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Ernährung als Lebensstil und „mit Haltung“

Das gesteigerte Interesse an Ernährung und gesundheitlichen Zusammenhängen führt bei einem Teil der Bevölkerung zu einem bewussteren Umgang und auch einer Experimentierlust mit der eigenen Ernährung. Eine wachsende Zahl an Menschen wählt zeitweise oder langfristig eine alternative Ernährungsform mit unterschiedlichen Konzepten und Begründungen: In Deutschland wird ihre Zahl auf 11 bis 15 Millionen geschätzt, also immerhin 13 bis 18 Prozent der Bevölkerung. Neben Vollwert-Ernährung, Trennkost, Paleo-, makrobiotischer oder ayurvedischer Ernährung macht den größten Anteil die vegetarische und vegane Ernährung aus.63 Oft sind diese Ernährungsformen zugleich mit einem umfassenderen Lebensstil verbunden, bei dem sich bestimmte Gesundheitsrituale anschließen oder beispielsweise auch bei der Kleidung auf tierische Bestandteile verzichtet wird.

Gemüse, Obst, Milchprodukte und Fleisch aus der Region, ökologisch hergestellte Produkte aus artgerechter Tierhaltung und entsprechende Gütesiegel: Für immer mehr Menschen ist ihre Ernährung nicht nur eine Frage von Gesundheit und Geschmack, sondern drückt auch eine Haltung aus. Der Anteil der Verbraucherinnen und Verbraucher mit „umwelt- und sozialethischer Konsumhaltung“ ist zwischen 2007 und 2015 um rund ein Viertel gestiegen.64 Beim Einkauf berücksichtigen sie die Auswirkungen der Lebensmittelproduktion auf die Umwelt, soziale Bedingungen und die Tierhaltung.

Zum einen steigt die Nachfrage nach entsprechenden Nahrungsmitteln, bei deren Produktion Schadstoffe oder Gentechnik, Artensterben oder Treibhausgasemissionen vermieden werden. 2001 wurde in Deutschland das staatliche Biosiegel eingeführt – 2019 setzte der deutsche Handel schon fast 12 Milliarden Euro mit Bio-Lebensmitteln um.65 Innerhalb von zehn Jahren hat sich der Umsatz verdoppelt, mittlerweile sind Bio-Produkte in den Discountern angekommen.

Zum anderen verzeichnen Lebensmittel aus „fairem Handel“ ein konstantes Wachstum: 2019 wurden in Deutschland Produkte mit dem Fairtrade-Siegel im Wert von rund 2 Milliarden Euro konsumiert, ein Viertel mehr als im Vorjahr.66 Konsumentinnen und Konsumenten wenden sich damit gegen Missstände bei den Produktionsbedingungen – sei es in ausländischen Textilfirmen oder auch in hiesigen Schlachtbetrieben.

Schließlich haben Phänomene wie BSE, Dioxin in Eiern oder Hormone in der Tiermast Verbraucherinnen und Verbraucher für die Auswirkungen der Massentierhaltung sensibilisiert. Zunehmend werden Fragen der Tierhaltung diskutiert – vom Töten männlicher Legehennenküken über die betäubungslose Ferkelkastration bis zu Tiertransporten quer durch Europa.

Vegetarismus & Veganismus

Tendenziell sinkt der Fleischkonsum in Deutschland: Immer mehr Menschen essen weniger Fleisch oder verzichten sogar ganz darauf. Zwar lag der durchschnittliche Fleischverzehr im Jahr 2019 noch bei fast 60 Kilogramm pro Kopf – zusammen mit dem Verbrauch für Tierfutter, industrieller Verwertung und Produktverlusten sogar bei knapp 88 Kilogramm.67 Gleichzeitig liegt eine Ernährung ohne Fleisch oder sogar gänzlich ohne tierische Produkte im Trend: Laut Marktforschungsinstituten sollen sich in Deutschland derzeit knapp acht Millionen Menschen vegetarisch ernähren, 1,3 Millionen vegan.68 In den meisten Erhebungen liegt das Verhältnis von Frauen und Männern bei 3:269, unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist der Anteil, der vegetarisch oder vegan lebt, am höchsten. Seit 2008 nimmt der Umsatz an Fleischersatzprodukten jedes Jahr um rund 30 Prozent zu70, und die Nachfrage nach pflanzlichen Fleisch- oder Milchalternativen wird wohl auch in Zukunft weiter steigen. Industrie und Werbung greifen die Entwicklung dankbar auf: Sogar Produkte, die von Natur aus ohne tierische Bestandteile auskommen, werden teilweise als vegetarisch vermarktet.

Für die vegetarische und vegane Ernährungsweise werden sowohl gesundheitliche Gründe genannt als auch ethische Argumente wie Umweltschutz, der schonende Umgang mit Ressourcen oder der Wunsch, Tierleid zu vermeiden. Gerade in Großstädten hat sich vielerorts eine vegane Szene entwickelt mit entsprechenden Lebensmittel- und Modeläden, Cafés und Restaurants.

Wichtig ist – wie bei jeder anderen Ernährungsform auch –, die Nährstoffversorgung zu berücksichtigen, um nicht keine Mangelzustände und dadurch Heißhungergefühle auszulösen. Hat jemand allerdings ohnehin eine Essproblematik und möchte sein Essverhalten stark kontrollieren, ist Vorsicht geboten bei einem Umstieg auf eine Ernährungsform, die sehr viele Nahrungsmittel ausschließt.

Fasten

Angesichts des Überangebots in unserer Wohlstandsgesellschaft kann der Wunsch nach Reduktion oder sogar Abstinenz entstehen. Vom zeitweiligen Verzicht auf feste Nahrung erhoffen sich Fastende eine seelische oder körperliche Reinigung, eine Lebensstilveränderung oder eine Gewichtsabnahme.

Nicht nur in religiös geprägten Fastenzeiten streichen sie dafür phasenweise Fleisch, Süßigkeiten oder Alkohol von ihrem Speiseplan, üben digitale Enthaltsamkeit oder entrümpeln ihr Zuhause. Statt immer mehr zu konsumieren, entledigen sie sich zumindest zeitweise bestimmter Genussmittel. Sie wünschen sich dadurch eine Art Entgiftung – so werden unter dem Label „Detox“ wiederum alle möglichen Produkte beworben.

Im Unterschied zum klassischen Heilfasten – bei dem für einen Zeitraum von einigen Tagen oder Wochen auf feste Nahrung verzichtet wird –, wird seit einiger Zeit außerdem das so genannte Intervallfasten propagiert, bei dem nur einige Stunden oder einzelne Tage gefastet wird. Längere Pausen zwischen den Mahlzeiten können dem Körper guttun und ein besseres Gefühl für Hunger und Sättigung vermitteln. Ein bereits gestörtes Essverhalten kann durch radikales Fasten allerdings – ähnlich wie bei einer Diät – ins Gegenteil umschlagen oder unkontrollierte Heißhungerattacken auslösen. Daher stellt sich beim Fasten immer die Frage nach der Motivation: Es kann als Zeit der geistigen und körperlichen Selbstbesinnung dienen – unter Umständen aber auch dafür, Abnehmwünsche zu erfüllen, Tendenzen zu einer Essstörung zu verschleiern und diese damit im schlimmsten Fall noch verstärken.

Lebensmittelunverträglichkeiten

Der Begriff der Lebensmittelunverträglichkeiten umfasst Allergien (z. B. gegen Erdnüsse), Intoleranzen (wie bei Laktose oder Gluten), aber auch Überempfindlichkeitsreaktionen, etwa gegenüber bestimmten Zusatzstoffen. Diese Reaktionen werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft vermischt oder verwechselt. Zum Vergleich: Etwa 20 Prozent der Erwachsenen in den Industrieländern berichten über Unverträglichkeitsreaktionen, Lebensmittelallergien treten aber nur bei 1 bis 5 Prozent auf.71

Die Häufigkeit von Unverträglichkeiten und Allergien nimmt weltweit zu. Laut der Deutschen Zöliakie Gesellschaft e. V. ging man bis vor einigen Jahren davon aus, dass im Durchschnitt etwa einer von 1000 bis 2000 Deutschen von Zöliakie (einer Entzündung des Darms durch das in manchen Getreidesorten enthaltene Klebereiweiß Gluten) betroffen ist, neuere Untersuchungen zeigen, dass die Häufigkeit tatsächlich etwa bei 1:100 liegt. Allerdings liegt dabei nur bei 10 bis 20 Prozent der Betroffenen das Vollbild einer Zöliakie vor.72

Immer wieder allerdings nehmen Menschen nur an, dass sie an einer Unverträglichkeit leiden – etwa weil sie diffuse Symptome nach dem Essen oder Verdauungsbeschwerden wahrnehmen. Sie kaufen daher vorsorglich gluten- oder laktosefreie Produkte, weil sie diese für generell gesünder und besser halten. Auch aus diesem Grund stellen Lebensmittel, die auf bestimmte Inhaltsstoffe verzichten, einen Wachstumsmarkt dar: Die weltweit größte Ernährungsmesse Anuga erklärte „Frei von …“ zum Trendthema und zur stärksten Marktkategorie 2019. Bereits ein Jahr zuvor trug fast ein Viertel aller neu eingeführten Lebensmittel einen entsprechenden Hinweis.73

Während allergenfreie Produkte für Menschen mit nachgewiesenen Allergien natürlich existenziell sind, ist es gesundheitlich unsinnig, die Ernährung ohne eine klare medizinische Diagnose umzustellen. Gleichzeitig belastet es den Geldbeutel, denn die Spezialprodukte sind in der Regel deutlich teurer.

Manchmal kann sich hinter einer vermeintlichen Unverträglichkeit auch eine beginnende Essstörung verbergen: Die Selbstdiagnose „Intoleranz“ (ohne ärztliche Bestätigung) bestärkt diejenigen, die ihr Essverhalten ohnehin kontrollieren möchten, sich intensiv mit dem Thema Ernährung zu beschäftigen. Gleichzeitig bietet es ihnen eine willkommene Gelegenheit, auch nach außen hin zu vertreten, dass diese oder jene Lebensmittel für sie schädlich sind – der Körper „verbietet“ diese ja geradezu. Auf diese Weise kann eine Essproblematik versteckt bzw. verleugnet werden – vor anderen oder sogar vor sich selbst.

Essen als „Ersatzreligion“

Während unser Alltag komplexer und fordernder wird, nimmt Einsamkeit auch unter jüngeren Menschen zu. Der Wunsch nach sozialer Identität und Gemeinschaft, nach Einkehr und Sinnhaftigkeit wurde früher oft vom Glauben und einer Gemeinde abgedeckt. Heute bedienen andere Lebensbereiche diese Bedürfnisse. Statt in die Kirche gehen wir vielleicht sonntags ins Yoga-Studio, um Ruhe und Besinnung zu finden. Über einen bestimmten Lebensstil lässt sich Anschluss an eine Community finden. Coaching, Persönlichkeitsentwicklung und Ernährungsberatung können eine Seelsorgefunktion einnehmen. Auf diese Weise bekommen die Bereiche Gesundheit, Sport und Ernährung einen sehr hohen Stellenwert – und können im Extrem zu einer Art „Ersatzreligion“ werden.

Wie sehr gerade das Thema Essen aufgeladen ist und mit moralischen Aspekten überhöht wird, zeigt sich schon in der Sprache: Wenn bestimmte Nahrungsmittel „tabu“ sind, zwischen „gutem“ und „schlechtem“ Essen unterschieden wird, man „in Versuchung“ gerät oder „sündigt“. Beim Übertreten von Ernährungsgeboten entstehen Schuldgefühle, gegen „Völlerei“ und Essanfälle hilft Enthaltsamkeit. Schwierig wird es, wenn die Ernährungsreligion zu einer Art „Fundamentalismus“ führt und Andersdenkende missioniert statt toleriert werden.

Wenn Menschen dafür empfänglich sind, kann der gesundheitliche Aspekt beim Essen für sie zu einer Art Heilsversprechen werden – wer sich möglichst rein und „korrekt“ ernährt, den erwarten Gesundheit, Glück und ein langes Leben. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass ein gesundes und erfülltes Leben von vielen Faktoren abhängt.

Natürlich können ernährungsbedingte Krankheiten über eine andere Ernährung oft positiv beeinflusst oder im besten Fall sogar geheilt werden. Und selbstverständlich ist es sinnvoll, sich mit den Inhalten und Produktionsbedingungen unserer Nahrung auseinanderzusetzen. Allerdings kann sich unter bestimmten Umständen – wie schon zuvor beschrieben – eine übermäßige Beschäftigung mit der Ernährung auch negativ auf die körperliche und seelische Gesundheit auswirken. Aus einer sehr restriktiven Ernährungsform kann sich eine Essstörung entwickeln, wenn sie auf bestimmte Lebensumstände und eine entsprechende Disposition trifft. Ein ohnehin schon problematisches Essverhalten kann sich durch noch so gut gemeinte Ausschlusskriterien und eine entsprechende Ernährungsumstellung verstärken. Insbesondere Menschen, die Gewicht verlieren wollen, sind empfänglich für eine neue Art der Essstörung: die „Orthorexie“, das zwanghaft „richtige“ Essen, worauf wir in Kapitel 5 noch zu sprechen kommen.

Essen als Identitätsfaktor

Schlachtplatte oder Veggie-Burger? Donut oder Bananenbrot? Krautsalat aus dem Plastikeimer oder Buddha Bowl? Was sich auf unserem Teller befindet, kann zeigen, wer wir sind oder zu welcher Gruppe wir gehören möchten. Was wir essen, was wir kaufen, wie wir unser Leben gestalten – all das ist auch Ausdruck unserer Individualität. Mit der wachsenden Vielfalt an Produkten, Nahrungsmitteln und Ernährungsstilen haben wir mehr Wahlmöglichkeiten denn je und können unsere Ernährung im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten, nach persönlichen Vorlieben und eigenen Kriterien zusammenstellen. Unsere Ernährung kann Lebensqualität ausdrücken, sie kann der Profilierung oder auch der Abgrenzung dienen und identitätsstiftend wirken – sei es durch besondere Erlebnisqualitäten, sei es über dazugehörige Prestigeobjekte wie exklusive Küchenmaschinen oder den Luxusgrill im Garten, sei es in Verbindung mit einem bestimmten Lebensstil oder einer ethischen Haltung. Das Essen hat neben seiner grundlegenden Funktion, unseren Körper zu nähren, damit noch viele weitere Bedeutungen für uns – und wird manchmal auch überfrachtet.

Nicht nur bei der Ernährung ist unser Leben durch ein Überangebot bestimmt. Daneben lässt sich das exemplarisch in drei weiteren Bereichen – Konsum, Information, Mediennutzung – beobachten, die uns durch die angebotenen Mengen und Verfügbarkeiten überfordern können. Hier müssen wir ebenfalls ein individuelles Maß finden, das allein bestimmt sein sollte durch unsere eigene Aufnahmefähigkeit und die eigenen Grenzen. Es ist notwendig, dass wir einen bewussten Umgang finden mit dem, was wir uns zuführen – nicht nur für das, was wir uns an Essen einverleiben, sondern auch, was unseren Konsum oder die „geistige Nahrung“ betrifft. Denn wenn wir uns im Angebot verlieren, kann umso mehr der Wunsch nach klaren Vorgaben, Anwendungsempfehlungen oder Beschränkungen von außen entstehen. Das aber kann immer nur ein Hilfskonstrukt sein und, wie wir noch sehen werden, im Falle des Essens ein problematisches Essverhalten verstärken.

KONSUM

Während ein Haushalt in Deutschland noch vor hundert Jahren durchschnittlich 180 Gegenstände besaß, sind es heute durch industrielle Fertigung und Billigproduktion rund 10 000.74 Früher wurde der Konsum beschränkt durch ein begrenztes Sortiment, höhere Preise und feste Ladenöffnungszeiten – heute ermöglichen uns nicht nur Einkaufspassagen und Discounter, sondern auch Online-Shops, rund um die Uhr noch mehr zu konsumieren. Auf allen medialen Kanälen werden wir mit Werbebotschaften konfrontiert, oft personalisiert zugeschnitten auf unseren vermeintlichen Bedarf.

Beim „Shoppen“ schüttet das Gehirn Dopamin aus und belohnt Lust- oder Frustkäufe, ähnlich wie beim Konsum von Alkohol oder Drogen. Immerhin 39 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer neigen zu unkontrolliertem Kaufen, so Franz Eidenbenz, Psychologe am Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte Radix in Zürich.75 Oft hält die Freude am „Kaufrausch“ allerdings nur kurz an. Zum einen beantwortet der Konsum selten nachhaltig reale Bedürfnisse, wie den Wunsch, die Stimmung langfristig zu heben oder sich etwas Gutes zu tun. Zum anderen kann auch das Überangebot an Waren Stress auslösen. Wurden Gegenstände früher mehrfach repariert, müssen wir heute lernen, uns nicht in der Flut von Billigartikeln zu verlieren, deren Reparatur nicht möglich ist oder sich nicht lohnt. Dafür erklären wiederum Regale voller Ratgeber, wie wir mit Minimalismus oder bestimmten Aufräumtechniken der Überfülle Herr bzw. Herrin werden.

Ob beim Konsum, beim Energieverbrauch, in Klimafragen, beim Reisen oder bei der Tierhaltung – in allen möglichen Lebensbereichen stellen Menschen fest, dass sich ohne eine Beschränkung auf ein gesundes Maß negative Konsequenzen und Schäden nicht vermeiden lassen. Immer stärker bestimmen Themen wie Nachhaltigkeit, faire Produktionsbedingungen und die Energiewende daher persönliche Kaufentscheidungen.

INFORMATION

Nicht nur unser Körper und unser Geldbeutel, auch unser Gehirn wird mit einem ständigen Überangebot konfrontiert: Permanent bricht die Weltlage medial in unser Leben ein, was eine starke Sogwirkung ausübt. Der Grat zwischen einem Gut-informiert-Sein und der Überforderung durch andauernde „News-Alerts“ ist jedoch schmal. Mit der Informationsflut sinkt außerdem die kollektive Aufmerksamkeit – so halten sich Twitter-Hashtags zum Beispiel immer kürzer innerhalb der Top 50-Liste. Wissenschaftler nennen das Phänomen „Soziale Beschleunigung“.76 Das bedeutet: Wir bekommen immer mehr, können es aber immer schlechter nutzen.

Digitalisierung und Vernetzung ermöglichen uns Zugang zu enormen Mengen an Informationen, die früher nur Fachleuten vorbehalten waren. Allerdings mangelt es oft noch an Fähigkeiten, diese einzuordnen und zu verwerten. Selbst „Digital Natives“ müssen lernen, mit dem Angebot umzugehen und das herauszufiltern, was für ihren Bedarf brauchbar, seriös und qualitativ gut ist.

Daneben sind wir mit negativen Entwicklungen wie Fehlinformationen, Verschwörungstheorien oder hasserfüllten Kommentaren in den Sozialen Medien konfrontiert. Als Gesellschaft müssen wir neue Regeln für den Umgang damit schaffen – gleichzeitig ist jeder Einzelne gefordert, sich einen persönlichen Filter zuzulegen.

Wenn wir vor dem Schlafengehen noch einmal alle Nachrichten durchscrollen, den düsteren Krimi und die neuesten Promi-Stories aufnehmen oder uns über Stunden mit sozialen Medien oder Serien beschäftigen, versucht unser Gehirn, all diese Informationen zu verarbeiten. Das kann zu einer Überlastung führen – ähnlich wie beim Verdauungsapparat.

MEDIENNUTZUNG

Seit wir über mobile Endgeräte nahezu durchgehend erreichbar sind, konkurrieren Anrufe, WhatsApp-Nachrichten, E-Mails, Tweets oder Instagram-Posts um unsere Aufmerksamkeit. Während sich Eltern darum sorgen, dass ihre Kinder zu viel mit dem Handy beschäftigt sind, lassen sie sich gleichzeitig oft selbst bei jedem Signalton ablenken. Das Abschalten funktioniert weder bei den Geräten noch im Kopf.

Sogar die kurzen Momente, die im Alltag der Besinnung dienen könnten – beim Warten an der Bushaltestelle, beim Essen – widmen wir immer öfter dem Smartphone. Die permanenten Reize unterbrechen aber nicht nur Handlungen und Gedanken, sondern auch die Verbindung zu uns selbst – was es schwerer macht, wirkliche Bedürfnisse wahrzunehmen. Angesichts der vielfältigen Kontakte und der medialen Überreizung müssen wir lernen zu entscheiden: Was ist für mich persönlich relevant? Was ist wert, gelesen, gepostet, geteilt zu werden? Welchen Einflüssen, Vorbildern und Botschaften will ich mich aussetzen?

Fazit: Sowohl bei möglichen Ernährungsentscheidungen als auch bei unserem Konsum oder unserer Mediennutzung müssen wir Verantwortung für uns selbst übernehmen. Weder das breite Angebot noch die leichte Verfügbarkeit von Lebensmitteln, Produkten oder Informationen sollte entscheidend sein – sondern unser ureigener Sensor für unsere Kapazitäten, für die Menge und Qualität dessen, was wir brauchen, konsumieren und „verdauen“ können.

3. LEBEN UNTER DRUCK


„Die Zeit rast immer schneller, im Gegenteil zur Bewegung von uns Menschen, die immer weniger wird, lassen wir uns kaum noch die Möglichkeit, in Ruhe unser Leben zu genießen, wollen wir doch stets und ständig informiert sein. Kein Wunder, wir befinden uns ja auch im Zeitalter der Information. Dass wir damit überfordert sind, zeigen die stark zunehmenden psychischen Krankheiten wie Angststörungen, Zwangskrankheiten, zu denen auch die Essstörungen gehören, Depressionen, schwere Erschöpfungszustände sowie Schlafstörungen.“ Petra Bracht/Claus Leitzmann („Klartext Ernährung“)77

DIE LEISTUNGSGESELLSCHAFT

Die rasanten Veränderungen unserer modernen Gesellschaft bieten uns neben der Fülle an Angeboten auch große Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten. Sie erfordern von uns allen eine hohe Anpassungsleistung. Immer wieder muss ein neuer Umgang mit dem Angebot, mit neuen Technologien und veränderten Strukturen gelernt werden. Wie in dem vorangestellten Zitat beschrieben, kommt zum Überangebot noch eine Beschleunigung in unserem Lebensstil. Das Prinzip unserer Leistungsgesellschaft – Leistung ist Arbeit durch Zeit – und eine zunehmende Überfrachtung erzeugen oft chronischen Stress, der sich auf unsere Gesundheit auswirkt – und unser Essverhalten betreffen kann.

Laut dem Gesundheitsreport der Techniker Krankenkasse 2019 empfinden zwei Drittel der Befragten ihr Arbeitspensum als zu hoch.78 Rund ein Drittel gab an, die Arbeit sei innerhalb des Vorjahres intensiver geworden: Durch Digitalisierung und technischen Wandel müssen neue Kenntnisse erworben werden. Außerdem wird die Arbeit als belastender empfunden, weil durch eine ständige Erreichbarkeit das Abschalten schwerer fällt und die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben verschwimmen.

Zu einer Verdichtung kommt es also auch im Arbeitsleben: Belastung, Menge und Geschwindigkeit bei der Arbeit nehmen zu, viele Bereiche sind von Zeitdruck, Termindichte und Multitasking geprägt. Nach einer DGB-Studie beklagt ein Viertel der befragten Beschäftigten in Deutschland, dass sie ihre Arbeitsmenge nicht mehr in der vorgesehenen Zeit bewältigen können, was häufig mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden ist.79 Zusätzlich tragen Fachkräftemangel und Personalknappheit zur Überlastung bei. Betroffene machen Überstunden, lassen Erholungspausen ausfallen und fühlen sich nach der Arbeit erschöpft.

So melden Krankenkassen, dass die Krankschreibungen aufgrund von psychischen Erkrankungen und Burnout in den letzten Jahrzehnten stark angestiegen sind – fast jeder sechste Fehltag von Beschäftigten geht darauf zurück.80

Daneben steigt vielfach auch der Druck im privaten Bereich: Sei es durch die Doppelbelastung mit Arbeit und Familienorganisation, Scheidungen oder die Pflege von Angehörigen, um nur einige Beispiele zu nennen. Daraus resultierende Konflikte und finanzielle Belastungen können gesundheitliche Probleme noch verstärken.

Zu den Anforderungen von außen kommen innere Anforderungen: Der Wunsch, Erwartungen von außen gerecht zu werden oder ein eigener hoher Perfektionsanspruch spornen zu noch mehr Anstrengung an. Schwierigkeiten, sich abzugrenzen oder Nein zu sagen, können Überforderung und Selbstzweifel noch verstärken.

Nicht wenige Menschen gründen ihre Identität und ihren Selbstwert aber gerade auf ihre Leistungsfähigkeit und ihren beruflichen Status. Ihr Selbstwertgefühl hängt stark von Erfolgserlebnissen und der Bestätigung von außen ab – wofür wiederum das Aussehen oft einen hohen Stellenwert einnimmt. Das zeigt auch die Tatsache, dass „der Wunsch nach beruflichem Erfolg“ vielfach als Grund für Schönheitsoperationen angegeben wird.81 Sobald an dieser Identität gerüttelt wird – etwa durch Misserfolge, Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Ruhestand – wird Ansehensverlust befürchtet.

1 531,18 ₽
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286 стр. 11 иллюстраций
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9783949104091
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