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Ostende

Langsam scrolle ich durch die Fotos, verschiebe auf dem Bildschirm die Fundstücke aus dem Familienarchiv. Da und dort bleibe ich an einem Wort hängen, hangele mich von Buchstaben zu Buchstaben. Einmal mehr versuche ich, im Handbuch zu entziffern, «was sich mit Hans Baschi Kitt zuo tragen hatt in 1602».31

Hoch verschuldet war Baschi nach Mähren geflohen, wo er Zuflucht bei einer der unzähligen Täufer-Gemeinschaften gefunden hatte, reime ich mir zusammen. Nach ein paar Wochen zog er nach Wien, wo ihn sein zweitältester Sohn Sebastian bei einer Frau aus St. Gallen fand. Gemeinsam kehrten Vater und Sohn nach Zürich zurück. Da Baschi nicht in der Stadt bleiben durfte, machte er sich erneut auf. Diesmal setzte er sich mit seinem ältesten Sohn Hans Jacob in die Niederlande ab. So weit kann ich dem Verfasser des Berichts und seiner Beschreibung von Baschis Fluchtroute folgen. Dann macht er eine Bemerkung zum Geld, das die beiden aus der Haushaltskasse mitlaufen liessen, und nimmt den Faden wieder auf: Vater und Sohn gingen im September 1602 nach Ostindien. Ostindien? Ich zoome das Wort heran. Tatsächlich. So steht es schwarz auf weiss. Ich bin elektrisiert. Baschi und Hans Jacob hielten sich also in einer der europäischen Kolonien auf. Da sie zuerst in die Niederlande fuhren, standen sie wahrscheinlich im Sold der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC).

Endlich ein weiterer Hinweis, dass die Kitts selbstverständlich in die globale Geschichte eingebunden waren: Baschi bezog von den Niederländern nicht nur Gewürze, er stellte sich auch in ihren kolonialen Dienst. Fiebrig suche ich nach mehr Hinweisen und erfahre beim Überfliegen des Berichts, Baschi habe sein Geld verloren und eineinhalb Jahre unter Graf Moritz gedient, bis er 1604 auf einem Schiff gestorben sei. Ich lese nochmals die Geschichte von den Schulden und dem geschlossenen Laden und stosse schliesslich auf eine Liste mit Namen und Daten. Darin zählt der Berichterstatter die Kinder auf, die Baschi mit seiner Frau Regula gezeugt hatte. Als Ersten erwähnt er Baschis ältesten Sohn: «Hans Jacob starb 1603 in Ostindien erschossen, ward 21 Jahr alt.»32 Nun sind alle Zweifel ausgeräumt: Hans Jacob diente als Söldner, obwohl Zwingli das verboten hatte. Und er war im Einsatz in einer niederländischen Kolonie. Kurz nach der Gründung der VOC muss er einer der ersten Schweizer gewesen sein, die für die Niederländer und ihren Gewürzhandel starben.

Atemlos beginne ich, andere Dokumente zu durchforsten. Als Erstes nehme ich mir das «Memoriebüchlein» vor, die von verschiedenen Familienmitgliedern geführte Chronik der Kitts. Sebastian erzählt darin nochmals, aber in anderen Worten als im Handbuch, wie man den Laden dichtgemacht hat, berichtet von der Flucht des Vaters nach Mähren und von der Heimkehr aus Wien. Dann fährt er fort, im September 1602 sei der Vater «mit dem eltisten son nach dem Underland in Ostende zogen».33 Ostende? Ich vergrössere die Schrift. Kein Zweifel. Hier steht, dass die beiden ins Unterland, die Niederlande, gereist seien, genauer nach Ostende, in die flämische Stadt am Meer. Sollte meine Hoffnung auf eine koloniale Verwicklung mit einer anderen Endung, mit dem Wortteil -ende so schnöde zerstört werden? Es bleibt noch eine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Als ich die Familiengeschichte konsultiere, die David Kitt im 18. Jahrhundert geschrieben hat, dämmert mir, dass ich Abschied nehmen muss von der Vorstellung, die beiden Kitts seien in Ostindien gewesen. Ich lese, Baschi habe im April 1604 einen Brief aus Gorcum geschrieben und im September desselben Jahres aus Sluis.34 Beide Städte liegen im Süden der Niederlande.

Ich schlucke die Enttäuschung herunter und recherchiere zum Grafen Moritz, in dessen Dienst sich Baschi offenbar befand. Es muss sich um Moritz von Oranien handeln, der bei der Belagerung von Ostende eine wichtige Rolle spielte. Um die Jahrhundertwende lag das von den calvinistischen Niederländern dominierte Ostende als Exklave im von den katholischen Spaniern beherrschten Flandern. 1601 wollten die Spanier und ihre Verbündeten die Stadt zurückerobern und begannen, sie zu belagern. Während der dreijährigen Kämpfe kamen unzählige Soldaten ums Leben, auch Hans Jacob starb auf dem Schlachtfeld. Man habe ihm sein linkes Bein und seine linke Hand weggeschossen, entziffere ich, und zwei Stunden später war er «ein lich».35 Als sich die Versorgungslage in Ostende zuspitzte, ging Moritz von Oranien – und mit ihm Baschi – nach Sluis, um die Spanier zu einer Feldschlacht zu bewegen und zur Beendigung der Belagerung. Der Schachzug misslang, und Baschi fand den Tod. Er sei auf einem Schiff «elendiglich gestorben», heisst es.36

Verbandeln

Es war die Crème de la Crème der Zürcher Gesellschaft, die sich am 26. Juli 1613 im Grossmünster versammelte. Männer und Frauen aus den sogenannten guten Familien hatten dem – seit Jahrzehnten im Hochsommer üblichen – Winterwetter getrotzt und waren zu Sebastians Hochzeit gekommen: die Werdmüllers, die Holzhalbs oder die Grebels.37 Sebastian hatte nach dem Tod seines Vaters und seines Bruders den Laden mit seiner Mutter offenbar so gut geführt und so gut gewirtschaftet, dass er für die noble Familie Grebel als Schwiegersohn infrage kam. Seine Braut Margarethe stammte aus dieser Junkerfamilie. Ihr Vater war der Stiftskämmerer Georg Grebel, ihre Mutter eine Holzhalb und Tochter des Landvogts Heinrich Holzhalb.

Da Margarethes Vater gestorben war, führte Sebastians Pate, Statthalter Hans Ulrich Wolff, die Braut in die Kirche. Und da auch Sebastians Vater tot war, in Holland «elendiglich» umgekommen, nahm der Onkel des Bräutigams, der Seidenfabrikant Heinrich Werdmüller, dessen Platz ein. Da sassen also – ausser den Gästen – die erst seit drei Generationen eingebürgerten Kaufleute Kitt neben der alteingesessenen Junkerfamilie Grebel und lauschten den Worten von Felix Wyss, der die beiden Hausstände mit Gottes Segen verband. Für beide Familien handelte es sich um ein profitables Geschäft: Mit der Verschwägerung bauten die Grebels ihre wirtschaftliche Macht aus, während die Kitts sich einen Aufstieg in distinguierte Kreise verschafften.

Nach der Vermählung lud Sebastian zu einem üppigen Gelage ein, das sich über ganze zwei Tage hinzog. Am ersten Mittagessen fanden sich 140 Gäste ein, abends wurde es intimer, da durften nur dreissig Personen essen und trinken. Am nächsten Tag sassen am Mittag achtzig Geladene am Tisch und abends nochmals dreissig. Sebastian musste für die unzähligen Köstlichkeiten und die vielen Mass Wein tief in die Tasche greifen: Siebzig Gulden inklusive Trinkgeld liess er sich das Fest kosten. Damit hätte er einen Handwerker 140 Tage lang beschäftigen können.38

Die Auslagen dürften angesichts der Mitgift zu verkraften gewesen sein. Sebastian bekam von der Brautmutter 400 Gulden. Ein Jahr nach der Hochzeit eröffnete er mit seinem Bruder Caspar ein eigenes Geschäft. Sie traten der Zunft zur Saffran bei und trieben wie bereits der Vater Handel mit Lyon.39

«Bar Gelt»

Sebastian lebte die Ideale der damaligen Kaufleute: Er war sparsam, asketisch und rational. Das lässt sich zumindest aus dem Grundsatz lesen, den er einst notierte:

Kauff um bar Glt in, wo mglich.

Gib so wenig Ding uss, als du kanst.

Züch fleissig die Schulden ein.

Wartt niemand über dz Zil.

Es ist alle Zeitt besser, du handlist

mit deinem Glt, dan dz enthlenti Glt nit jedem gůt thůt.40

Nimm keine Kredite auf.

Gib so wenig aus, wie du kannst.

Treibe die Schulden fleissig ein.

Sei sparsam und schiesse nicht übers Ziel hinaus.

Investiere das Geld, das du verdient hast.

Mit diesen Leitsätzen orientierte sich Sebastian an einer Arbeitsethik, die sich aus dem Protestantismus speiste. 300 Jahre später wird der Soziologe Max Weber Sparsamkeit, Genügsamkeit, Disziplin und Fleiss als die geistigen Triebfedern des Kapitalismus definieren.

Sebastian hatte Erfolg mit seinem Rezept. Das Geschäft, das er mit seinem Bruder betrieb, lief gut. Jedes Jahr steigerte die Handelsfirma der «Herren K.» ihr Vermögen um 1000 bis 3000 Gulden. Als die Brüder 1646 ihre geschäftlichen Tätigkeiten auseinanderdividierten, bekam nach der Teilung jeder 23 000 Gulden. Und als Sebastian 1651 starb, hinterliess er ein Vermögen von 32 000 Gulden.41 Damit gehörte er zu den wohlhabenden, aber bei Weitem nicht zu den betuchtesten Bürgern der Stadt. Die reichsten Familien besassen mindestens drei Mal grössere Vermögen. Schon allein wegen der Zinsen wuchs ein Kapital dieser Grössenordnung jährlich um die Hälfte.42

Vermitteln

Als Sebastian im Juli 1641 den Brief öffnete, hatte er bestimmt einen der üblichen Berichte aus Amsterdam erwartet. Was jedoch sein Geschäftsfreund, Isaak Hattavier, ihm und seinem Bruder Caspar schrieb, betraf etwas Privates: Er war in Sorge wegen der «Brüeder» in Zürich.

Die Stadt an der Limmat gilt auch heute noch als die Wiege der Täufer, hier hat der radikale Flügel der Reformation seine Wurzeln.43 Als Weggenossen von Huldrych Zwingli die Bibel sehr genau – penibler als er – lasen, entdeckten sie, dass im Neuen Testament nirgends von der Säuglingstaufe die Rede ist. Während der Reformator an der Kindertaufe festhalten wollte, plädierten die Täufer für die Erwachsenentaufe und damit für eine freiwillige Mitgliedschaft in der Kirche. So kamen die Abtrünnigen zu ihrem Namen. Als Richtschnur nahmen sie die Bergpredigt, in der Jesus verkündet hatte, worauf es im Zusammenleben der Menschen ankomme. Ihr zufolge entsagten sie der Gewalt und verweigerten Eide wie auch den Militärdienst. Einige legten den Gewaltverzicht sogar so radikal aus, dass sie eine Karriere als Politiker oder Richter ausschlossen.

Kein Wunder, waren die Täufer der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Systematisch verfolgte die Regierung die Andersgläubigen, ohne jedoch die Bewegung zerstören zu können. Immer wieder kam es zu massiven Verfolgungen, so auch zu jener Zeit, als Isaak Hattavier seinen besorgten Brief schrieb. Obwohl damals der weiterhin wütende Dreissigjährige Krieg die Eidgenossenschaft kaum tangierte, betrachtete die Regierung die dienstverweigernden Täufer als Gefahr. Als die Getreidepreise in die Höhe schnellten und die Landbevölkerung Hunger litt, als zudem eine weitere Pestwelle übers Land rollte, boten sich die Täufer – neben den Hexen – als die perfekten Sündenböcke an.

Die Amsterdamer Täufer hätten gehört, dass man in Zürich «etlicher ihrer brüederen gfangen» genommen habe, las Sebastian in Hattaviers Brief. Der Amsterdamer Kaufmann hatte die Limmat-Stadt und deren Bewohner während seiner Ausbildung kennengelernt und war auf dem dortigen Fischmarkt Zeuge der Enthauptung des Täufers und späteren Märtyrers Hans Landis geworden. Er habe zudem vernommen, schrieb Hattavier weiter, dass die Glaubensgenossen «in ewige gefangenschaft» verurteilt worden seien und dass man sie vor «hunger sterben» lasse.44 Er bat Sebastian und Caspar, ihm die «fürnämbsten punckten» für die Inhaftierung der Zürcher Brüder zu nennen.45

In den 1630er-Jahren hatte ein reicher Bauer und bekennender Anabaptist den Militärdienst verweigert und damit eine Woge von Verhaftungen ausgelöst. Die Häftlinge wurden im ehemaligen Dominikanerinnenkloster Oetenbach eingekerkert, das im Zuge der Reformation geschlossen und zu einem Waisenhaus und Gefängnis umfunktioniert worden war. Im April 1641 sassen dort ein paar Dutzend Männer und Frauen wegen ihres Glaubens in Haft – unter unmenschlichen Bedingungen. Die Verliesse waren feucht. Einige Angeklagte lagen in Ketten. Das Essen bestand aus fast gar nichts.46

Vier Jahre später, im Februar 1645, bekamen Sebastian und Caspar erneut Post aus den Niederlanden. Der Fall der Zürcher Täufer schlage in Amsterdam hohe Wellen – er sei «mächtig odios», Ärger erregend, schrieb Hattavier. Die holländischen Brüder hätten hundert Reichstaler gesammelt, um das Los der Gefangenen im Oetenbach zu erleichtern, berichtete er weiter und bat die beiden, den Häftlingen das Geld und den Brief zu übermitteln. Vergebens. Die Obrigkeit liess die Kollekte und das Schriftstück beschlagnahmen. Einige Monate später stellte Hattavier in einem erneuten Schreiben 200 Reichstaler in Aussicht, falls Zürich den Inhaftierten die Auswanderung nach Amsterdam erlaube. Und zum dritten Mal ersuchte er die Herren Kitt in dieser leidigen Angelegenheit um ihre Hilfe: Die beiden Brüder möchten das Geld vorschiessen. Die Regierung liess auch diesen Brief konfiszieren und beschloss zudem, die lästigen Interventionen aus Amsterdam ein für alle Male zu unterbinden. Die Täuferkommission unter dem Vorsitz des scharfen Statthalters Johann Heinrich Heidegger verfasste eine ausführliche Antwort an Hattavier und seine Mitstreiter, um «der kilchen wie auch der oberkeit ehr» zu retten.47 Die Zürcher versicherten den Amsterdamern, die Gefangenen seien gut versorgt; die Spende fördere lediglich deren Widerspenstigkeit. Gleichzeitig legitimierten sie die Verfolgung und Inhaftierung der irregeleiteten Gläubigen und die Beschlagnahmung ihrer Güter: Die Täufer seien ungehorsam, schlicht Unruhestifter. – Die Kommission hegte offenbar wenig Illusionen bezüglich ihrer Durchsetzungsmacht, sondern traute dem Mittelsmann mehr Autorität zu. Warum Sebastian einwilligte, einen Brief zu unterschreiben, den er nicht verfasst hatte, bleibt offen.

Sicher ist: Sebastian gehörte nicht zu den Täufern, denn er liess seine Kinder taufen. Doch er und sein Vater scheinen zumindest Sympathien für die radikalen Gläubigen gehegt zu haben. Nicht von ungefähr dürfte Baschi zu den Täufern in Mähren geflüchtet sein, auch wenn er später Solddienst leistete. Und bestimmt kam Sebastians Geisteshaltung den Amsterdamer Brüdern entgegen, als sie ihn zum Vermittler erkoren. Mag sein, dass Sebastians ideelle Nähe zum «linken Flügel der Reformation» ein Grund für seine Abstinenz in der Politik und anderen Gremien war.48


1652-1701
Anna
Margaretha
und die
Gewürze
Von Anna Margaretha wusste ich gar nichts

Ich hatte zwar ihr Porträt bei mir hängen, wusste jedoch nicht, wer sie war. Ich wusste lediglich, dass sie aus der Familie Kitt stammte. Auch wenn ich sie nicht kannte, bedeutete sie mir viel. Sie hatte einen Blick, der einen nicht losliess. Schritt ich an ihr vorbei, verfolgte sie mich wie Mona Lisa mit ihren Augen. Ging ich nach links, blickte sie nach rechts, ging ich nach rechts, blickte sie nach links. Sie war auf eine seltsame Weise lebendig. Stumm und doch beredt. Rund um die Uhr stand sie neben einem Tisch. In der einen Hand hielt sie eine Blume, vielleicht eine Nelke oder eine Rose. In der anderen eine Frucht, womöglich eine Quitte. Auch über den Künstler wusste ich nichts, denn eine Signatur fehlte. In der Familie vermutete man, es sei ein niederländischer Künstler gewesen.

Es lag auf der Hand, dass ich über sie nichts wusste: Die Familie hielt nicht viel von Vorfahren oder Familienlegenden und wusste nichts über sie zu erzählen. Immerhin pflegte sie Erbstücke wie dieses Porträt und reichte sie von einer Generation an die nächste weiter. Möglicherweise hätte man gewusst, wer sie war, wenn sie ein Er gewesen wäre. Da sie aber eine Sie war, nahm man sie schlicht nicht zur Kenntnis. Zudem ist sie auf dem Gemälde noch ein Kind.

Der Sitz der Seele

Es wird für dich nicht einfach gewesen sein, reglos auf dem Stuhl zu sitzen. Du darfst dich nicht rühren, den Kopf nicht wenden, dich nicht nach deiner Mutter umdrehen, nicht mit deiner Schwester schwatzen, nicht mit den Schultern zucken, nicht die Beine werfen, nicht an deiner Kappe ziehen, nicht lachen, nicht weinen. Du darfst nicht. Du sollst still sitzen, hat der Maler gesagt. In der rechten Hand einen Stift, auf der Staffelei ein Papier, mustert er dich eingehend. Es ist dir unangenehm, wie er dich fixiert. Ab und an streckt er den Arm und hält den Stift senkrecht vor sich hin. Er schliesst das eine Auge, und du weisst nicht, ob er dir zuzwinkert oder dich stumm ermahnt, bewegungslos zu verharren. Du schlägst die Augen nieder und hörst schwach, wie der Stift fast geräuschlos über das Blatt gleitet. Der Maler bittet dich, ihn anzuschauen. Er trägt Bart, sein Blick ist freundlich. Endlich darfst du aufstehen. Er bedeutet deiner Schwester, Platz zu nehmen. Du frohlockst: Es soll ihr nicht besser gehen.1

Ich stelle mir weiter vor, dass die Magd den Arm um dich schlingt, während dein Vater sich über die Skizze beugt und deine noch charakterlose Nase kommentiert, die angedeuteten Brauen und die wimpernlosen Augen. Versunken in die Rötelzeichnung blickt er erst auf, als der Maler neben ihn tritt und ihm erklärt, wie er mit ein paar Strichen dein Wesen zu erfassen sucht. Dein Vater schaut ihn fragend an. Der Künstler soll zeigen, dass du aus reichem Hause kommst. Was interessiert ihn deine seelische Befindlichkeit? Widerwillig folgt er den Ausführungen des Meisters. Doch tatsächlich, je länger er die Zeichnung betrachtet, desto deutlicher erkennt er in den Strichen ein Gesicht, das deinem gleicht. Es dünkt ihn zwar etwas maskenhaft, insbesondere deinen Blick empfindet er anfänglich als erwachsen, doch dann beginnt er, angeleitet von den Kommentaren des Malers, dich zu sehen. In den Augen wird er deine Seele gefunden haben.2

Namen

Was kümmert mich die Identität des Kindes? Was geht mich das Mädchen an? Ich habe kein Bedürfnis nach einem Stammbaum, will nicht wissen, auf welchem Ästchen die Ahnin sitzt. Möchte nicht die Distanz zwischen ihr und mir vermessen. Brauche keinen Verwandtschaftsgrad, um mich meines Platzes in der Gesellschaft zu vergewissern. Es ist pure Neugier, die mich dazu verleitet, mehr über das Mädchen zu erfahren, das mich tagtäglich mit seinem Blick verfolgt. Schlichte Wissbegier, die mich dazu anstachelt, den Schleier über seinem Wesen zu lüften. Stärker als der Wissensdrang ist aber die Hoffnung, bei meiner Spurensuche auf eine globale Verwicklung zu stossen.

Auf dem Gemälde findet sich ein Indiz für den Beginn der Suche: Auf dem dunklen Hintergrund schimmert schwach die Jahreszahl 1655 auf sowie der Ausdruck «Aetatis 3». Das Mädchen zählte drei Jahre, als es porträtiert wurde. Auf dem Bild, das ihre Schwester darstellt und im selben Jahr entstand, steht «Aetatis 4». Ausgerüstet mit diesen Daten, braucht es lediglich ein paar Mausklicks, um einen Stammbaum der Familie Kitt aus dem Internet zu fischen, und ein paar Minuten, um zwei Geschwister mit den entsprechenden Jahrgängen zu finden. Anna Barbara hiess das ältere Mädchen, Anna Margaretha das Kind, das täglich auf mich herabblickt.

Anna Margaretha. Ein Name. Ein Name nur. Und doch plötzlich eine Person. Aus dem anonymen Mädchen ist ein Kind mit einer Identität geworden. Durch die Benennung wird es einzigartig, unterscheidbar von anderen. Dahinter steckt die Vorstellung einer wesenhaften Einheit: Ein Name steht für eine Person und eine Person für einen Namen.3 Die Bezeichnung allein hilft zwar nicht, um Anna Margarethas Wesen zu begreifen, aber sie ist ein erstes Wegstück ihrer Spur.

Hinterfür

In der Werkstatt übertrugen die Angestellten des Malers, wahrscheinlich Verwandte, sein skizziertes Porträt massstabsgetreu auf die Leinwand, verpassten Anna Margaretha einen Körper und kleideten sie ein. Sie steckten sie in einen schwarzen Rock, banden ihr eine weisse Schürze mit roten Seidenstickereien um und verzierten auch die Puffärmel mit demselben Muster. Setzten ihr eine enorme Kappe auf und statteten sie mit einer Halskrause aus. Hängten ihr Schmuck um den Hals, wickelten eine Kette um ihr Handgelenk und steckten ihr Ringe an die Finger. Schlossen einen Gurt um ihre Taille und drapierten einen zweiten mit Silberbeschlägen über ihrem Bauch. Platzierten sie neben einem Tisch auf einem gekachelten Boden. In die Rechte drückten sie ihr eine Blume, in die Linke eine Frucht.


Fertig war die Bürgerstocher. Dazu machte sie allein schon die Krause aus weissem Leinen, auch «Mühlsteinkragen» genannt. Er gehörte bei gut situierten Männern, Frauen und Kindern zur Ausgehkleidung. Kaum überraschend hängten ihn sich die Dienstboten nicht um, denn für schmutzige Arbeiten eignete sich das weisse Kleidungsstück nicht. Auch der Schmuck und die Verzierungen auf den Gürteln machten aus dem Mädchen ein Bürgerskind, untere Stände konnten sich diese Kleinodien nicht leisten. Die Kappe war bei Frauen und Mädchen aller Schichten fester Bestandteil ihrer Kleidung, sie trugen sie sommers und winters, doch in ihrer Machart machte sie die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsgruppen deutlich.4 Bei der obersten Schicht bestand sie aus Zobel, bei den Bürgerinnen aus Marderfell, bei den Mägden aus Wolle. Manchmal war sie mit Gold und Silber bestückt. Die Kappe, die sich an der französischen Mode orientierte, hiess in Zürich «Hinterfür» – was womöglich wegen ihrer eigenartigen Form vom Dialektausdruck zhinderfür für «verkehrt» kam oder aus dem Französischen «fourrure» für Pelz. Ob Anna Margaretha ihre Haare unter einem Hinterfür aus Marderfell versteckte, ist auf dem Gemälde nicht ersichtlich. Noch weniger, ob es sich gar um «indianischen Marter» aus den amerikanischen Kolonien handelte.

Das Bild ist ein schreiender Kontrast zu den strengen Mandaten, welche die Stadtzürcher Obrigkeit seit der Reformation zur Disziplinierung der Bevölkerung erliess.5 Bis ins letzte Detail, bis zu den Kleidern, regelte sie, wie Männer, Frauen und Kinder, unabhängig von ihrem Stand, ein moralisch einwandfreies und im christlichen Glauben verankertes Leben zu führen hatten. Die Regierung fürchtete, ein aufwendiger Lebensstil könnte zu Verarmung führen und damit die Staatskassen belasten. Mit ihren Erlassen zementierte sie zudem die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und den Ständen. Sie verbot alles, was Freude machte: Müssiggang, üppige Mahlzeiten, Glücksspiele und ausgelassenen Tanz, Alkohol und lange Wirtshausbesuche, ganz allgemein ein luxuriöses Leben. Dazu gehörten auch elegante Kleider und Schmuck, wie ihn Anna Margaretha trug.

1655, als die Porträts von Anna Margaretha und Anna Barbara entstanden, erneuerten der Kleine und der Grosse Rat der Stadt Zürich das Mandat von 1650.6 Im September jenes Jahres hatte in Basel die Erde gebebt. Die Obrigkeit erwartete weitere Katastrophen – Unglücke, die sie als Strafe für ein unmoralisches Leben interpretierte – und erliess das «Grosse Mandat», ein Regelwerk von knapp einhundert Seiten. Im Kapitel «Von der Hoffart» trichterte sie der Bevölkerung die korrekte Bekleidung ein. Unter den «Wyberkleidern» verbot sie seitenlang hoffärtige Kleider und Accessoires, so den Hinterfür aus Zobel oder mit Verzierungen aus Gold und Silber; Spitzen und Bändel unter dem Kinn; Zierwerk an Ärmeln und Kragen; offene Ärmel und Röcke aus Pelz; vergoldete Gürtel; mit Gold, Silber und Granat bestickte Kleider; Spitzen allgemein. Die Eltern und Hausväter ermahnte die Obrigkeit, bei ihren Kindern und Dienstboten das Verbot von seidenen Strümpfen, samtenen Mantelkragen, mit Silber beschlagenen Gürteln oder luxuriösen Hinterfüren durchzusetzen. Der Rat wollte die Ordnung zwischen Erwachsenen und Kindern, zwischen oben und unten klar markieren.

Viele Bürger bekundeten zunehmend Mühe mit der Disziplinierung und sahen immer weniger einen Sinn in Massnahmen, die das Misstrauen in der Bevölkerung schürten und Tür und Tor öffneten für Denunziationen. Immer häufiger setzten sie sich über Vorschriften hinweg und nahmen Bussen in Kauf. So werden es auch Anna Margarethas Eltern gehandhabt haben. Ihnen war offensichtlich wichtig, ihren Reichtum zu zeigen – den sie womöglich in fremden Diensten oder mit dem Verkauf von Kolonialprodukten erworben hatten. Ebenso ging es ihnen darum, ihr Standesbewusstsein zu demonstrieren: Auf dem Porträt sollte Anna Margaretha eine Oberschichtstochter verkörpern. Deshalb gaben sie dem Maler diesen Auftrag. Und dazu wählten sie einen guten Künstler, der den Wohlstand und die Schichtzugehörigkeit angemessen darstellen konnte.

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