Читать книгу: «Novembertod», страница 3

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Der Wind griff nach der Stadt wie eine große unsichtbare Hand. Er spielte mit den Bäumen und glitt durch die menschenleeren Straßen. Unter den Linden seufzten die roten Fahnen auf und blähten sich. Er trieb im Tiergarten die letzten Herbstblätter vor sich her und ließ sie achtlos vor dem Reichstag fallen. Im geldsatten Tiergartenviertel rüttelte er an den Fensterläden eines Stadtpalais. Ein Laden schlug gegen die Hauswand. Das Licht einer Schreibtischlampe rann in die Dunkelheit. Heinrich von Brettin schreckte aus den Überlegungen für seinen Kommentar hoch. Eine Nachlässigkeit des Dieners. Er überlegte kurz, ihn zu rufen. Dann stand er selbst auf und schloss den Laden. Der Kommentar duldete weder Störung noch Aufschub. Sein Blick fiel auf den Rotwein auf seinem Schreibtisch. «Rot», dachte er mit Abscheu. Er klingelte nun doch nach dem Diener. Nur wenige Augenblicke später stand wohltemperiert ein Weißwein vor ihm.

Heinrich von Brettin nippte kurz und genießerisch. Dann versenkte er sich wieder in seine Arbeit. Spätestens zum Umbruchschluss musste der Text in der Redaktion sein. Die morgige ExtraAusgabe des Reichskurier würde mit einem Kommentar erscheinen, der nicht nur die Umtriebe der letzten Zeit minutiös und elegant decouvrierte , sondern auch den Verrat der Roten am Reich, seinen tapferen Soldaten und dem sicheren Sieg offenlegte. Da konnte der Plebs dreimal das Zeitungsviertel besetzen. Heinrich von Brettin gab nicht auf. Das war er dem Reich und seiner Zeitung schuldig.

Kappe lag fröstelnd im Bett. Der Wind pfiff durch den kalten Kachelofen und rüttelte an den Fenstern. Kappe stand auf und drückte die Fenster fest zu. Dann rückte er die dicken Karl-May-Bände, die seit der Beschlagnahmung der Fenstergriffe durch die Metallsammelstelle dazu herhalten mussten, das Fenster geschlossen zu halten, wieder dicht an den Rahmen. Er schaute in den dunklen Hinterhof und dachte daran, wie oft er die Bücher auf dem Fenstersims schon durch Steine hatte ersetzen wollen. Er war nie dazu gekommen. Kappe überlegte, ob seine Fenstergriffe wohl irgendeinem armen Kerl auf irgendeinem Schlachtfeld das Leben gekostet hatten. Der Gedanke machte ihn traurig. Nach diesem Abend, den vielen Menschen und hitzigen Diskussionen im Zirkus Busch kam er sich noch einsamer vor als sonst. Es fühlte sich an, als hätte er einen Kater. Wenn es nicht so unsinnig gewesen wäre, wäre er aufgestanden und zum Krankenhaus gelaufen.

Noch auf dem Nachhauseweg hatten Margarete, Trampe und er geredet. Trampe war ungewöhnlich gereizt gewesen. «Eine Gegenregierung, das war mit diesem Aktionsausschuss beabsichtigt. Wenn Ebert das nicht bemerkt hätte, wäre das Reich im Chaos versunken. Und ihr Unabhängigen wärt noch begeistert gewesen.»

«Hör doch auf, Trampe! Die SPD hat die Soldaten instrumentalisiert. Die haben keine politische Bildung, wollen weitermachen wie bisher. Wie soll sich denn was ändern, wenn wir dem alten Reich nur einen neuen Kopf aufsetzen?»

«Warum regt ihr euch eigentlich so auf?», hatte Kappe, dem das Ganze allmählich zu verstiegen wurde, gefragt. «Wir haben jetzt eine Demokratie, und wenn da Entscheidungen fallen, muss man sie annehmen, oder nicht?» Margarete und Trampe hatten Kappe angestarrt, als wäre er verrückt geworden. «Mal ehrlich. Was nützt es denn, wenn wir hier alles umkrempeln und nichts läuft mehr?» Kappe war nun nicht mehr zu bremsen. «Überlegt doch mal. Als sie das Polizeipräsidium gestürmt haben - was wäre passiert, wenn sie uns alle rausgeschmissen hätten? Die Banditen hätten gefeiert. So, wie es jetzt ist, können wir arbeiten. Die politischen Häftlinge sind frei, die politische Polizei ist weg, und der Kriminelle kriegt, was er verdient. Man kann eben nicht alles umstürzen.»

«Hör auf den Herrn Kommissar», hatte Trampe zu Margarete gesagt. Die war einige Zeit schweigend neben den beiden her gelaufen. «Ich hoffe, ihr irrt euch nicht», hatte sie schließlich gesagt. Kappe tastete nach den leeren Umrissen von Klaras Kopfkissen. Überall waren Fronten. Zwischen seinen Freunden. Innerhalb der neuen Regierung. Zwischen den Revolutionären. Die Einzigen, die bisher fehlten, waren die Anhänger des Kaiserreichs. Wo waren die? Kappe dachte an sein Büro. Auch hier gab es Fronten. Zwischenmenschliche. Politische. Und er hatte das Gefühl, dass er sich zwischen allen befand.

In Wedding ging Paul Meyer die acht ausgetretenen Stufen zu der Kellerwohnung hinunter, in der er und seine Familie lebten. Begleitet von einer Art Hochgefühl, war er den ganzen Weg vom Zirkus Busch über die Oranienburger und die Chausseestraße bis zum Sparrplatz gelaufen. Während er das hakelnde Schloss der Wohnungstür aufschloss, musste er an den Künstler denken, den er getroffen hatte. Komischer Typ. Aber immerhin - wer hätte gedacht, dass sogar die Künstler einen Bevollmächtigten schicken würden?

Das Schloss ging auf, und der Geruch nach Moder, Rauch und ungewaschenen Menschen schlug ihm entgegen. Er zog den Kopf ein, denn die Decken waren so niedrig, dass er nur gebückt gehen konnte. Dann zündete er die kleine Karbidlampe an. Sein Schatten flackerte über die schrundigen Wände, von denen sich die Tapeten abpellten, um schwarze Placken von Schimmel freizu geben. Es war eiskalt. Er quetschte sich vorbei am Feldbett des schnarchenden Schlafgängers in die Stube, wo das Ehebett stand, in dem sein Bruder Franz schlief. In drei vorsichtigen Schritten war er in der Küche. Das Licht der Lampe strich über die Gesichter seiner beiden schlafenden Söhne, die sich das Sofa teilten. Dann leuchtete er in das Bett neben dem Sofa. Auch seine Frau, seine Tochter und das Baby schliefen. Das Baby hustete. Meyer zog sich zurück in den Raum, in dem das Ehebett stand. Er begann sich auszuziehen. Plötzlich merkte er, dass er seine Armbinde verloren hatte. Meyer schüttelte seinen Mantel. Doch die Armbinde hatte sich nicht in seinem Mantelärmel verfangen. Er leuchtete auf den Boden, doch nur das übliche Sammelsurium von Töpfen, Holzresten, Flaschen und Lumpen leuchtete auf. Das Licht fing sich in den gusseisernen Ranken der Nähmaschine, auf der seine Frau Säcke nähte. Meyer dachte an die Raten, die sie für die Maschine noch zu zahlen hatten.

In einer Ecke glitzerte das Glanzpapier, aus dem seine Frau und die Kinder Knallbonbons gefertigt hatten, bis es im Krieg die Rohstoffe nicht mehr gab. Die Armbinde blieb verschwunden. Sein Magen knurrte, und er war völlig erschöpft. Er beschloss, am Morgen noch einmal zu suchen, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und legte sich vorsichtig neben seinen Bruder. Die Bettdecke war klamm. Franz stöhnte und begann einen gehetzten Singsang in einer unverständlichen Sprache. Bevor sich der Singsang zu Schreien steigern konnte, stand Meyer auf und suchte auf der anderen Seite des Bettes nach dem abgegriffenen Katzenfell. Es war das Einzige, was Franz beruhigen konnte. Er fand es und umwickelte die krampfenden Hände seines Bruders damit. Franz wurde ruhig. Meyer schlüpfte wieder unter die Decke, und seine Gedanken kreisten zum tausendsten Mal um die Frage, was Franz im Krieg erlebt haben musste. Meyer erinnerte sich genau an den August im Jahr 1914, in dem der Bruder freudig ins Feld gezogen war.

«Wirst sehn, Paule, Weihnachten sitzen wa alle zusamm’ untam Baum, und ick erzähl euch meine Abenteuer», hatte Franz damals gesagt. Drei Jahre später war er zurückgekommen, blind und ohne sein rechtes Bein. Erzählt hatte er nie etwas. Meyer rieb sich die brennenden Augen. Das Baby hustete wieder. Die rote Armbinde war vergessen.

Samstag, 16. November 1918

DIETRICH MAZURAT zuckte instinktiv zurück. Eine Fratze grinste ihn an. Tiefliegende Augen. Augenränder. Falten, die wie eingegraben aussahen. Mazurat hatte in den Spiegel geschaut. Die Tatsache, dass er dabei erschrocken war, machte ihn hochzufrieden: Sein Gesicht war zu einer Leinwand geworden, auf die er ein Wesen projiziert hatte, das ihn zugleich mit Schaudern und Glück erfüllte. Es war ein Wesen aus seiner Sammlung.

Schicht für Schicht hatte er sich in den anderen verwandelt. Hatte sorgfältig Schatten und Lichter gesetzt, die Augenhöhlen dunkel und das Oberlid hell geschminkt und damit den Eindruck der völligen Erschöpfung erzeugt. Seine eher schmale Nase verwandelte er in eine Kartoffelnase, seine glatte Haut ließ er mit Faltenpaste um Jahre altern. Die Haare waren verschwunden. Zum Schluss hatte er verbrannten Kork als Rußstaub über sein Gesicht gepudert. Es sah aus, als klebte in jeder Pore Schmutz.

Um die Verwandlung komplett zu machen, musste er sich umziehen. Im Fundus hatte er sich alte Kleider besorgt. Aber vorher brauchten seine Zähne noch den letzten Schliff. Er griff nach dem Zahnlack und trug die Tinktur vorsichtig auf. Er beugte sich weit zu dem mit Glühlampen umrahmten Spiegel vor und bleckte die Zähne. Fäulnis starrte ihm entgegen. Mazurat fühlte sich unantastbar. Energie pulsierte durch seinen Körper. Er war bereit.

Heinrich von Brettin hatte gute Laune. Geradezu formidable Laune. Wie immer, wenn ein Stelldichein mit seiner Geliebten bevorstand. Während er um den Potsdamer Platz flanierte, dachte er an die exquisiten Freuden, die ihn erwarteten. Er lächelte. Allein die Tatsache, dass er auf sie warten musste, erhöhte die Spannung ins Unermessliche. Von Brettin suchte nach einer literarischen Beschreibung seines Zustandes. Er fühlte sich, ja, er fühlte sich wie eine gespannte Saite, vibrierend vor Erregung. Von Brettin war begeistert: Diesen Satz musste er in seinem Journal festhalten.

Er ging am Café Josty vorbei. Wie immer versetzte ihm der Ort einen Stich, denn er wusste, dass man sich dort über ihn und seine Zeitung das Maul zerriss. Dabei war er ein Flaneur - genau wie all diese Tucholskys und Kerrs auch, ein Freund der brillanten Formulierung, ein Mann des Wortes. Nur dass diese bornierten Bohemiens dies einem Mann, der bis ins Mark preußisch war und sein Leben für den Kaiser gegeben hätte, nicht zugestehen wollten. Sie würden schon sehen, was sie davon hatten. Er sah zum Haus Vaterland hinüber. Direkt vor ihrer Nase hatte er seine Macht bewiesen, dachte er triumphierend. Die Umbenennung des ehemaligen «Café Piccadilly» in «Haus Vaterland» kurz nach Kriegsbeginn hatte ihn nur einen einzigen pointierten Kommentar im Reichskurier gekostet. Auch dies war ein schlagendes Argument gewesen, um seine Herren, ja man konnte eigentlich sagen, seine Kampfgefährten, auf das Propagandastahlgewitter einzuschwören, mit dem er die unselige Republik hinwegschmettern würde. Er würde das unwürdige Regime mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Das passierte eben, wenn man die Pressefreiheit ausrief und die Zensur abschaffte. Sogar seine Gefährten, die weit archaischere Pläne gehegt hatten, hatten ihm schließlich zugestimmt. Von Brettin seufzte. Das Einzige, was ihm jetzt noch Sorge bereitete, war seine Ehefrau. Ihr teures Hobby, ihre fixen Ideen - es war ein ständiger Kampf. Aber er würde auch diesen Kampf aufnehmen. Ach, die Frauen! Von Amelie schwangen seine Gedanken zurück zu seiner Geliebten. Seiner Tigerin. Das angenehme Prickeln kehrte in seine unteren Körperregionen zurück. Er schaute auf seine goldene Taschenuhr. Höchste Zeit!

«Baron von Brettin?»

Von Brettin schreckte aus seiner Vorfreude auf. Im Halbdunkel vor ihm hatte sich ein Proletarier der übelsten Sorte aufgebaut.

«Guter Mann, ich habe keine Zeit.» Er lief schneller.

Der Mann ließ nicht locker. «Bitte, Herr Baron, nur einen Augenblick. Ich soll Ihnen eine Nachricht überbringen.» Die Stimme klang unterwürfig.

Er musterte den Mann. Er sah aus wie der Kerl, der gestern in sein Redaktionsbüro gestürmt war. Doch gestern war von Unterwürfigkeit keine Spur gewesen. Im Gegenteil: Der Prolet hatte ihn aufdringlich beschworen, seine Zeitung endlich «die Wahrheit» berichten zu lassen. Als ob sie das nicht täte. Und jetzt dieser Sinneswandel? In seinen Ärger mischte sich Neugierde. Von Brettin beschloss, den Mann anzuhören. Er gab seiner Stimme den schneidenden Ton, mit dem er unbotmäßige Diener und aufmüpfige Angestellte maßregelte: «Aber wehe, die Nachricht ist die Verzögerung nicht wert! Zusammen mit dem, was Sie sich gestern geleistet haben, Mann …» Er brach den Satz ab, damit er noch bedrohlicher klang. Er war hocherfreut, als er für einen Augenblick Unsicherheit auf dem Gesicht des Proleten aufflackern sah.

«Sie ist es. Mein Wort.» Der Mann lächelte duckmäuserisch. Heinrich von Brettin durchfuhr Stolz. Er hatte dieses Individuum in die Schranken gewiesen. Und das in Zeiten, in denen der Plebs sich sicher an der Macht glaubte. Von Brettin war nun wirklich gespannt, was der Mann ihm zu sagen hatte. «Dann mal raus mit der Sprache», sagte er. «Obwohl ich auf Ihr Wort nichts gebe.»

Es fing an zu nieseln.

Kappe saß im Büro und starrte auf das Telefon wie das Kaninchen auf die Schlange. Am Morgen hatten bei Klara die Wehen eingesetzt. Kappe war so verwirrt gewesen, dass Schwester Hedwig ihn dreimal auffordern musste zu gehen. Sie hatte versprochen, ihn anzurufen, wenn das Kind auf der Welt war. Als er im Büro angekommen war, war er vor Aufregung bei Galgenberg mit der Neuigkeit herausgeplatzt. Der hatte nur irgendeinen Allgemeinplatz ge murmelt und sich noch tiefer über seinen Reichskurier gebeugt. Seitdem saß Kappe wie festgenietet vor dem Apparat.

Es wurde dunkel. An den Fenstern tränte Nieselregen herab. Immer noch kein Anruf. Langsam fiel ihm das Warten auf die Nerven. Es war unerträglich still. Vor dem Krieg hätte Galgenberg ihn mit seinen dummen Sprüchen abgelenkt. Jetzt sprach er nur mit Kappe, wenn er etwas gefragt wurde. Er sah kurz zu ihm hinüber. Galgenberg brütete noch immer über seiner Zeitung. Er sah aus wie eine missgünstige Krähe. Früher hätte er den Reichskurier nicht einmal mit Handschuhen angefasst, dachte Kappe. Er versuchte, Galgenberg aus der Reserve zu locken. «Sie müssten die Zeitung doch langsam auswendig können.»

«Sie erwarten doch ’nen Anruf.» Galgenbergs Blick war so provozierend, dass Kappe wie unter Zwang nickte.

«Na also.» Galgenberg vertiefte sich wieder in die Zeitung und blätterte demonstrativ raschelnd um. Das Geräusch des Regens machte Galgenbergs Schweigen noch tiefer und beklemmender.

In diese Stille hinein explodierte das Telefon. Kappe stieß vor Schreck beinahe den Apparat vom Schreibtisch. «Was ist es geworden?» Seine Stimme überschlug sich. «Ich meine, ist es ein Junge oder ein Mädchen?» Kappe schaute irritiert. «Wie? Ach so. Bis gleich.» Er ließ den Telefonhörer langsam auf die Gabel sinken.

«Mord am Potsdamer Platz», sagte er zu Galgenberg.

Der Potsdamer Platz war so spärlich beleuchtet, dass die drei Kriminalbeamten zunächst Mühe hatten, den Tatort zu finden. Doch dann sahen sie den Menschenauflauf. Soldaten der Volksmarinedivision hielten die Schaulustigen zurück.

Kniehase zündete die Acetylenlampen an. Sie spien zischend kaltes Licht aus. Kniehase begann zu photographieren. Kappe umrundete den Toten. Er lag auf dem Bauch, den linken Arm angewinkelt nach oben, den rechten seitlich in Schulterhöhe, die Hand zur Faust geballt. Wie ein Kind, dachte Kappe. Wie ein Kind, das einfach umgeschubst wurde. Das rechte Auge war offen und starrte mit einem Ausdruck grenzenloser Überraschung in den bewölkten Himmel. Das linke Auge existierte nicht mehr. Blut hatte sich kreisförmig um den Kopf des Toten ausgebreitet. Die Lampen verwandelten es in einen Heiligenschein aus Mennige. Das Blut war noch nicht geronnen.

«Galgenberg, würden Sie bitte die Schaulustigen befragen?» Galgenberg zog wortlos ab. Die Regentropfen auf den Kleidern und den blutverschmierten Haaren des Toten funkelten im Licht der Lampen wie Diamanten. Schließlich packte Kniehase seine Photoausrüstung ein. Dann begann er, den Toten zu untersuchen. Er sah Kappe an. «Genickschuss. Austritt des Geschosses durch das linke Auge.»

«Und die Waffe?»

«Nicht bei der Leiche.»

«Würden Sie bitte nach der Waffe suchen?» Kappe deutete auf zwei junge Volksmarinesoldaten. «Nur mit Handschuhen anfassen, wenn Sie sie finden.» Die Soldaten traten salutierend ab.

Ein anderer Soldat kam auf Kappe zu. In der Hand hielt er einen Hut. «Weggerollt», sagte er und übergab ihn Kappe.

Kappe drehte den Hut um und las das Etikett. «Haben Sie den Mörder gesehen?» Aus dem Augenwinkel beobachtete Kappe, wie Kniehase sich an der rechten Hand des Toten zu schaffen machte.

«Bedaure. Haben den Schuss gehört, sofort angehalten und den Tatort gesichert. Täter muss bereits weg gewesen sein.»

«Wann war das?»

«16.30 Uhr.»

Kniehase kam zu Kappe. Ein zusammengeknüllter Stofffetzen klemmte in seiner Pinzette. Er war blutrot. Kappe bedankte sich bei dem Soldaten. Er ging mit Kniehase zu dem Polizeiklapptisch und nahm seine eigene Pinzette aus seinem Etui. Vorsichtig entrollten sie den Stoff.

«Und? Schon stolzer Vater?»

«Als die Meldung reinkam, war ich’s noch nicht.»

«Sein Sie froh. So einfach ist das nicht.»

«Na, Sie machen mir Mut.»

Der Stoff lag nun ausgerollt vor ihnen. Es war eine Armbinde.

Arbeiterrat stand darauf.

«Es lebe die Revolution», sagte Kniehase.

«Das war sicher nicht seine.»

«Stimmt. Nicht bei der Kledage.»

Kappe gab ihm den Hut. Kniehase pfiff durch die Zähne.

«Noch nobler, als ich dachte.»

Beide wandten sich wieder dem Toten zu. Kappe betrachtete den gutgeschnittenen Mantel mit dem Pelzkragen, die handgefertigten Schuhe. Was im Leben teuer gewesen war und auch so ausgesehen hatte, wirkte nun wie Lumpen. «Merkwürdig, wie der Tod alles klein und armselig macht.»

«Jetzt werden Sie aber philosophisch.»

«Wissen wir, wer es ist?»

«Noch nicht.» Kniehase schüttelte ein kleines Asservatendöschen aus Metall. Es klapperte. «Aber sein Siegelring wird es uns verraten.»

In diesem Moment knallte Galgenberg sein Protokollheft auf den Tisch. «Die drei Affen.» Kappe sah ihn verständnislos an. Galgenberg verdrehte die Augen. «Nüscht jesehen, nüscht jehört, nüscht zu sagen.»

«So weit, so schlecht also. Kniehase, sind Sie durch mit dem Tatort?»

Kniehase nickte.

«Galgenberg, Sie haben alles aufgenommen? Auch die Personalien?»

«Ick bin zwar bei weitem nich so schlau wie der Herr Kommissar, aber die Grundzüje beherrsch ick.»

Kappe seufzte. Er ordnete an, dass der Leichnam ins Leichenschauhaus transportiert werden würde. Die Soldaten hatten die Waffe nicht gefunden. Sie würden am nächsten Tag zusammen mit den Schutzleuten des Reviers noch einmal suchen müssen.

Kurz bevor sie losfuhren, blieb Kappe stehen. Er schaute sich um. Sein Blick fing sich an einer stuckverzierten Prunkfassade.

«Sehr gut», murmelte er. Er wandte sich zu seinen Kollegen. «Kniehase, Sie fahren mit der Leiche zum Leichenschauhaus. Aber vorher geben Sie mir den Ring.» Kniehase übergab ihm das Metallkästchen. «Galgenberg, Sie kommen mit mir.»

«Und wohin?»

«Ins Hotel.»

«Na, vielen Dank auch.»

Kappe ignorierte ihn und stapfte los.

Eine halbe Stunde später tasteten sich Kappe und Galgenberg die dunkle Bellevuestraße entlang. Auf dem Kemperplatz ließen sie den Roland, der schemenhaft wie ein Geist auf seinem Brunnen stand, rechts liegen und bogen links in die Tiergartenstraße ein. Zwischen alten Bäumen reihte sich Villa an Villa. Keiner von beiden sprach ein Wort. Es roch nach feuchtem Laub.

Im Hotel Kaiserhof hatte ihnen ein Portier, der so übertrieben zwischen Diskretion und Eilfertigkeit schwankte, dass Kappe fürchtete, der Mann würde sich noch um sich selbst winden und schließlich verknoten, das Adelshandbuch des Hauses übergeben. Kappe und Galgenberg hatten darin geblättert und anhand des Wappens auf dem Siegelring die Identität des Toten als die des Freiherrn von Brettin ermittelt. Ein zusätzlicher Blick in das Berliner Adressbuch hatte ihnen die Adresse in der Tiergartenstraße verraten, wo sie nun vor einem großen Grundstück standen, das von einer hohen Mauer umfasst war. Ein mächtiges, schmiedeeisernes Tor gab die Sicht auf ein zweistöckiges Stadtpalais frei, das weiß in der Mitte des Grundstücks schimmerte. Die monumentale Freitreppe, die in der Mitte des Hauses zum Eingang führte, zeigte, dass der Bau keines der neuen Häuser war, bei denen es Mode geworden war, die Eingänge an die Schmalseite zu legen. Außer dem Geräusch des Regens, der von den kahlen Ästen der großen Bäume tropfte, war es still. Galgenberg wollte die Hand zu dem Messingknopf der Klingel aus strecken, aber Kappe hielt ihn zurück. «Sie haben noch gar nicht gesagt, wie Sie die Sache sehen.»

«Wie soll ick det sehn? Roter bringt Reichen um die Ecke.» Kappe seufzte «Ja, so sieht das wohl aus.»

«Na dann.» Galgenberg drückte auf die Klingel.

Kurze Zeit später standen sie in einer großen Eingangshalle, von der mehrere Türen abgingen. Hinter einer von ihnen war der Diener, der sie hereingelassen hatte, verschwunden. Er hatte sie aufgefordert zu warten, bis Freifrau von Brettin bitten lasse. Kappe schaute sich um. Trotz ihrer Größe wirkte die Halle bedrückend. Braungoldene Tapeten mit großen Ornamenten gaben ihr einen dämmrigen Ton. Dunkle, schwere Möbel hockten wie missgelaunte große Tiere in den Ecken. Die Fenster waren mit Kaskaden von dunkelrotem Samt verhüllt. Vor ihnen welkten zwei Palmen in ihren hochglanzpolierten Messingtöpfen. Es müssen eben doch nicht alle ihre Metalle abgeben, dachte Kappe. Und frieren muss auch nicht jeder.

Es war warm. Zu warm, wie Kappe fand, der seit Wochen kaum freiwillig seinen Mantel auch nur aufgeknöpft hatte, ihn jetzt aber am liebsten ausgezogen hätte. Er merkte, wie der nasse Stoff in der Wärme unangenehm nach altem Hund zu riechen begann.

Kappe in seinem merkwürdig riechenden Mantel, den Hut in der Hand, stand da und schwitzte, als die Tür, hinter der der Diener verschwunden war, aufflog. Er hielt die Person, die ihnen entgegenkam, zunächst für einen Jungen. Ihre Haare waren kurz und in einer Art Jungenhaarschnitt geschnitten. Sie war schmal, mittelgroß und steckte in einem Overall, wie er ihn nur von Automobil-Monteuren kannte. Sie trug Stiefel. Erst als sie seine Hand schüttelte, bemerkte er, dass eine Frau vor ihm stand.

«Amelie von Brettin. Was gibt es?» Kappe war perplex.

«Freifrau, wir müssen Ihnen leider …»

«Verkneifen Sie sich die Formalitäten! Frau von Brettin reicht völlig», unterbrach sie ihn.

«Ihr Herr Jemahl wurde tot auf dem Potsdamer Platz aufjefunden, Frau von Brettin», sagte Galgenberg ohne jedes Feingefühl. Kappe hätte ihn ohrfeigen mögen.

Amelie von Brettin verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Daumen massierten unbewusst ihre Armbeugen. «Wie ist das passiert?», fragte sie. Ihre Stimme war ruhig.

«Er ist erschossen worden», sagte Kappe. «Mein Beileid.»

«Werte Amelie, das ist ja furchtbar!», sagte eine Stimme, die sich anhörte, als würde jemand durch die Tülle einer Gießkanne sprechen. Der zu der Stimme gehörige Mann war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Er trug eine graue Uniform, deren Brust furniert mit Orden war. Er war drahtig und kleiner als Kappe, hielt sich aber so gerade, dass seine mangelnde Körpergröße niemandem auffiel. Kappe sah die geflochtenen Schulterstücke mit den zwei Sternen. «General …?»

«Von Tronten. Und das hier», er zeigte auf einen zweiten Mann, «ist Glombigk.»

Glombigk war anderthalb Köpfe größer als der General. Unter seinem maßgeschneiderten Anzug, an dessen Revers ein Eisernes Kreuz am weißen Bande hing, zeichnete sich ein wohlgenährter Körper ab. Er war glattrasiert und hatte ein weiches Gesicht. «Adolf Glombigk.» Seine Stimme war so weich wie sein Gesicht. Er schüttelte Kappe die Hand. Kappe sah ihm in die Augen, die im Gegensatz zu Gesicht und Stimme überraschend hart waren.

Amelie von Brettin kniff unwillig die Augen zusammen.

«Wieso sind Sie beide hier?»

«Wir waren um halb fünf mit Heinrich verabredet», sagte der General.

«Und da er es manchmal nicht so genau nimmt mit der Pünktlichkeit, haben wir hier in der Bibliothek gewartet.» Adolf Glombigks Stimme hatte einen entschuldigenden Ton angenommen.

«Da Heinrich nicht mehr kommt, können Sie beide ja nun gehen.»

«Aber Amelie, vielleicht brauchen Sie unseren Beistand. Oder die Herren von der Polizei unsere Hilfe», sagte der General.

«Mit Sicherheit nicht.» Ihre Stimme war abweisend. «Aber wenn die Kommissare Fragen an Sie haben …?» Sie sah Kappe und Galgenberg an.

«Wenn wir dürfen.»

«Bitte.» Sie wandte sich an den Diener, der unsicher im Raum stand. «Christoph, führen Sie die Herren wieder in die Bibliothek. Und wenn Sie etwas von mir wollen, sagen Sie Christoph Bescheid.» Der letzte Satz hatte Kappe gegolten. Amelie von Brettin drehte sich auf dem Absatz herum und verschwand in der Tür, aus der sie auch gekommen war.

Die Befragung in der Bibliothek brachte nicht viel Neues, obwohl die Herren von Tronten und Glombigk bereitwillig Auskunft gaben. Sie gaben sich als langjährige Freunde des Hausherrn zu erkennen, die sich mit ihm zu einem Glas Cognac und einer Partie Billard verabredet und mittlerweile ungeduldig auf ihn gewartet hatten. Man hatte bereits Visitenkarten ausgetauscht und war bei der Verabschiedung, als Glombigk noch eine Frage äußerte. «Glauben Sie, dass der Mord etwas mit seinem Beruf zu tun hatte?»

«Seinem Beruf?»

«Na, dem Mann gehört der Reichskurier. Ach, was sage ich: Er ist der Reichskurier », tönte der General. «Wussten Sie das nicht?»

Kappe warf Galgenberg, der in das knisternde Kaminfeuer starrte, als ob es dort einen wichtigen Hinweis auf den Täter geben würde, einen Seitenblick zu. Er war sich sicher, dass Galgenberg die ganze Zeit gewusst hatte, wer Heinrich von Brettin war.

«Wir ermitteln in alle Richtungen», sagte Kappe ausweichend.

«Ich glaube ja, dass die sozialistische Richtung reicht», sagte Glombigk mit seiner Sofakissenstimme.

«Ganz Ihrer Meinung, lieber Glombigk», stimmte der General ihm zu. Er wandte sich an Kappe. «Gibt es noch Fragen?»

«Im Moment nicht. Wir melden uns.»

«Jederzeit, die Herren. Jederzeit.»

Hände wurden geschüttelt, und Glombigk und von Tronten gingen.

Selbst wenn er gewollt hätte, Kappe hatte keine Gelegenheit, Galgenberg anzusprechen, denn der Diener stand sofort wieder da und wollte wissen, ob sie noch Fragen an die Freifrau hätten. Kappe wollte sie noch einmal sprechen. Vorher fragte er jedoch den Diener, wo sie sich den Nachmittag über aufgehalten hatte.

«Sie war hier. Wir haben für Johannisthal gepackt.» Der Diener führte sie in einen kleinen Salon, wo Amelie von Brettin wartete. Kappe fand, dass sie irgendwie entspannter aussah als vorhin.

«Was machen Sie in Johannisthal?», fragte Kappe sie.

«Fliegen. Jetzt, wo Frieden ist, kann ich endlich wieder fliegen.» Sie lächelte.

«Wir würden gerne das Arbeitszimmer des Freiherrn sehen. Wäre das möglich?»

Amelie von Brettin führte sie selbst zu dem Zimmer, betrat es aber nicht, sondern blieb mit verschränkten Armen in der Tür stehen.

Hindenburg und Wilhelm II. sahen aus ihren Ölgemälden auf den Schreibtisch Heinrich von Brettins herab. Kappe las den Entwurf zu dem Kommentar für den nächsten Tag. Von Schandfrieden und Verrat war die Rede. Und von einem Aufstand der anständigen Preußen, dessen es bedurfte, um das Regime der sozialistischen Vaterlandsverräter hinwegzufegen. Heinrich von Brettin forderte Blut. Das Wort Novemberverbrecher stand als Überschrift über allem. Kappe schüttelte den Kopf. «Und so etwas lesen Sie?», fragte er leise.

«Na und?» Galgenberg gab sich verächtlich.

Amelie von Brettin trat nun doch in das Zimmer. Sie nahm den Entwurf und überflog ihn. «Von Brettin hat gerne gezündelt.» Sie legte die Papiere wieder auf den Tisch. «Schade, dass das schon im Druck ist.»

Kappe überlegte. «Bedeutet das auch, dass in der Redaktion niemand auffällt, dass er tot ist?»

«Bis morgen Nachmittag nicht.»

Das gab ihnen mehr Zeit, bevor der öffentliche Druck losging.

«Ich weiß, es ist viel verlangt, aber würden Sie bis morgen darüber Stillschweigen bewahren?»

«Wenn es hilft, den Täter zu finden.»

«Gut. Ich glaube, wir sind dann erst mal fertig.»

Nachdem Kappe sich die Johannisthaler Adresse Amelie von Brettins hatte geben lassen, verließen sie die Villa und gingen zurück zum Potsdamer Platz. Der Regen hatte aufgehört. Kappe war sauer. Galgenberg sabotierte mit seinem Verhalten nicht nur ihn, sondern auch die Ermittlungen. Aber er haderte noch mit sich, wie er ihn am besten darauf ansprechen sollte.

Der Eingang zum U-Bahnhof Leipziger Platz tauchte vor ihnen auf. Galgenberg machte Anstalten, wortlos darin zu verschwinden. Kappe nahm seinen ganzen Mut zusammen und hielt ihn fest. «Warum haben Sie mir nicht erzählt, dass von Brettin den Reichskurier macht?»

Galgenberg zuckte mit den Schultern. «Sie haben’s ja auch ohne mich rausjefunden.» Er machte sich los.

«Und wo wollen Sie jetzt so einfach hin?»

«In die Charité.»

«Was wollen Sie denn da?»

«Meine Hilde liegt da seit drei Wochen mit der Grippe», sagte Galgenberg und lief die Treppe hinunter.

Kappe sah ihm nach, bis er ihn aus den Augen verlor. Hilde war Galgenbergs vierzehnjährige Tochter. Er fühlte sich, als habe er eine Ohrfeige bekommen. Er wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Galgenberg außer seinem Groll auch noch Probleme in seiner Familie haben könnte. Er begann einfach zu laufen, tauchte unter in dem Meer von heimkehrenden Soldaten, Glücksrittern und Frauen, die von der Kartoffelnachlese aus dem Umland kamen und nun erschöpft ihre paar dürftigen Fundstücke nach Hause trugen. Er wusste nicht, wie er mit Galgenberg umgehen sollte. Dass er ihn in Zeiten wie diesen nicht nach seiner Familie gefragt hatte, ließ ihn vor Scham fast in den Boden versinken. Kein Wunder, dass er ver bittert war. Und nun gefährdete Galgenbergs persönliches Leid, gemischt mit seiner Verbitterung, die Ermittlungen. Kappe fühlte sich völlig hilflos. Es gab niemanden, mit dem er über Galgenbergs Verhalten reden konnte, ohne den Kollegen in eine prekäre Situation zu bringen. Und das wollte er nicht. Jetzt erst recht nicht. Kappe atmete tief. Es gab keine Lösung. Jedenfalls keine einfache. Er würde abwarten, wie sich die Sache entwickelte. Früher hätte er gerne mit Galgenberg den Fall diskutiert, mit ihm über Amelie von Brettin gesprochen - eine echte Nonkonformistin. Kappe fand sie irritierend.

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22 декабря 2023
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9783955520045
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