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Laboratorien einer neuen Zeit

Wenn wir den Suchaufträgen nachgehen, die in diesen Erinnerungsbildern stecken, dann stellt sich bald die Frage nach dem Epochalen, nach dem Neuen in dieser Art zu wohnen, zu leben, zu arbeiten. Neu ist nicht, dass Professor und Schüler unter einem Dach wohnen. Diese ganzheitliche Art des Lernens, deren Wurzeln man schließlich bis zu den Rabbinen und zu Jesus und seinen Jüngern zurückverfolgen kann. Auch das Bursenwesen hat eine lange Geschichte,20 in der die zusätzlichen Einnahmen für den Lehrer immer schon eine wichtige Rolle spielten.


Schwarzes Kloster: das Lutherhaus

Neu ist, dass Magister und Doktor verheiratet sind, dass die Ehefrau des Lehrers die Haushaltung organisiert, die Zimmer vermietet, die Gelder eintreibt, und dass die Schüler in eine real existierende Familie aufgenommen werden.

Das hat eine sehr interessante ökonomische Seite. Katharina Melanchthon stammte aus einem Handwerkerhaushalt. Jetzt hatte sie einen Haushalt aufzubauen, bei dem noch ein paar mehr „Lehrlinge“ und „Gesellen“ zu beherbergen und zu verköstigen waren als zu Hause. Melanchthon prahlt einmal: „Heute wurde an meinem Tische in elf Sprachen geredet, lateinisch, griechisch, hebräisch, deutsch, ungarisch, slavisch, türkisch, arabisch, neugriechisch, indisch und spanisch.“21 Katharina war dieser Aufgabe durchaus gewachsen, auch wenn sie nicht so geschäftstüchtig war, wie Luthers Käthe. Nur ein Mal, als sie sich über längere Zeit schwach fühlt, bittet Melanchthon die jugendlichen Kostgänger, „sich andere Tischplätze zu suchen“.22

Katharina Luther dagegen baute ihre Position zielstrebig aus. Das große Kloster bot viele Räume, die sie an Studenten vermieten konnte. Die Wohn- und Lernatmosphäre um sie und ihren Mann hatte so viel Faszinierendes, dass oft alle Zimmer ausgebucht waren und sie nicht einmal mehr Freunde aufnehmen konnte. Luther war ungewöhnlich freigiebig und von einer königlichen Gastfreiheit. Ihr fiel die Rolle zu, mit den Studenten unnachgiebig abzurechnen. Und Luthers große offene Tafel ließ sich nur durch eine professionell organisierte Hauswirtschaft beschicken, zu der ein wachsender Bestand an eigenen Gärten und schließlich sogar eine kleine Landwirtschaft gehörten. Sie wurde dabei zu einer selbständigen Unternehmerin und verdiente zeitweise mehr, als ihr Mann, der am besten bezahlte Professor in Wittenberg.

Während Luther die Lehrtradition seines Klosters im Rahmen einer reformatorisch umgestalteten theologischen Fakultät weiterführte, brachte sie ihr ökonomisches Können zum Einsatz, das sie ebenfalls der Erziehung im Kloster verdankte. Klöster waren mitunter äußerst erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen mit einer Ausstrahlung, die noch heute andauert. Luther hat sie darin voll anerkannt, und man kann seine amüsanten Beschreibungen ihrer weitläufigen Unternehmungen unmittelbar neben die seiner eigenen Arbeitsüberlastung stellen, die ja auch amüsant klingen.23

Diese Struktur ist etwas Neues: nicht die der traditionellen Arbeitsehe, wo Mann und Frau sich gemeinsam an der Ausübung des Berufs beteiligen, in Handel, Handwerk oder bäuerlicher Arbeit; auch nicht der spätere Beamtenhaushalt, wo der Mann der Ernährer ist und die Frau sich der Küche und den Kindern zu widmen hat. Hier leuchtet ein drittes Modell auf: Wo beide in ihrem eigenen Bereich selbständig arbeiten, gleich erfolgreich, und kooperieren.

Das eigentlich Neue, das epochal Neue aber spielt sich in einem ganz anderen Bereich ab, der etwas mit der Intimität der Familie zu tun hat. Das wird sehr drastisch illustriert durch eine Begebenheit einhundertfünfzig Jahre später, die Philippe Ariès in seiner „Geschichte der Kindheit“ referiert:

„Man duldete damals zwar, dass Lehrer heirateten, hielt jedoch daran fest, dass verheiratete Lehrer keine Universitätsämter übernehmen dürften. Im Jahr 1677 nun wird ein verheirateter Professor zum Dekan der Tribu von Paris gewählt. Der unterlegene Kandidat, der Kanzlist du Boulay, erhebt dagegen Einspruch, und die Angelegenheit wird an den Conseil Privé weitergeleitet. Du Boulays Anwalt gibt in einem Memorandum die Gründe an, die sich für die Aufrechterhaltung des Zölibats der Professoren anführen ließen. Lehrer nehmen gewöhnlich Pensionäre bei sich auf, und die Tugend dieser Knaben kann in mehrfacher Hinsicht in Gefahr geraten:

Unschicklichkeiten, die nur allzu oft auftreten, weil verheiratete Lehrer genötigt sind, häufig junge Leute bei sich zu haben, die sie dann in Gegenwart ihrer Frauen, ihrer Töchter und ihrer Dienerinnen unterrichten. Solches lässt sich unmöglich verhindern und trifft auf die Pensionäre in noch größerem Maß zu als auf die Externen. Ich bitte die Herren Kommissare bei ihren Überlegungen folgendes zu bedenken: welche Unschicklichkeit es insgesamt bedeutet, dass die Schüler auf der einen Seite die Kleider der Ehefrauen und Töchter und auf der anderen Seite ihre Bücher und ihr Schreibzeug und oft genug alles durcheinander zu sehen bekommen, dass sie mitansehen, wie die Ehefrauen und Töchter sich kämmen, ankleiden, zurechtmachen, dass sie Kinder in der Wiege und in Windeln und alles übrige erleben, was zur Ehe gehört …


Schwarzes Kloster, Großer Hörsaal

Der verheiratete Lehrer antwortet darauf, dass es dort, wo Frauen leben, auch Zimmer gibt, in denen sie für sich sind, wenn sie sich ankleiden …, und andere Zimmer für die Schüler. Was nun die Kinder in der Wiege betrifft, so kann man in den Pariser Wohnungen keine solchen finden, weil sie alle bei einer Amme sind: Bekanntlich schickt man die Kinder zu einer Amme auf irgendein benachbartes Dorf, so dass man bei den Eheleuten ebenso wenig Wiegen und Windeln antrifft wie in der Kanzlei besagten du Boulays“.24

Interessant ist, dass es zwischen beiden Bewerbern, dem verheirateten und dem zölibatär lebenden, einen Konsens darüber gibt, dass Schüler weder Frauen zu Gesicht bekommen dürfen, die sich ankleiden, noch Kinder in der Wiege und in Windeln. Erst vor einem solchen Hintergrund wird erkennbar, welch ein epochaler Schritt in den Häusern von Melanchthon und Luther geschieht. Er betrifft nicht nur das Verhältnis zu Frauen und zur Sexualität, sondern auch das Verhältnis zu Säuglingen in der Wiege und in Windeln – vor allem aber die Frage, wie weit Schüler mit beidem in Berührung kommen dürfen und wie weit beides, Unterricht und Familie, unter einen Dach stattfinden darf.

Wie sind die Dinge bei Melanchthon und Luther geregelt? Bestimmte Regeln des Anstands gelten auch hier. Katharina Melanchthon scheint ein eigenes Schlafzimmer gehabt zu haben.25 Melanchthon hat seine kleinen Enkelinnen daran gewöhnt, haben wir gehört, dass sie in seinem Arbeitszimmer pinkeln dürfen, wenn er allein ist, „wenn aber Fremde da sind, sollen sie dies auf keinen Fall tun“.26 Aber diese Regeln sind begleitet von einer gänzlich unbekümmerten Großzügigkeit und Sorglosigkeit und eingebettet in die Freude an der kreatürlichen, leiblichen Existenz. „Als ein französischer Gesandter ins Haus kam, traf er Melanchthon an, wie er in der einen Hand ein Buch zum Lesen hielt, mit der anderen Hand die Wiege schaukelte“.27

Die französische Szenerie aus dem 17. Jahrhundert lässt eine Ahnung aufkommen von der ungeheuren Arbeit, die nötig war, die zölibatäre Welt zu überwinden und nicht nur eine neue Beziehung zu Frauen und zur Sexualität zu finden, sondern gerade auch zu Kindern, kleinen Kindern zumal.28

2. DIE VERTREIBUNG AUS DEM ZÖLIBAT

Eine hohe Schwelle

Wenn man die beiden Häuser in vollem Betrieb vor sich sieht, das Melanchthonhaus und das Schwarze Kloster, Zentren der Reformation, dann fällt es schwer zu ermessen, eine wie hohe Schwelle für beide Männer zu überwinden war, um dieses neue Leben zu beginnen, sich auf diese neue Lebensform Ehe und Familie einzulassen. Denn das war für beide klar, und nicht nur für sie, sondern für jedermann und jedefrau in dieser Zeit: die Entscheidung für die Ehe war gleichzeitig eine Entscheidung für Kinder, für das Leben in einer Familie. Es ging also nicht nur um Sexualität, sondern um viel mehr.

In unserer öffentlichen Wahrnehmung ist der Zölibat etwas Entsagungsvolles geworden. Man muss auf Ehe und Familie verzichten. Das ist ein Opfer, das eine hohe asketische Leistung erfordert – geradezu etwas Heroisches, sagt man. Deswegen fällt es uns erst einmal schwer zu begreifen, dass der Zölibat auf der Schwelle zur Neuzeit auch noch etwas ganz Anderes war. Er war eine Schutzmauer. Wie das Leben in mittelalterlichen Städten durch eine Mauer gegen Angriffe von außen geschützt wurde, so schützte der Zölibat eine ganze Welt vor Störungen und Gefährdungen von „außen“: die Welt der Klöster und der kirchlichen Hierarchie bis hinunter zu den Priestern, aber auch Lehrer und Professoren, ja weithin die gesamte Welt der Wissenschaft. Priester, Mönche und Nonnen waren durch ihre Gelübde zur Ehelosigkeit verpflichtet, aber auch da, wo die Gelübde nicht galten, blieb die zölibatäre Lebensweise bis weit in die Neuzeit hinein für ganze Berufsstände attraktiv. Dem Philosophen konnte man seine Herkunft aus dem Mönchtum noch lange ansehen. Erasmus lebte ehelos, aber auch Descartes und Spinoza, Leibniz und Kant.

Auch die humanistische Bewegung, der die Reformation in Bezug auf den Umgang mit ihren Quellen so viel verdankt, hat hier keine Wende herbeigeführt. Im Gegenteil. Das „Unverständnis gegenüber den Freuden der Ehe charakterisiert, über Melanchthon hinaus, weite Teile der humanistischen Gelehrtenkultur. Man hat geradezu von einer ‚humanistischen Misogynie’ gesprochen, um die Distanz vor den Frauen und zugleich das affektive Eingebundensein der Humanisten in männliche Gemeinschaften poitiert zu skizzieren“.29

So ist es wirklich der Mühe wert genau hinzusehen, welche Motive Melanchthon und Luther dazu gebracht haben, diese Sicherheit gewährende, unter dem besonderen Segen der Kirche stehende Lebensform zu verlassen und sich selbst diesem Laboratorium Ehe auszuliefern.

Mit Furcht und Zittern

Mit Furcht und Zittern hatte Luther seine erste Messe gefeiert. Mit Furcht und Zittern tat Melanchthon den Schritt in die Ehe. Luther war zutiefst beunruhigt, ob er in dieser Nähe zum Heiligen bestehen könne. Melanchthon war besorgt, ob die Wissenschaft in dieser neuen Lebensform nicht Schaden nehmen würde. Die Sorge war nicht unbegründet.

Was hat ihn dazu gebracht, diesen kritischen Schritt dennoch zu tun? Sein Glücksgewissen war ja ganz auf Seiten der Wissenschaft, die er mit Begeisterung und Erfolg betrieb. Bei der anstehenden Universitätsreform wurde auf ihn gerechnet. Auf der anderen Seite aber stand Luther, als theologische und geistliche Autorität und als älterer Freund. Schon seit vielen Jahren arbeitete Luther an dem Thema Mönchsgelübde, Ehelosigkeit und Ehe. Melanchthon war – anders als Luther – durch keine Gelübde gebunden. Und je mehr er in kollegialer Zusammenarbeit mit Luther den Weg zu den Quellen ging und sich in seinem humanistischen Eros der Heiligen Schrift zuwandte, um deutlicher traten die für Luther so wichtigen Schlüsselworte auch für ihn hervor: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei. Ich will ihm eine Gehilfin schaffen, die um ihn sei“ (1. Mose 2,18), und dieses „Seid fruchtbar und mehret euch“ (1. Mose 1,28).

Er war kein Einzelgänger. So etwas gab es in dem ganzen damaligen Schulbetrieb nicht.30 Aber er hatte bisher nur unter Männern gelebt. Als Philipp elf Jahre alt war starb sein Vater. Für ihn bedeutete das, auch die Mutter verlassen zu müssen, da er und sein Bruder bei der Großtante in Pforzheim untergebracht wurden. Nach einem Jahr Lateinschule wurde er mit 12 Jahren an der Universität Heidelberg immatrikuliert. Seitdem lebte er nur noch unter Männern: an der Universität, in den Studentenbursen, in seiner Wittenberger Männer-Wohngemeinschaft.

Nicht die Sehnsucht nach dem Umgang mit Frauen, nach dem anderen Geschlecht wurde zum Problem. Die Wittenberger Wohngemeinschaft wurde für den jetzt einundzwanzigjährigen Professor aus anderen Gründen zu einer Belastung. Sie war ja ein riskanter Schritt aus den etablierten Versorgungseinrichtungen heraus in ein selbstbestimmtes Leben mit der Verpflichtung, den Alltag selbst zu organisieren. Dabei half zwar ein Famulus, und doch fing Luther bald an, sich Sorgen um den jüngeren Freund zu machen. Anfang 1520 schreibt er an Spalatin, „dass Philipp sein Hauswesen und seinen Körper völlig vernachlässige; eine Ehefrau wäre die beste Fürsorge, obgleich der eifrige Geistesarbeiter überhaupt kein Interesse für die Ehe zeige“. Auch die Sorge um das Wohl der Wittenberger Universität kommt ins Spiel. „Der Berufung nach Ingolstadt und dem fortschreitenden Raubbau der physischen Kräfte könne nur die Ehe Einhalt gebieten“.31

Im Sommer 1520 heiratet Melanchthon Katharina Krapp, die gleichaltrige Tochter eines Wittenberger Gewandschneiders und Ratsherrn. Luther selbst scheint bei der Suche aktiv geworden zu sein. Jedenfalls gibt es ein Gerede, dass er der Urheber der Ehe sei. Da Melanchthons Glücksgewissen nach wie vor durch die Wissenschaft gebunden ist, muss dieser diesen Schritt vor Freunden rechtfertigen. Er spricht von der Ehe als Vorbild für die Jugend, von der Schwachheit des Fleisches, aber er verschweigt auch nicht, dass der Hochzeitstag für ihn ein „Tag der Trübsale“ sein werde.32

Es gibt keine Belege für eine erotische Anziehung, eine herzliche Liebe zu Katharina, erst recht nicht für eine vorauslaufende Liebe zu den zu erwartenden Kindern. Was dazu hilft, die Schwelle zu überschreiten, das ist das göttliche Gebot, die besorgte Autorität des Freundes und, etwas lahm ins Feld geführt, die Schwachheit des Fleisches. Selbstbefriedigung wurde von der Kirche als Sünde gebrandmarkt.


Melanchthons Wohn- und Sterbezimmer

Eine herzliche Liebe zu seiner Ehefrau erwacht bei Melanchthon viel später. Nach einer Zeit heftiger Konflikte und Klagen tauchen in Briefen von unterwegs immer häufiger „Äußerungen der Sehnsucht auf, endlich zu Frau und zu den Kindern heimzukehren“.33

Melanchthon wird als liebevoller Vater wahrgenommen. Wir haben freilich vor allem Äußerungen dieser Kinderliebe, die von Trauer und Sorge bestimmt sind. Sein drittes Kind Georg stirbt dreijährig 1529. Melanchthon sagt: „Nichts war mir jemals im Leben teurer als dieser Knabe. Denn es leuchtete in ihm eine einzigartige Begabung. Welchen Schmerz ich durch den Verlust erlitten habe, kann ich in Worten nicht ausdrücken.“34 Man spürt, wie sich der hochbegabte Vater mit diesem kleinen Sohn identifiziert und welche Hoffnungen er in ihn setzt. Über zehn Jahre quält Sorge die Eltern um die älteste Tochter Anna, geboren 1522. Sie hat schon mit vierzehn Jahren einen doppelt so alten Schüler des Vaters geheiratet, der ihr mit seiner wahnhaften Eifersucht das Leben zur Hölle macht. Sie stirbt bei der Geburt des sechsten Kindes im Alter von 24 Jahren. Es gibt zu diesem Verlust eine Äußerung Melanchthons im Brief an seinen engsten Freund Camerarius, die mich sehr bewegt, weil sie von einer tiefen Liebe und Zärtlichkeit erzählt: „Ich erinnere mich, dass Anna als kleines Kind mir die Tränen von der Wange wischte mit ihrem Hemdchen; morgens war sie nur damit angezogen. Diese Geste ist mir so tief in mein Herz eingedrungen, dass ich an ihre Bedeutung fest glaube.“35

Das heißt doch: schon damals hat das kleine Mädchen den weinenden Vater auf eine rührende, zärtliche Weise getröstet und ihm die Tränen abgewischt. Und selbst jetzt, wo er um sie trauert, lässt er sich in der Erinnerung an diese Szene von ihr trösten. Sie ist nicht mehr nur Gegenstand seiner Sorge, seiner Trauer, sondern sie tritt aus der Erinnerung hervor, tritt ihm gegenüber, sie sind einander in einer tiefen erwachsen-kindlichen Liebe zugewandt. „Die Liebe höret nimmer auf“ (1.Kor 13,13), möchte man zitieren. Ich nehme damit zugleich auch den Titel eines gerade erschienenen Buches auf, das vom „Verbundensein über den Tod hinaus“ bewegt ist und das dieser Erfahrung pastoralpsychologisch nachgeht.36

Als Katharina 1557 im Alter von 60 Jahren stirbt, findet er auch für sie liebevolle Worte: „Im Alter hört die Sehnsucht nach der verlorenen Gattin nicht auf wie bei den Jungen, die sich in immer neue Liebesabenteuer stürzen. Täglich, wenn ich meine Enkel und Enkelinnen sehe, denke ich nicht ohne Seufzen an ihre Großmutter. Der Schmerz bricht wieder auf, wenn ich daran denke, dass ich, meine Familie und die Enkel ihrer beraubt sind. Denn meine Frau sorgte für die gesamte Familie, erzog die Kinder, heilte die Kranken, linderte durch ihre Worte mein Leid und lehrte den kleinen Kindern Gebete. Deshalb vermisse ich sie jetzt in vielen Dingen“.37

Das ist freilich ein nüchternerer Ton als beim Tod der Kinder. Und doch erkennt man, einen wie weiten Weg Melanchthon in den 37 Jahren seiner Ehe zurückgelegt hat. Was er schreibt, das ist eine liebevolle, dankbare Würdigung dieser ihm einst so fremden Frau. Und auch von ihr kann er sagen, was ihn an der kleinen Anna so berührt hatte: dass sie „durch ihre Worte sein Leid gelindert habe“ und dass er sie deswegen jetzt vermisse. Ja, er kann sogar von „Sehnsucht“ reden und sie der Verliebtheit der Jungen mit einem gewissen Überlegenheitsbewusstsein gegenüberstellen.

Werden die Äußerungen dieser Liebe durch den Tod hervor getrieben, so dass die Trauer dem nüchternen Gelehrten das Herz öffnet, oder bekommt unsere Liebe erst durch den Verlust, den Trennungsschmerz, den Tod diese Tiefe? Das ist eine schwer zu beantwortende Frage.

Mit leisem Schmunzeln lässt sich noch anfügen, dass Melanchthons anfängliche Besorgnis, durch den Ehestand könne die Wissenschaft Schaden erleiden, sich nicht erfüllt hat. Im Gegenteil. Mit einer kleinen Geste des Triumphs kann er einem zölibatär gebliebenen Pfarrer, einem Freund Luthers, entgegenhalten, „es sei eigentlich eine Schande, dass ein Mann mit grauen Haaren nicht wüsste, was es für eine Bewandtnis um das Zahnen der kleinen Kinder hätte“.38 Ähnliche Äußerungen der Überlegenheit gibt es auch bei Luther.

Gerhard Ebeling hat in seinen Lutherstudien auf einen Text aus den Tischreden aufmerksam gemacht, der sich wie der Entwurf einer neuen Wissenschaftstheorie liest, in der die Fortschritte der Naturwissenschaft der Gotteserkenntnis zugute kommen: „In einer Bemerkung bei Tisch wertet Luther die (für unsere Begriffe höchst dürftige) Zunahme an Naturerkenntnis in seiner Zeit geradezu als Zeichen der Morgenröte der vita futura. Das unterscheide ihn von Erasmus … Erasmus sei es gleichgültig, wie sich ein Fötus im Mutterleib bildet. Wir dagegen beginnen dank Gottes Gnade sogar aus der Betrachtung einer Blume die Großtaten Gottes zu erkennen …“.39 Einen für uns wichtigen Akzent nimmt Ebeling allerdings nicht auf: dass Luther die Borniertheit des Erasmus in dieser Sache auf seine zölibatäre Existenz zurückführt – dass er von der Würde der Ehe nichts weiß.40

Vitale Evidenz

Melanchthon ist den schwierigen Schritt in den Ehestand mit Furcht und Zittern gegangen. Bei Luther ist dieser Schritt getragen von einer vitalen Evidenz. Starke Motive wirken bei dieser Entscheidung mit: die Klarheit der göttlichen Gebote in der Heiligen Schrift, negative Erfahrungen mit Ehelosigkeit und Mönchsgelübden, seine Wahrnehmungen über die elementare Kraft der Sexualität, seine Lust, in einer Zeit der Katastrophen dem Teufel ins Gesicht auf das Leben zu setzen, und – im Hintergrund – sicher auch der Wunsch, seinen Vater zu erfreuen.

Alle diese Motive verstärken sich gegenseitig zu einer vitalen Evidenz. Dieser Begriff meint nicht eine unumschränkte Dominanz der Triebe, sondern: „Unter vitaler Evidenz verstehen wir das Zusammenwirken von rationaler Einsicht, emotionaler Erfahrung, leibhaftigem Erleben und sozialer Bedeutsamkeit“. Der Begriff stammt aus der Integrativen Therapie. Die vitale Evidenz ist „das Movens jeder Veränderung“. Wenn die verschiedenen Komponenten zusammenwirken, wird eine „Neukonstituierung der Szene“ möglich.41 Der Schritt aus dem klösterlichen Leben in den Ehestand ist solch eine grundlegende „Neukonstituierung der Szene“.

Luther ist diesen Schritt erst 1525, fünf Jahre nach Melanchthon, gegangen. Zu dieser Zeit waren einige seiner Kollegen längst verheiratet, in nächster Nachbarschaft sein Schüler Johannes Bugenhagen.42 Aber er hatte schon viele Jahre vorher in seiner theologischen Arbeit angefangen, diesen Weg aus dem Zölibat, diesen Schritt über die hohe Schwelle des Hauses Ehestand zuerst für andere, dann auch für sich selbst, gangbar zu machen.

Was diesen Schritt für ihn und viele andere über die Situation bei Melanchthon und auch Bugenhagen hinaus zusätzlich erschwerte, das waren die Mönchsgelübde. Mit ihnen musste er sich 1521 auf der Wartburg, sozusagen in einem Atemzug mit der Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche, in einer lateinisch geschriebenen, umfangreichen Schrift auseinandersetzen. Titel: De votis monasticis Martini Lutheri iudicium. Er schreibt an Spalatin: „Ich bin entschlossen, jetzt auch die Frage der Gelübde der Ordensleute anzupacken und die jungen Leute aus dieser Hölle des Zölibats zu befreien“.43 Um Luthers Weg zu seiner vitalen Evidenz zu verstehen, müssen wir uns in die Befreiungsarbeit hineinhören, die er in dieser lateinischen, an seine Gefährten gerichteten Schrift leistet. Sie liegt uns glücklicherweise in einer neuen deutschen Übersetzung vor.44

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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118 стр. 14 иллюстраций
ISBN:
9783960080305
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