik, eröffnet einen Reflexionsraum, in dem über die grundsätzliche Zeitlichkeit der Welt nachgedacht werden kann. Bei historischem Lernen geht es im Kern darum, sich die Erfahrung von Wandel in der Vergangenheit durch historisches Erzählen produktiv anzueignen. Die Geschichte, oder genauer: ein Erzählen von Geschichten über vergangenen Wandel kann Lernenden und Rezipient*innen von Geschichte in der Öffentlichkeit grundsätzlich vor Augen führen, dass es Wandel bereits einmal wirklich gab, und dass er Ursachen und Konsequenzen hat. Laut Jörn Rüsen ist historisches Lernen „Sinnbildung über Zeiterfahrung im Modus historischen Erzählens“.3 Diese sprachlich dichte Definition ist genauso klug wie unoperationalisiert. Gemeinsam mit Studierenden an der Freien Universität Berlin, sowohl in den Lehramtsstudiengängen als auch im Masterstudiengang Public History, haben wir sukzessive von Semester zu Semester aus der anerkannten Lehrformel Rüsens4 eine handhabbarere Definition entwickelt, die zuletzt wie folgt lautete:

„Historisches Lernen ist die produktive eigen-sinnige Aneignung vergangener Wirklichkeiten als selbst erzählte Geschichte oder selbst imaginierte Geschichte.“

Für selbstverständlich halten wir es, dass beim historischen Lernen Verfahren von Produktions- und Handlungsorientierung5 zur Anwendung kommen müssen, und dass der Eigen-Sinn6 der Rezipient*innen von Geschichte maßgeblich ist, ferner, dass es immer mehrere Perspektiven auf vergangene Wirklichkeiten sein müssen, die thematisiert werden. „Lernen“ wird hier nicht als ein bloßes Auswendiglernen von Namen, Daten und Fakten aus der Vergangenheit angesehen, sondern als Prozess einer Aneignung. Gerade der Aneignungsbegriff (davon wird später noch die Rede sein) wird sich für die mediengestützte Vermittlung von Geschichte in der Öffentlichkeit noch als besonders zentral erweisen.

Damit sind im Kern wichtige Prinzipien von historischem Lernen benannt, die gleichermaßen auch für die öffentliche Auseinandersetzung mit Geschichte, also die Public History, gelten können: Narrativität (denn es soll sich um selbst erzählte Geschichte handeln), Multiperspektivität (denn es sollen immer mehrere Perspektiven zur Geltung kommen) sowie Imagination (denn Geschichte lebt gerade in der öffentlichen Inszenierung von bildhaften Vorstellungen).


Abb. 1: Definition historischen Lernens und Vernetzung mit geschichtsdidaktischen Kernbegriffen7

Entlang dieser Prinzipien soll im Folgenden nachgezeichnet werden, was sich genau hinter ihnen verbirgt und welche Bedeutung sie für die Vermittlung von Geschichte in der Öffentlichkeit haben.

2.2Geschichtsdidaktische Prinzipien: Narrativität, historische Imagination, Multiperspektivität

2.2.1Narrativität 8

In weiten Teilen der Geschichtsdidaktik wird die Tätigkeit des historischen Erzählens als konstitutiv nicht nur für das Schulfach Geschichte, sondern für den Gegenstand Geschichte schlechthin angesehen.

Narrativität bezeichnet in der Geschichtstheorie historiografisches Erzählen, was sich von anderen Erzählformen, etwa novellistischen oder belletristischen, unterscheidet. Diese spezifische Erzählform grenzt die Geschichtswissenschaft von anderen Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften ab: Sie erzählt, statt zu beschreiben.9 Diese Besonderheit von Geschichte stellte vor allem der Geschichtsphilosoph Arthur C. Danto heraus. Er beschrieb die Tätigkeit von Historiker*innen als die Auswahl von zwei zeit- und zustandsdifferenten Zeitpunkten, die auf eine nicht beliebige Art und Weise erzählend miteinander in Verbindung gebracht werden. Was heißt das?

Geschichte ist die Beschäftigung mit dem, was nicht mehr da ist. Aus der Vergangenheit sind nur Ausschnitte erhalten, von den meisten Geschehnissen ist aber wohl nichts überliefert oder die Überlieferung hat nicht überdauert.10 Geschichte als Wissenschaft, aber auch als Unterrichtsfach, bringt diese Vergangenheitsausschnitte in einen Sinnzusammenhang – und zwar in Form einer historischen Narration. Solche Narrationen charakterisieren sich nicht lediglich durch rationale Reihungen der Vergangenheitsausschnitte, vielmehr werden in eine Narration bestimmte Sachverhalte aufgenommen, andere hingegen weggelassen. Sie werden aufeinander wie auch auf ein erzählerisches Zentrum bezogen. Diese Struktur der Narration ist dabei nicht den Vergangenheitsausschnitten inhärent, sondern wird von den Historiker*innen angelegt.11

Bei historischem Lernen geht es um einen individuellen Aneignungsprozess: Es geht darum, den Wandel und das Andere der Vergangenheit selbst als Geschichte erzählen zu können.

Eine solche Vergegenwärtigung durch Erzählen ermöglicht nun ein Erfahren der Besonderheiten des Vergangenen, indem das Individuum tatsächlich selbst erzählt. Dabei lassen sich im Kern zwei Dinge erfahren, und zwar ‚Historizität‘ und ‚Alterität‘. Ein Erfahren von Alterität im Modus historischen Erzählens kann dabei – nur scheinbar banal – aufzeigen, dass solche sozialen Differenzierungen, soziale Ungleichheiten und gerechte wie ungerechte Zustände in der Vergangenheit anders ausgeprägt waren als heute. Historisches Erzählen eröffnet auf diese Weise die empirisch gesättigte und lebenspraktisch wirksame Erfahrung, dass Herrschaft, soziale Differenzierungen und Ungleichheiten alternativ gedacht werden können. Ein Erfahren von Historizität im Modus historischen Erzählens, also der grundsätzlichen Wandelbarkeit von Herrschaft, vergangener sozialer Differenzierungen, sozialer Ungleichheiten oder gerechter wie ungerechter Zustände, bietet die Orientierung, dass Herrschaft grundsätzlich, also auch in unserer Gegenwart und für die Zukunft wandelbar ist.12

Historisches Erzählen soll dabei bestimmten Regeln folgen, die als empirische, narrative und normative Triftigkeit bezeichnet werden. Damit ist gemeint, dass sich historische Erzählungen auf Quellen stützen (empirische Triftigkeit) und dass sie Erzählformen folgen, die in unserer Kultur als zustimmungsfähig gelten (narrative und normative Triftigkeit).

2.2.2Historische Imagination

Provozieren kann bei einer Definition von historischem Lernen vor allem die gleichberechtigte Nennung von historischer Imagination als einer dem historischen Erzählen vielleicht ebenbürtigen Art und Weise des Ausdruckes von historischem Lernen. Mit dem Theorieangebot der historischen Imagination hat sich vor allem der Geschichtsdidaktiker Rolf Schörken13 unter Rückgriff auf die Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers und auf Paul Ricoeurs Werk „Zeit und Erzählung“ beschäftigt14. Schörken geht davon aus, dass durch eine Beschäftigung mit vergangenen Wirklichkeiten historische Vorstellungsbilder, eben jene historischen Imaginationen, entstehen. Eine solche Rezeption ist dabei keinesfalls ein ausschließlich passives Unterfangen (worauf insbesondere auch Wolfgang Iser hinweist), sondern zunächst eine aktiv zu denkende „Evokation von Vorstellungsbildern“15. Schließlich aber geht es bei historischer Imagination, wird sie prozesshaft gedacht, ebenso darum, in einem dialektischen Prozess bereits bestehende Vorstellungsbilder über die Vergangenheit durch eine Auseinandersetzung mit neuen Informationen zu verändern. Im Zuge historischen Lernens kann die Zielvorstellung dann lauten, solche Vorstellungen überhaupt erst einmal zu evozieren oder auch, bereits vorhandene Vorstellungen zu verändern, etwa indem man in Geschichtsdarstellungen triftige Quellen präsentiert, die alternative Imaginationsangebote bereitstellen und die mit den bereits evozierten Vorstellungsbildern in Konkurrenz treten. Christine Pflüger betont vor allem den Zusammenhang von historischer Imagination und Narrativität. Sie führt in Anlehnung an Rolf Schörken aus:

„Die historische Imagination ist das Moment, durch das Geschichte sich von der Beobachtung von Präsentem unterscheidet. Angestoßen durch Sprache (d. h. Lesen, Zuhören oder Reden über Geschichte) erzeugt die Imagination ‚innere Vorstellungsbilder‘, die weder Phantasieprodukte noch Abbilder empirischer Objekte sind, sondern ‚kreative Hervorbringungen des Geistes unterhalb der Reflexionsschwelle‘ (Schörken). Der Leser oder Hörer tritt mittels der Vorstellungsfähigkeit in Abläufe ein und verwandelt eine Fülle von Signalen in lebendige Gestalten, Handlungsräume und Wirklichkeiten. Vorstellungbilder setzen semantische Leerstellen voraus und sind von Erfahrungen und Vorprägungen des Rezipienten geprägt. Sie bleiben immer korrekturbedürftig.“16

Für die Public History sind Überlegungen zu historischer Imagination relevant, weil Produkte der Public History zum einen anschlussfähig an die historischen Imaginationen des Publikums sein sollten – denn wie sonst ließe sich ein zustimmungsfähiges oder auch kommerziell erfolgreiches Produkt mit den (hier im wahrsten Sinne des Wortes) Seh-Gewohnheiten von Rezipient*innen in Einklang bringen? Aufgabe einer kritischen Praxis von Public History könnte dann jedoch zum anderen sein, auf den Imaginationscharakter der ‚inneren Vorstellungsbilder‘ hinzuweisen und Angebote zu machen, mit denen sich solche inneren Vorstellungsbilder revidieren oder abändern lassen.

2.2.3Multiperspektivität 17

Wie kaum ein anderer Fachbegriff der Geschichtsdidaktik ist jener mit dem Namen des Geschichtsdidaktikers Klaus Bergmann (1938–2002) verbunden. Bergmann war derjenige, der Multiperspektivität als einer besonderen „Form der Geschichtsdarstellung“18 den Rang eines geschichtsdidaktischen Prinzips zuwies, hierzu geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Begründungen formulierte19 und anhand zahlreicher Beispiele20 aufzeigte, dass multiperspektivische Geschichtsvermittlung selbstverständlich in der Praxis stattfinden kann.

Als Grundlage des Konzeptes der Multiperspektivität benennt Bergmann Perspektivität als einen „Grundsachverhalt menschlicher Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit – bei der Orientierung in der Wirklichkeit und bei den Handlungsabsichten gegenüber der Wirklichkeit“.21 Als Fachbegriff stammt der Begriff der Perspektive freilich aus der Malerei22 und wird als Analyseinstrument für Erzähltexte ebenso in den Literaturwissenschaften verwendet.

Mit Perspektivität ist dabei im Bergmann’schen Entwurf stets eine „soziale Perspektivität“23 gemeint: Zentral ist, dass die Perspektiven unterschiedliche soziale Sprecher*innenpositionen markieren und unterschiedliche Machtpositionen in historischen Herrschaftskonstellationen repräsentieren. Nicht ausreichend ist demzufolge, wenn einfach nur sich inhaltlich widersprechende Aussagen gegenübergestellt werden (etwa lediglich zwei konträre Positionen in einer Parlamentsdebatte).24

Multiperspektivisches historisches Lernen kann „mindestens fünf wesentliche Operationen historischen Denkens und historischer Erkenntnis“25 fördern bzw. überhaupt erst anbahnen:

„Ein Üben in Verstehen und Empathie, vor allem, wenn es darum geht, vergangene Perspektiven im Modus einer Perspektivenübernahme nachzubilden.

Ein Üben im Erklären der Rahmenbedingungen, wenn es darum geht, vergangene Perspektiven in ihren historischen Kontext einzuordnen.

Ein Erfahren des Umstandes, dass die Rekonstruktion vergangener Wirklichkeiten eine Deutung ist und zu unterschiedlichen Ansichten führen kann.

Ein Erfahren des Umstandes, dass ein solches Deutungsgeschäft unmittelbar mit der eigenen subjektiven Perspektive zusammenhängt.

Ein Einüben eines reflektierten Urteilsvermögens, um das Handeln und Leiden von Menschen in ihrer Zeit mit Sach- und Werturteilen bewerten zu können.“26

An dieser Stelle wird deutlich, warum Multiperspektivität den Rang eines geschichtsdidaktischen Prinzips beanspruchen kann: Die geschichtstheoretische Prämisse der Perspektivität jeder historischen Erkenntnis wird in die Konzeptionierung historischen Lernens integriert. Aus einer solchen Integrationsleistung werden Operationen historischen Denkens und historischer Erkenntnis formuliert, die zugleich allgemeindidaktische Gültigkeit beanspruchen können, so vor allem das Üben von Empathie und Fremdverstehen und das Ausbilden eines reflektierten Urteilsvermögens. Diese Ziele erscheinen recht nah an den Erfordernissen eines Schulfaches Geschichte formuliert. Überträgt man solche Ziele auf den Umgang mit Geschichte in der Öffentlichkeit, so erscheinen sie vielleicht als sehr herausfordernd – auch hier sollen Deutungen auf ihre Subjektivität hin befragt oder die Rezeption von solchen Produkten an den Maßstäben von Empathie orientiert werden.

Das Prinzip der Multiperspektivität stellt nicht nur die Forderung, unterschiedliche perspektivische Quellen in Produkten der Public History zu integrieren, sondern auch Fach- und Sekundärtexte zu verwenden sowie die Ebene der Auseinandersetzung mit Geschichte zu berücksichtigen.

Klaus Bergmann präzisiert, was unter diesen „drei Ausdrucksformen von Perspektivität“27 zu verstehen sei:

„1. Multiperspektivität der aus der Vergangenheit erhaltenen Quellen der Menschen, die in einen historischen Sachverhalt denkend, handelnd und leidend verstrickt waren.

2. Kontroversität der von späteren Betrachtern und Forschern vorgelegten Darstellungen über einen historischen Sachverhalt.

3. Pluralität der Ansichten und Urteile über einen historischen Sachverhalt, die sich in der Auseinandersetzung von Schülerinnen und Schülern mit multiperspektivischen und kontroversen Darstellungen bilden.“28

Selbstredend kann gerade die Ausdrucksform der Pluralität nicht nur auf Schüler*innen, sondern freilich erst recht auf die Auseinandersetzung mit Geschichte in der Öffentlichkeit bezogen werden. Dass Kontroversität nicht etwa nur in gedruckten Texten der fachhistorischen Forschung stattfindet, sondern gerade in Produkten der Public History (z. B. die „Wehrmachtsausstellung“ oder die Debatten um das Homosexuellen-Denkmal im Berliner Tiergarten haben dies deutlich gezeigt), ist offensichtlich.

Um multiperspektivische Geschichtsdarstellungen umzusetzen, benötigen die Rezipient*innen Informationen zum historischen Kontext, aus dem die multiperspektivischen Zeugnisse entnommen sind. Die Darstellung eines solchen Kontextes wird als „Hintergrundnarration“ bezeichnet.

Um multiperspektivische Zeugnisse verstehend rezipieren zu können, ist eine Kenntnis des gesellschaftlichen Hintergrundes notwendig, vor dem sie entstanden sind. Lernende müssen wissen, welche Sprecher*innenpositionen vergangene Gesellschaften überhaupt bereitzustellen in der Lage waren und von welchen Machtverhältnissen solche Positionen durchkreuzt wurden. Klaus Bergmann präzisiert:

„Voraussetzung für die Gewichtung und Bewertung solcher Bedingungsfaktoren ist eine historische ‚Hintergrundnarration‘, die den Bezugsrahmen von Produktionsverhältnissen, Herrschaftsverhältnissen, Geschlechterverhältnissen und Mentalitäten in seiner Gewordenheit und Struktur umreißt. […] Erst die Hintergrundnarration erlaubt es, das Denken und Handeln der Zeitgenossen in eine historisch gewordene Konstellation einordnen und aus ihr heraus verstehen zu können“.29

Dass eine Hintergrundnarration nun jedoch selbst eine Narration ist, ein Text also, in dem Informationen zur Vergangenheit in der Form einer absichts- und sinnvollen historischen Erzählung präsentiert und verdichtet werden, ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar erkennt Klaus Bergmann „das schwierige Problem […], dass auch sie eine perspektivische Deutung ist oder in den Zusammenhang einer perspektivischen Deutung gehört“30, begegnet diesem Umstand jedoch nur mit dem Hinweis, dass „ein Minimum an einzelnen Fakten“31 oder eine eher chronikartige Verknüpfung von Ereignissen der Vergangenheit Auskunft über die gesellschaftlichen Strukturen geben soll, die eben jene multiperspektivischen Sprecher*innenpositionen zur Verfügung stellen.

Zu überlegen wäre, ob man eine solche Hintergrundnarration als die Schnittmenge kontroversen Wissens zum in Rede stehenden historischen Zusammenhang begreift. Dann müsste diese Hintergrundnarration explizit sichtbar machen, welcher perspektivischen Deutungen der Vergangenheit sie sich bedient und zugleich ausweisen, welche Elemente historischen Wissens dabei offenbar als unstrittig gelten können. Für den Bereich der Public History wäre dementsprechend die Frage zu stellen, ob ein historischer Spielfilm oder ein erläuternder Ausstellungstext von der interessierten Öffentlichkeit überhaupt ernst genommen würde, wenn er als ein solch offener Text erscheint – und nicht den eventuellen Wunsch des Publikums nach Eindeutigkeit von historischem Hintergrundwissen bedient.

2.2.4Geschichtsdidaktische Standards für Produkte der Public History

Die hier erläuterten geschichtsdidaktischen Prinzipien bzw. Kernbegriffe können auch als Standards für Produkte der Public History verstanden werden, die mit der kognitiven, ästhetischen und politischen Dimension von Geschichtskultur verzahnt werden können.

Betrachtet man – das Paradigma von Narrativität voraussetzend – solche Produkte als Erzählungen, so kann die Triftigkeit dieser Erzählungen zum Maßstab ihrer Beurteilung werden. Um als qualitätsvolle Produkte von Public History gelten zu können, müsste bei ihrer Produktion (und freilich auch bei ihrer späteren Analyse) die empirische, narrative und normative Triftigkeit in den Blick geraten. Gerade für einen Blick auf die empirische Triftigkeit, also auf die Quellentreue und die Qualität des Quellenbezuges, benötigen Public Historians fundierte fachwissenschaftliche Kenntnisse zum Forschungsstand, in dessen Horizont sich das Produkt verortet. Hier kommt also die kognitive Dimension von Geschichtskultur auf besondere Weise zum Tragen.

Nimmt man es sich zum Ziel, mit einem Produkt der Public History die historische Imagination des Publikums anzuregen, so kann in den Blick geraten, wie und auf welche Weise diese historische Imagination ästhetisch gesättigt stimuliert wird. Hier würde also insbesondere die ästhetische Dimension von Geschichtskultur zur Geltung kommen; es sei dabei an Ausführungen von Jörn Rüsen zur Wirkung der ästhetischen Dimension von Geschichtserzählungen erinnert (vgl. Kapitel 1.3), denen zu Folge die „Gedankenblässe der Erkenntnis […] kein Feuer der Einbildungskraft, mit der die historische Erinnerung als Gesichtspunkt handlungsleitender Zwecksetzungen wirksam wird“32, besitzen würde. Public Historians müssten – um die historische Imagination ihrer Klientel ästhetisch sättigen zu können – deshalb zunächst Kenntnisse über die bildhaften Vorstellungen von Geschichte ihres jeweiligen Publikums haben. Sie müssten außerdem über die Professionskompetenz verfügen, die Wirkung von Medien im Hinblick auf die Stimulation von historischer Imagination einschätzen zu können, also jeweils konkrete Vorstellungen davon haben, wie Aneignungsprozesse von Medien als ästhetische Aneignungsprozesse beschrieben werden können.

Die politische Dimension von Geschichtskultur zeigt sich schließlich, indem Multiperspektivität zum Standard bei der Herstellung und auch bei der Analyse von Produkten der Public History wird. Dass Geschichte ohnehin nur mit mehrperspektivischen Quellen konstruiert werden kann, befreit Geschichten-Erzähler*innen nicht von einem Nachdenken über die Frage, welche Perspektiven in welchem Umfang in einem Produkt der Public History (genauso wie in einem fachwissenschaftlichen Text oder in einem Schulgeschichtsbuch) zur Geltung kommen dürfen, welche Perspektiven (und damit verbunden: welche sozialen, kulturellen und politischen Sehepunkte) man für besonders berücksichtigenswert und welche für entbehrlich hält. Qualitätsmerkmal einer Geschichtserzählung wäre dann jedoch nicht, dass sie multiperspektivisch ist, sondern ob sie dazu bereit ist, auch über die Wahl der jeweiligen Perspektiven und damit auch über die begrenzte Reichweite ihrer Erklärungskraft Auskunft zu geben.

2.3Gesellschaftliche Dimensionen I: Diversität

In den bisherigen Ausführungen zu Prinzipien der Geschichtsdidaktik wurden formale Kriterien erläutert, mit denen Public Historians arbeiten können, wenn sie Produkte der Public History entwerfen oder analysieren. Obwohl in den Ausführungen zum Prinzip der Multiperspektivität bereits veranschaulicht wurde, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte in der Öffentlichkeit eine rundherum politische Angelegenheit ist, reichen die Erläuterungen noch nicht, um Public History umfassender in Debatten um die Gesellschaftlichkeit von Geschichte einzubetten. Denn dazu ist nicht nur Wissen um fachimmanente Kriterien der fachhistorischen Forschung oder der Geschichtsdidaktik notwendig, sondern auch um die Theorien, mit denen der gesellschaftliche Ort von Geschichtsaneignung diskutiert wird. Gegenwärtig findet in der Geschichtsdidaktik diese Diskussion entlang der Debatten um Diversität/diversity und Inklusion statt. Deshalb soll im Folgenden die Gesellschaftlichkeit von Geschichte anhand dieser beiden Prinzipien systematisch betrachtet werden. Gegenwärtig heißt zugleich, dass in zehn Jahren vermutlich ganz andere gesellschaftliche Debatten über den Ort von Geschichte in der Öffentlichkeit geführt werden. Die folgenden Ausführungen sind also nicht von unbegrenzter Zukunftssicherheit geprägt, sondern – ganz im Sinne der Idee von Geschichtsbewusstsein – der Unerbittlichkeit des Wandels unterworfen.

2.3.1Diversität, Gesellschaft und Geschichte 33

Die Auseinandersetzung mit Geschichte findet in Deutschland – und vermutlich auch überall sonst auf der Welt – in einer Gesellschaft statt, die durch Heterogenität und soziale Ungleichheiten geprägt wird. Soziale Kategorien wie Race, Class und Gender und Parameter wie Alter, sexuelle Identität oder Körper (viele weitere sind denkbar) bestimmen, welche Positionen wir in der Gesellschaft einnehmen. Sie legen fest, mit welchen Identitätskonzepten wir uns selbst beschreiben und von anderen beschrieben werden. ‚Gesellschaft‘ mit ihren machtvollen Mechanismen von Ausgrenzung, Integration und Teilhabe ist dabei weit mehr als eine bloße Kulisse für Geschichte in der Öffentlichkeit, vor deren Hintergrund auf beliebige Weise historisch gelernt werden kann. Sie spannt diejenigen Lebenswelten auf, aus denen heraus alle, die Geschichte in der Öffentlichkeit rezipieren, den Erfahrungsraum Geschichte betreten, um die gegenwärtige Gesellschaft in ihrer Gewordenheit zu verstehen und um sich für ihre individuell-gesellschaftliche Zukunft orientieren zu können.

Bereits 1979 haben die Geschichtsdidaktiker Ulrich Mayer und Hans-Jürgen Pandel vorgeschlagen, bei der kategorialen Beschreibung historischen Lernens gerade auch solche Kategorien zu verwenden, die „menschliches Handeln im fortschreitenden Prozeß gesellschaftlicher Praxis“34 erfassen. In „dieser Kategoriengruppe“, so Mayer und Pandel, „liegt die Schnittstelle von Geschichtswissenschaft und systematisierenden Sozialwissenschaften“35. Diese Gedanken lassen sich mühelos auch auf den Umgang mit Geschichte in der Öffentlichkeit anwenden, lässt man sich freilich auf den Gedanken ein, dass Öffentlichkeit ein politischer Ort von Gesellschaft ist.

An einer solchen Schnittstelle von Geschichtswissenschaften und systematisierenden Sozialwissenschaften können die Diversity- und Intersectionality Studies verortet werden, die sich an der Frage abarbeiten, wie heterogene Gesellschaften in ihrer Vielfalt beschrieben und herrschaftskritisch analysiert werden können. Ihre Debatten, die in den Fächerkulturen der Politik-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften schon lange anregend wirken, haben gegenwärtig „Hochkonjunktur“36. Insbesondere der Forschungszugang von Intersektionalität hat „innerhalb weniger Jahre einen Boom an Publikationen und Forschungen in verschiedensten Disziplinen ausgelöst“37. Hier geht es „um Zusammenhänge und Wechselwirkungen sozialer Differenzierungen“ und auch darum, deren „Verflechtungen zu verdeutlichen“38. Als Werkzeuge werden bei dieser Analysearbeit zumeist die sozialen Kategorien Race, Class und Gender verwendet.

Die Diversity- und Intersectionality Studies können sich nicht nur an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaften und systematisierenden Sozialwissenschaften positionieren, sondern auch als ein Verbindungsglied fungieren, das eine Analyse von vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaften strukturell verbindet und aufeinander zu beziehen vermag. Im Sinne des geschichtsdidaktischen Prinzips der Gegenwarts- und Zukunftsbezogenheit kann historisches Denken dann als ein „Sich-Erinnern, das von Schwierigkeiten in der Gegenwart ausgelöst wird, sich der erkennbaren Vergangenheit zuwendet und das Erinnerte beim Handeln berücksichtigt“39, entworfen werden – und damit heuristisch wertvolle Anregungen dazu liefern, wie sich eine Darstellung von Geschichte in der Öffentlichkeit auf die gegenwärtige Gesellschaft bezieht.

2.3.2Race, Class und Gender als soziale Kategorien der Diversity- und Intersectionality Studies

Die prominente Begriffstrias von Race, Class und Gender, mit der die Diversity- und Intersectionality Studies solche Ungleichheiten zumeist analysieren, stammt aus einer spezifischen US-amerikanischen Politik- und Wissenschaftstradition und ist eng mit der Geschichte politischer Emanzipationsbewegungen in den USA verbunden. Dass sich gerade diese drei Begriffe den Status von sozialen Kategorien erobern konnten, spiegelt also „in hohem Maße die Sozialstruktur ihres Entstehungskontextes, der USA“40 wider und wurde vielleicht deshalb in deutschsprachigen Kontexten erst spät und zunächst zögerlich rezipiert. Die Trias stellt sich oft als ein Bündel mit Exklusivitätsanspruch dar. Freilich sind auch andere Parameter sozialer Differenzierung denkbar, so zum Beispiel Religion, Alter, Sexualität, Körper oder Behinderung.

Mit welchen Bedeutungsinhalten sind diese drei Kategorien belegt und auf welche Weise strukturieren sie Gesellschaft? Hier sollen lediglich begriffliche Annäherungen an diese Kategorien versucht werden, von der aus ihre grundsätzlichen (und jeweils verschiedenen) gesellschaftlichen Macht- und Differenzierungslogiken erkannt werden können.

In Anlehnung an den britischen Rassismustheoretiker Robert Miles etwa kann der Prozess von Rassenkonstruktion (racialisation) definiert werden als ein

„Fall ideologischer Bedeutungsbildung, bei dem eine soziale Gruppe als eine diskrete und besondere, sich selbst reproduzierende Bevölkerung konstruiert wird. Die geschieht unter Bezugnahme auf bestimmte (reale oder vorgegebene) biologische Merkmale und durch eine Verknüpfung mit anderen, negativ bewerteten (biologischen und/oder kulturellen) Eigenschaften“41.

Eine konsequente Verwendung des Rassebegriffes zur Beschreibung und Analyse von sozialen Ungleichheiten erscheint in der Bundesrepublik der Gegenwart als hochgradig problematisch. Ein hemmungslos herrschaftskritisches „Let’s talk about Race“42, unter dem Label der Critical Whiteness Studies, in nicht-deutschen Diskursen schon längst common sense einer sozialen Ungleichheitenanalyse, schreckt viele hiesige Forscher*innen noch immer ab. Hierzulande wird stattdessen mit Verweis auf das besondere historische Erbe einer kolonialen und später dann nationalsozialistischen „Rassenlehre“ die Verwendung von Race als forschungsleitende Kategorie fast immer abgelehnt. Paradoxerweise scheint auf diese Weise die zweifellos rassistische Vergangenheit Deutschlands blockierend auf die Etablierung rassismuskritischer Forschung zu wirken. So hat sich in Deutschland zur Beschreibung derjenigen gesellschaftlichen Ex- und Inklusionen, die Robert Miles als „Rassenkonstruktion“ beschreiben würde, ein „Ausweichen auf den Begriff der Ethnizität […] oder Hybridität“43 durchgesetzt, um durch eine solche Begriffsverwendung zu vermeiden, „rassistische Logiken zu bedienen und zu reifizieren“44.

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