Читать книгу: «Das Hortensien-Grab», страница 3

Шрифт:

„Ja, ich denke schon.“

„Was ist dein Eindruck von Tüßling und den Nachbarn?“ Ob ihn der Junge verstand?

„Tüßling ist nicht übel. Die Leute sind nett, auch wenn sie sehr neugierig sind. Der Mann von nebenan ist komisch. Der meckert ohne Grund. Es macht Spaß ihn zu ärgern“, alle lachten, auch die Eltern. „Außerdem brennt in seinem Keller Licht, auch in der Nacht. Das kann ich von meinem Fenster aus sehen.“

„Kannst du mir das zeigen?“ Leo sah die Eltern an. „Natürlich nur, wenn Sie es erlauben.“

Frau Olschewski nickte. Warum auch nicht?

Leo folgte seinem Namensvetter ins Obergeschoss des kleinen, alten Hauses, das nach langer Zeit endlich wieder mit Leben gefüllt wurde. Sie betraten ein Zimmer, das eindeutig einem Jungen gehörte, aber das noch lange nicht fertig eingerichtet war. Der Junge ging ans Fenster und winkte Leo zu sich.

„Von hier aus kann man das Kellerfenster sehen. Es ist das in der Mitte.“

Leo machte ein Foto. Vor allem, um dem Jungen zu zeigen, dass er ihn ernst nahm.

„Lebt sonst noch jemand in dem Haus?“

„Nein, ich habe niemanden gesehen. Soll ich mal nachsehen? Ich bin klein, geschickt und sehr schnell.“

„Das glaube ich dir sofort. Trotzdem muss ich dein Angebot leider ablehnen, das ist viel zu gefährlich.“

„Ich fürchte mich nicht.“

Leo musste lachen, er mochte den kleinen Kerl.

„Schon vergessen, dass ich bei der Polizei bin? Wir haben da ganz andere Möglichkeiten.“

„Kannst du mir die zeigen?“

„Nein, das ist streng geheim. Vielen Dank, du hast mir sehr geholfen.“

„Soll ich mich für Sie umsehen? Ich falle weniger auf als Sie.“ Der Junge stand Leo genau gegenüber und die Größenunterschiede waren kaum zu übersehen. Während Leo mit 1,90 Meter fast alle überragte, schien der Wachstumsschub bei dem Jungen noch auf sich warten zu lassen, denn er war nur knapp 1,30 Meter.

„Nein, mach das lieber nicht, das könnte gefährlich werden. Überlass die Arbeit den Profis und mach das, was Jungs in deinem Alter so machen.“

„Darf ich mal die Pistole sehen? Nur ganz schnell!“

Leo zögerte, er konnte das Interesse des Kleinen aber gut verstehen. Er sah sich um und zog die Pistole aus dem Holster.

„Nicht anfassen!“

„Wow! Ist die geladen?“

„Selbstverständlich!“

Leo hörte ein Geräusch und steckte die Waffe wieder ein. Vor dem Zimmer erschien ein hochgewachsener junger Mann.

„Das ist nur mein blöder Bruder Luca-Luis!“

„Halt die Klappe, du Schwachkopf! Wer sind Sie?“

„Schwartz, Kripo Mühldorf“, stellte Leo sich vor. „Ist dir etwas aufgefallen?“

„Wozu und was soll mir aufgefallen sein?“, maulte Luca-Luis.

„Stell dich doch nicht so dumm! Du weißt genau, dass die Polizei wegen der Leiche im Pool hier ist“, raunzte Leo-Max seinen Bruder an.

„Ein Pool, der völlig sinnfrei ist! Hätte man auf mich gehört, wäre dort nie gegraben worden und alles wäre in bester Ordnung. Aber nein, Mama und du habt wieder euren Willen durchgesetzt, wie immer! Und was haben wir jetzt davon? Die Polizei ist im Haus! Und wäre das nicht schon genug, stehen wir mal wieder im Fokus aller Nachbarn. Ein toller Einstand! Wollten wir nicht aufs Land, damit wir hier in Ruhe und Frieden leben können? Das habt ihr richtig gut gemacht!“ Luca-Luis verschwand wieder in seinem Zimmer.

„Der ist ja richtig gut gelaunt“, sagte Leo und musste lachen.

„Luca ist immer so, das geht nicht gegen Sie.“

Hans langweilte sich, denn er musste sich nicht nur Erziehungstipps, sondern auch alte Kindergeschichten anhören. Entsprechend sauer war er auf Leo, da der ihn alleingelassen hatte.

„Endlich!“, maulte Hans, als Leo mit dem Jungen zurückkam.

„Was sollte das vorhin? Warum bist du mit dem Jungen gegangen und hast mich mit den Eltern allein gelassen?“

„Mir war danach.“

„Hat es sich wenigstens gelohnt?“

„Ich bin mir nicht sicher. Der ältere Sohn ist aufgetaucht.“

„Hat der etwas fallrelevantes aussagen können?“

„Nein. Er ist mürrisch und ein Klugscheißer, ein richtiger Teenager eben.“

„Was war mit dem Nachbarn?“

„Nichts.“ Leo wusste, dass er sich über den alleinstehenden Nachbarn Josef Hiermaier informieren würde.

„Lass das sein!“ Hans kannte Leo und wusste dessen Gesichtsausdruck richtig zu deuten.

„Was?“

„Gegen den Nachbarn liegt nichts vor, warum lässt du ihn nicht einfach in Ruhe?“

Leo wusste, dass er gegen Hans nicht ankam, und musste sich geschlagen geben.

„Das mache ich nur, um die Ermittlungen abzurunden.“

„Erzähl mir doch keinen Blödsinn! Du magst den kleinen Kerl und hast dich von ihm einlullen lassen! Ich würde vorschlagen, dass...“

Leo hörte nicht mehr zu. Für ihn stand sein Vorhaben fest und er würde sich auch von Hans nicht davon abbringen lassen. Während Hans sprach, sagte er nichts und nickte nur.

„Lass uns ins Büro gehen und die Aussagen auswerten. Fuchs dürfte in München eingetroffen sein. Mit seinen dortigen Beziehungen kommt er sicher wieder schnell an die Reihe. Mal sehen, mit wem wir es bei der Leiche zu tun haben.“

„Was ist los mit dir, Annette? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“ Die neunundzwanzigjährige Diana Nußbaumer hatte mit der Kollegin Annette Godau weitere Befragungen vorgenommen. Sie hatte nicht nur diejenigen berücksichtigt, die hier standen, sondern vor allem auch die wenigen, die zuhause geblieben waren. Während beide die Befragungen anfangs rasch abwickeln konnten, gestalteten sich einige selbst ernannte Zeugen als sehr schwierig. Es schien, als wären sie froh, sich endlich wieder mit jemanden unterhalten und sich mit anderen Dingen als dieser Pandemie beschäftigen zu können. Dann sah Annette ein Gesicht, das sie völlig aus der Bahn warf. Sie unterhielt sich gerade mit einem älteren Herrn mit einem fürchterlich bayerischen Akzent, den sie kaum verstand. Er bemühte sich redlich, aber das änderte nichts an der Unverständlichkeit. Annette sah das Gesicht in der Menge und hörte nicht mehr zu. Sie blieb wie angewurzelt stehen und suchte nach dem Mann, was wieder die schrecklichen Erinnerungen der Vergangenheit hervorholte. Nach dem ersten Schrecken hielt sie nur noch Ausschau nach diesem Gesicht. Dass sie wie der leibhaftige Tod aussah und jegliche Farbe aus ihrem Gesicht verschwunden war, bemerkte sie nicht. Und wenn, dann wäre es ihr egal.

„Annette? Was ist mit dir?“, drängte Diana, die sich ernsthaft Sorgen um die Kollegin machte.

Erst langsam kam Annette wieder zu sich.

„Alles in Ordnung“, murmelte sie und sah sich nach einem ruhigen Platz um, den es hier aber nicht gab. Jetzt, da die Leiche abtransportiert war, waren alle Augen auf die Kriminalbeamten gerichtet. Während sich Diana einer Frau zuwandte, die vermeintlich etwas zu Sagen hatte, versuchte Annette, sich zu beruhigen. Hatte sie einen Geist gesehen? Das konnte nicht Michael gewesen sein, das war einfach nicht möglich! Sie hatte mit ihm schon lange abgeschlossen und er konnte nicht wissen, wo sie jetzt arbeitete. Oder doch? Sie wischte den Gedanken beiseite und versuchte, an etwas anderes zu denken. Langsam wurde ihre Atmung flacher und sie konnte wieder klarer denken. Das war sicher nicht Michael, den sie gesehen hatte, das war einfach nicht möglich! Als Diana sich ihr zuwandte, brachte sie sogar schon ein Lächeln hervor.

„Nur der Kreislauf“, sagte Annette und Diana schien zufrieden.

„Kann ich verstehen, das Wetter spielt momentan verrückt.“ Im Wagen reichte ihr Diana ein Wasser, das sie dankend annahm. Schweigend fuhren sie ins Präsidium. Dass Diana ihr kein Wort glaubte, ahnte sie nicht.

3.

Während Friedrich Fuchs von seiner Freundin Lore Pfeiffer in der Münchner Pathologie erwartet wurde und nahtlos zu Doktor Schnabel durchgewunken wurde, traf Grünberger in Mühldorf ein. Er rief Braun an, der bereits ungeduldig wartete.

„Wo sind Sie?“, pflaumte Braun.

„In Mühldorf.“

„Fahren Sie zum KZ-Friedhof. Sie wissen, wo der ist?“

„Nein.“

„Dann finden Sie es raus. Ich warte dort.“

Grünberger war sauer. Was sollte der Mist? Er suchte im Navi nach dem KZ-Friedhof und fand ihn in der Ahamer Straße. Zum Glück musste er nicht weit fahren. Warum dieser ungewöhnliche Treffpunkt?

Der kleine Parkplatz war leer. Grünberger stellte seinen Sportwagen ab, stieg aus und hielt Ausschau nach Braun, den er schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Dann klingelte das Handy.

„Stehen Sie da nicht dumm herum! Gehen Sie in den Friedhof!“

„Was soll das? Wie...“ Weiter kam Grünberger nicht, die Verbindung wurde unterbrochen. Er musste der Anweisung folgen und öffnete das Eisentor dieses unwirklichen Ortes. Grünberger mochte keine Friedhöfe und machte sonst einen großen Bogen um sie. Im Vorbeigehen las er einen der Gedenksteine und hasste Braun regelrecht dafür, dass er sich das hier antun musste. Mühldorf war Grünberger nicht unbekannt, schließlich stammte seine Mutter von hier. Während den Ferien wurde er oft gezwungen, mindestens zwei Wochen bei Tante Irmi zu verbringen, die ihm immer unheimlich war. Das dustere, kleine Haus in der Probststraße war für ihn wie eine Höhle, aus der es kaum ein Entrinnen gab. Tante Irmi war zeitlebens eine Esoterikerin gewesen. Viele fragwürdige Gegenstände verstopften das Haus. Die Frau, die immer freundlich, aber distanziert zu ihm war, verstarb kurz nach seiner Mutter, weshalb er das hässliche Haus erbte. Er machte es schnell zu barer Münze, was sich als sehr schwierig erwies, denn niemand wollte den alten Kasten haben. Nachdem er mit dem Preis immer weiter nach unten ging, fand er endlich einen Käufer.

„Wo bleiben Sie denn! Hierher!“, unterbrach eine tiefe Stimme seine Gedanken. Erschrocken fuhr Grünberger zusammen und erkannte Braun, der in den zwei Jahren ziemlich dick geworden war.

„Was soll der Mist? Weshalb treffen wir uns hier?“

„Weil ich es so will!“ Braun war immer noch stinksauer. „Warum hilft man mir nicht? Sie haben mir versprochen...“

„Ja, das weiß ich doch! Aber auch ich bin weisungsgebunden, das Ganze ist schließlich nicht auf meinem Mist gewachsen. Verstehen Sie das denn nicht? Ich bin ein kleines Rädchen, das nicht viel zu Sagen hat!“

Braun sah Grünberger erschrocken an.

„Was machen Sie dann hier? Warum schickt man mir nicht jemanden, der mir helfen kann?“

„Sie haben mich missverstanden. Natürlich werde ich Ihnen helfen und deshalb bin ich hier. Auf der Fahrt hierher habe ich recherchiert. Die Leiche müsste in der Münchner Pathologie sein. Wie lange ist sie schon dort? Was schätzen Sie?“

„Als ich abgehauen bin, war sie noch in Tüßling. Sie kann nicht länger als zwei Stunden in München sein, eher weniger.“

„Dann haben wir noch nicht zu viel Zeit verloren, das ist gut. Ich kenne das Gedränge in der Pathologie, das kann dauern.“ Grünberger lächelte und rief die Nummer eines Kollegen an, der eng mit der Pathologie zusammenarbeitete. „Kannst du das für mich rausfinden? Das wäre super! Ich brauche nicht betonen, dass die Sache unter uns bleibt? – Natürlich hast du dafür etwas gut bei mir! – Melde dich, sobald du etwas für mich hast, ja?“

Braun hörte dem anschließenden Geplänkel nicht mehr zu. Er war einige Schritte gegangen und las die Inschriften einiger Grabsteine, die auf Hebräisch waren und die er nicht verstand. Dann war Grünberger endlich fertig.

„Mein Bekannter meldet sich“, freute der sich. Was sollte er sonst sagen? Er hatte keine Ahnung, was er hier eigentlich wollte, denn wirklich helfen konnte er dem Mann nicht. Dafür war er auch nicht der Richtige, dafür war Valentin Schober zuständig. Wiederholt versuchte Braun, den Mann zu erreichen. Wieder nur die Mailbox! Verdammter Mist!

Braun und Grünberger warteten ungeduldig. Beide gingen auf dem KZ-Friedhof ihre eigenen Wege, denn keiner ertrug die Nähe des anderen. Sie misstrauten sich, was unter den gegebenen Umständen verständlich war.

Eine Frau beobachtete die beiden. Sie wollte Blumen am Grab ihres Ahnen Nathan Gielczinski niederlegen, auch wenn ihr klar war, dass der Mann dort vermutlich nicht lag. Nach Kriegsende wurde das Massengrab am KZ des Mühldorfer Harts ausgehoben und die Leichen auf diesen und andere Friedhöfe verteilt. Wann und unter welchen Umständen Urgroßonkel Nathan ums Leben kam, war bis heute nicht wirklich geklärt worden, was die Familie lange Jahre sehr belastete. Sonja Wagner kannte nur die Geschichten rund um den Onkel, da sie damals noch nicht geboren war. Selbst ihre Mutter war zu der Zeit ein kleines Kind gewesen. Je älter Sonja wurde, desto ausgeschmückter und heroischer wurden die Erinnerungen rund um den Mann, der nicht nur Kriegsteilnehmer des Ersten Weltkrieges, sondern danach auch Polizist gewesen war, bevor die Nazis an die Macht kamen und damit sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde. Er konnte, wie sie selbst auch, seinen Mund nur schwer im Zaum halten und wurde 1934 verhaftet. Er war einer der Ersten, der nach Dachau deportiert wurde. Onkel Nathan war gesund und kräftig, weshalb er gerne für Arbeitseinsätze eingeteilt wurde. Deshalb verschlug es ihn in verschiedene KZs und schließlich nach Mühldorf. Dort fand er den Tod.

Auch wenn fast sicher war, dass Onkel Nathan nicht auf diesem Friedhof und in diesem Grab bestattet war, sah sie sich verpflichtet, zu dieser Stelle zu gehen und dort seiner zu gedenken. Wo sollte sie sonst um ihn trauern? Sie hatte ihrer Mutter zu Lebzeiten mehrfach versprechen müssen, die Erinnerung an deren geliebten Urgroßonkel so lange wie möglich am Leben zu erhalten – und diesem Versprechen kam sie gerne und regelmäßig nach, zumal sie das Schicksal vor über dreißig Jahren nach Mühldorf verschlug und sie jetzt hier, fernab ihrer Heimat Dresden, lebte. Damals war sie beruflich versetzt worden. Wie groß die Überraschung war, dass sie der Weg zu Urgroßonkel Nathan führte, war für sie kaum zu begreifen. Vor allem ihre Mutter, die damals noch lebte, sah das als großes Glück an.

Die fremden Männer gefielen der mittlerweile zweiundsiebzigjährigen Sonja Wagner nicht. In all den Jahren hatte sie viele Trauernde kennengelernt, die beiden Männer gehörten ganz sicher nicht dazu. Sie benahmen sich anders als diejenigen, die sonst hierher kamen, was sie misstrauisch werden ließ. Die betagte Dame nahm ihr Handy, machte einige Fotos und rief die Polizei.

„Handelt es sich um Grabschändungen?“ Der Polizist stöhnte – nicht schon wieder! In den letzten Jahren häuften sich Schmierereien mit braunem Gedankengut, gegen die die Polizei nach Anweisung von ganz oben sofort und mit aller Härte nachzugehen hatte.

„Das weiß ich nicht, aber das könnte gut möglich sein. Kommen Sie schnell, ich warte!“ Sonja Wagner versteckte sich, behielt die Fremden aber im Auge. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Polizei kam. Sonja ging winkend auf den Wagen zu.

Erschrocken bemerkte Grünberger das Polizeifahrzeug.

„Was für eine Scheiße! Weg hier!“, flüsterte er Braun zu, der jedoch die Panik des Mannes nicht verstand.

„Was ist los?“

„Polizei!“

Braun sah sich erschrocken um. Er beobachtete, wie ein Uniformierter mit einer alten Frau sprach, dessen Kollege stand nur wenige Schritte entfernt und sah sich um.

„Verdammter Mist!“

„Mein Wagen steht direkt neben den Polizisten. Wo ist Ihr Auto?“

„Auf dem Krankenhaus-Parkplatz.“

„Gehen wir.“

Die beiden Männer verließen den Friedhof durch einen Seiteneingang. Die Polizisten reagierten zu spät, was Sonja Wagner wütend machte.

„Die hauen ab!“, rief sie den Uniformierten hinterher – aber die reagierten nicht. Anstatt den Ausgang zu nehmen und den beiden Fremden den Weg abzuschneiden, liefen die Polizisten über den Friedhof. Da sie Gräbern und Bänken ausweichen mussten, kostete das zu viel Zeit. Sonja Wagner spürte, dass hier etwas ablief, das nicht normal war. Warum liefen die Fremden davon? Was hatten sie zu verbergen? Sie war früher eine sehr mutige Frau, aber das war lange her. Sie lebte ihr beschauliches Leben in Mühldorf, das ohne irgendwelche Höhepunkte oder gar Gefahren verlief. Jetzt, hier auf dem KZ-Friedhof, fühlte sie, wie sie eine Energie umklammerte, die sie lange nicht gespürt hatte. Nach einem kurzen Blick auf ihre Blumen drehte sie sich um und folgte den Männern – mit dem Blumenschmuck. Ihr Herz klopfte, denn so etwas hatte sie noch nie gewagt. War sie von allen guten Geistern verlassen? Obwohl ihr klar war, dass das hier Wahnsinn war, ließ sie nicht von ihrem Vorhaben ab.

Die beiden Männer gingen eilig über die vielbefahrene Straße, wobei einer der Fremden einfach den Verkehr aufhielt. Jetzt stand die alte Dame am Straßenrand und beobachtete, wie die beiden auf den Parkplatz des Krankenhauses zusteuerten. Der Verkehr war heute wieder mörderisch. Seitdem die Pandemie Lockerungen zuließ, hielt es die Bevölkerung nicht mehr in ihren Häusern. Hier stand sie nun und wurde vom Verkehr ausgebremst. Niemand würde anhalten und sie über die Straße lassen, solche Höflichkeiten gab es schon seit ewigen Zeiten nicht mehr. Ob sie es dem einen Mann von vorhin gleichtun sollte? Welche andere Wahl hatte sie denn? Die Fußgängerampel war weit weg. Wenn sie die nehmen wollte, verplemperte sie zu viel Zeit. Also winkte sie mit ihrem Blumenstrauß und stoppte damit Fahrzeuge – das klappte tatsächlich! Einer hupte und zeigte ihr den Vogel, aber das war ihr egal. Lächelnd tippelte sie über die Straße und steuerte auf die Fremden zu, die an einem Kleinwagen angekommen waren.

„Das ist Ihr Wagen?“, maulte Grünberger, der schon immer sehr viel Wert auf prestigeträchtige Autos gelegt hatte. Der dunkelblaue Spießerwagen, der rund herum verschrammt war und mehr zu einem Rentnerehepaar passen würde, war eine Beleidigung für ihn.

„Stellen Sie sich nicht so an und steigen Sie ein!“, schrie Karl Braun, dem Autos an sich völlig gleichgültig waren. Sie mussten praktisch sein und vor allem funktionieren, mehr verlangte er nicht.

Nur widerwillig stieg Grünberger ein. Er bemerkte den Dreck und die Brösel im Fußraum das Wagens, was ihn anwiderte. Zwei Gesichtsmasken hingen am Rückspiegel, die dort nichts zu suchen hatten. Er schnallte sich an und besah sich dann die Rückbank, auf der eine Reisetasche auf einer dunkelbraunen Decke lag. Zu allem Übel sah er einen Wackeldackel auf der Hutablage, die er nur vom Hörensagen kannte, da sie aus den Achtzigern stammten. Für diesen Scheiß war er zum Glück noch zu jung, er war erst achtunddreißig. Wie alt war Braun eigentlich? Er sah ihn abschätzend an und versuchte, sich die Akte vor Augen zu führen, konnte sich aber nicht an das Geburtsjahr erinnern. Das war nicht weiter verwunderlich, denn er hatte den Mann nicht ausgesucht, er war nur der erste Ansprechpartner, mehr nicht. War Braun vierzig oder fünfzig? Nein, er musste über fünfzig sein. War er für die Aufgabe nicht schon zu alt? Grünberger wischte die Gedanken beiseite, denn das war alles nichts, was zu seinem Job gehörte, das unterlag einzig und allein Valentin Schober!

Braun parkte aus, das konnte Sonja Wagner deutlich sehen. Sie war zu langsam und würde es nicht rechtzeitig schaffen, das Fahrzeug zu erreichen. Und wenn ihr das gelänge – was würde sie dann tun? Die Männer einfach ansprechen und nach dem Grund des Besuches auf dem Friedhof fragen? Nie im Leben! Ihr Mut schwand, aber noch wollte sie nicht aufgeben. Sie suchte nach ihrem Smartphone in ihrer alten Handtasche und fand es schließlich. Mit zitternden Händen suchte sie nach der Fotofunktion. Während sie auf ihrem Smartphone wischte, entfernte sich das Fahrzeug immer mehr. Endlich fand sie, wonach sie gesucht hatte, und drückte mehrfach auf den Auslöser. Nur wenige Augenblicke später fuhr der Wagen direkt an ihr vorbei. Sie sah die weit aufgerissenen Augen des Beifahrers und ahnte, dass sie zu weit gegangen war.

„Was macht die Alte da?“, rief Grünberger.

„Keine Ahnung. Hat die uns fotografiert?“

„Das sah ganz danach aus. Aber warum sollte sie das tun?“

„Hast du die Blumen nicht gesehen? Das war die Alte vom Friedhof!“

„Ich verbitte mir, dass Sie mich duzen, verstanden?“, schrie Grünberger, der völlig aufgewühlt war. In welchen Mist hatte er sich da hineinziehen lassen?

„Schon gut, regen Sie sich nicht gleich auf. Was machen wir mit der Alten?“

Grünberger sah Braun an.

„Natürlich nichts! Was sollten wir denn tun?“

„Es wäre keine schlechte Idee, umzudrehen und ihr das Smartphone wegzunehmen.“ Braun fuhr an den Straßenrand und sah Grünberger fragend an.

„Sind Sie verrückt geworden? Nein, so etwas mache ich nicht!“

„Und wenn sie uns verrät?“

„Jetzt bleiben Sie mal auf dem Teppich. Was haben wir denn getan? Wir waren auf einem Friedhof – mehr nicht!“

„Und wenn durch sie die ganze Sache auffliegt?“

„Schwachsinn! Wir warten, bis entschieden ist, was mit Ihnen passiert. Vermutlich wird nichts geändert und alles läuft weiter wie bisher.“

Braun nickte und fuhr weiter.

Sonja Wagner war völlig aufgewühlt, als sie nach den Polizisten suchte. Deren Auto stand immer noch am Friedhof, also konnten sie nicht weit weg sein. Sonja fand sie vor einem Grabstein stehend.

„Die Männer sind weg, das waren sicher nur Angehörige“, empfing sie einer der Polizisten.

„Das glaube ich nicht. Ich komme mehrmals in der Woche hierher, diese Männer sind mir nicht bekannt. Außerdem haben sie sich merkwürdig benommen. Die sind getürmt, ich konnte sie aber noch fotografieren.“ Sie reichte den Polizisten freudestrahlend und nicht ohne Stolz ihr Smartphone. Jetzt erst registrierte Sonja die Namen der Polizisten, die auf deren Uniformen angebracht waren: Sautter und Ochsenberg. Sie waren beide etwa gleich alt, Sonja schätzte rund um die vierzig. Während der eine groß, hager und sportlich war, war Ochsenberg klein und untersetzt.

„Und?“, drängelte sie, nachdem sich die Polizisten wieder und wieder die Fotos angesehen haben. „Können Sie etwas damit anfangen?“

„Sie wissen, dass das nicht erlaubt ist, gute Frau?“, sah Ochsenberg sie streng an. „Sie können nicht einfach unbescholtene Bürger fotografieren! Machen Sie das nie wieder!“ Der Polizist lächelte und drohte dabei mit dem Finger – wie bei einem Kleinkind. So etwas mochte Sonja Wagner überhaupt nicht.

„Was sind Sie denn für eine Pfeife? Während Sie hier mit Ihrem Kollegen untätig herumstanden, habe ich die Verfolgung der Verdächtigen übernommen. Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, sie aufzuhalten, was Sie nicht getan haben. Jetzt, da Sie Fotos in Händen halten, ist es an Ihnen, herauszufinden, wer die beiden sind und was sie im Schilde führen. Statt mir dankbar zu sein, bin ich jetzt die Verbrecherin? Sie sind doch nicht ganz dicht!“ Sonja Wagner war außer sich. Was fiel diesem ungehobelten Kerl ein?

„Atmen Sie tief durch und überlegen Sie sich Ihre Worte! Das kann ganz schnell in eine Beamtenbeleidigung ausarten und das wollen wir doch nicht, gute Frau, oder doch?“

„Hören Sie auf, mich wie ein dummes Kind zu behandeln! Mein Name ist Sonja Wagner – ich bestehe darauf, dass Sie mich beim Namen nennen! Das ist doch hoffentlich nicht zu viel verlangt, oder? Nehmen Sie die Fotos von meinem Telefon runter und suchen Sie nach diesen Männern!“

„Dafür gibt es keinen Grund, Frau Wagner. Sie werden die Fotos löschen, verstanden?“ Ochsenberg reichte ihr das Smartphone und nickte seinem Kollegen zu. Es war an der Zeit, endlich wieder zu gehen. Wieder ein Einsatz, der keiner war und nur viel Zeit gekostet hatte.

Sonja sah den beiden wütend hinterher. Am liebsten hätte sie ihrem Ärger Luft gemacht, aber das wagte sie nicht, vor allem nicht an diesem Ort der Ruhe und Stille. Sie suchte das Grab ihres Ahnen auf und gab die Blumen in die Vase.

„Bei dir hätte es diese Schlamperei sicher nicht gegeben“, murmelte sie und säuberte das Grab vom Laub, das der Sturm der letzten Tage hergeweht hatte. Noch auf dem Heimweg ärgerte sie sich über die Polizisten, die sie nicht ernst genommen hatten. Zuhause angekommen freute sie sich jedoch über ihren Mut, über den sie sich immer noch wunderte. Sie goss sich ein Glas des selbstgemachten Eierlikörs ein, setzte sich in den Ohrensessel und trank genüsslich. Dann besah sie sich die Fotos, die sie heute gemacht hatte. Ob sie sie löschen sollte? Vielleicht hatte der dicke Polizist recht damit, dass es sich bei den Männern nicht um Verbrecher handelte. Wie kam sie nur auf die Idee? Sie warf einen Blick auf ihre reich bestückte Bücherwand und lächelte. Ja, sie las zu viele Krimis. Sie drückte auf die Löschtaste. Als sie das Löschen bestätigen sollte, zögerte sie.

Бесплатный фрагмент закончился.

286,32 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
221 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783753190648
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают