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Hedwig, mit ihren beiden Kindern, den alten Eltern, dem Kindergrab auf dem Dorffriedhof, keine Nachricht von Richard, ihrem seit dem Winter in Rußland verschollenen Mann, mußte Arbeit finden, um bleiben zu dürfen, um nicht wieder weiterziehen zu müssen. Der Winter stand vor der Tür, es hieß, es würde ein strenger Winter werden, ihre Kinder brauchten ein Dach, das sie vor der Kälte schützen würde, sie brauchten die beiden winzigen Kammern, in denen sie nun hausten, auch wenn sie noch so elend waren, sie brauchten den eisernen Ofen, den man ihnen geschenkt hatte, um nicht zu erfrieren oder krank zu werden. Vor allem aber brauchten sie Lebensmittelkarten, wenn auch selten alles, was gegen Vorweis dieser Karten hätte zu bekommen sein müssen, wirklich zu bekommen war.

Wer im Besitz von Lebensmittelkarten war, bekam beinahe nichts, wer keine hatte, bekam überhaupt nichts, das war zwar kein sehr großer, aber doch ein wesentlicher Unterschied. Lebensmittelkarten bekam nur, wer im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung war, eine Aufenthaltsbewilligung erteilte man nur demjenigen, der Arbeit hatte. Es war ein Kreis, der sich in vielen Fällen nicht schließen ließ. In Hedwigs Fall, der kompliziert genug gewesen ist, hat er sich schließlich geschlossen, und daß dies geschah, verdankte sie jenen Soldaten der Roten Armee, die in den turbulenten Tagen rund um das Ende des Krieges nicht nur in Wohnhäusern und privaten Räumen Schranktüren eintraten, Schubladen aus Kommoden rissen, ihren Inhalt, soweit sie ihn nicht brauchen konnten, auf den Dorfstraßen verstreuten, sondern die dies auch in Fabriken, Bürohäusern und Werkstätten taten. In einem Bohrbetrieb jedenfalls, der drei Kilometer entfernt von Hedwigs neuem Wohnort lag, waren es unzählige Schrauben gewesen, HUNDERTTAUSENDE SCHRAUBEN, sagt Hedwig, die durcheinandergekommen und die nun wieder der Größe und Stärke nach zu sortieren waren, und man hatte ihr und noch einigen anderen Frauen erlaubt, diese Arbeit als bezahlte Hilfskräfte, dadurch zum Bezug von Lebensmittelkarten berechtigte Personen, zu verrichten.

Hedwig sortierte also Schrauben, bis in den Winter hinein, sie legte täglich zweimal den Weg von drei Kilometern zu Fuß zurück. (Wenn ich abends nach Hause kam, sagt sie, habe ich überall Schrauben gesehen, am Himmel, an den Häuserwänden, an der Zimmerdecke, wenn ich im Bett gelegen bin, sogar nachts habe ich von Schrauben geträumt.)

Josef und Anna hatten, solange auf den Feldern gearbeitet worden war, mitgeholfen, dafür immer wieder einige Kartoffeln, manchmal etwas Mehl oder sogar ein Stückchen Fleisch bekommen, Josef hatte in den umliegenden Wäldchen Klaubholz gesammelt, so daß ein kleiner Vorrat für den Winter zusammengekommen war. Verhungern, erfrieren würde man nicht.

Hedwig sah sich, nachdem alle Schrauben sortiert waren, nach einer neuen Beschäftigung um, hatte wiederum Glück, im Bohrbetrieb suchte man eine Köchin für die Werkskantine.

Was es bedeutet habe, für neunzig Männer zu kochen, wenn nichts zu kochen da war als zum Beispiel Wasser und Roggenmehl. Oder das Fleisch einer alten Kuh. Oder ein Haufen Knochen, die schon gestunken hätten. Oder ein Berg Krautköpfe, halb verfault.

Einmal habe sie so GENUG VON ALLEM gehabt, daß sie kündigen wollte. Aber die Männer hätten sie nicht gehen lassen, sie hätten keine andere Köchin gewollt.

Damals schien es, als würden sie bleiben, bis zu jenem Zeitpunkt jedenfalls, zu dem man ihnen erlauben würde, IN DIE HEIMAT zurückzukehren. Daß dies eines Tages der Fall sein würde, davon waren alle, vor allem die Eltern, fest überzeugt.

Wie sollten die da drüben jenseits der Grenze denn auf die Dauer ohne die Deutschen zurechtkommen, wer würde die Felder bebauen, die ihnen gehört hatten, wie würde man denn jene Dörfer besiedeln, in denen nur Deutsche gelebt hatten? Nein, eines Tages würde sich alles ändern, man würde zurückkehren, wieder miteinander leben, miteinander auskommen, sich wieder vertragen. Der amerikanische Präsident Truman hatte in einer Rede gesagt, man gehe EINER NEUEN UND BESSEREN WELT DES FRIEDENS UND DES INTERNATIONALEN GUTEN WILLENS ENTGEGEN.

Nur gut, daß man es, wenn zur Rückkehr aufgerufen würde, nicht so weit haben würde, NACH HAUSE. Gut, daß man in der Nähe der Grenze geblieben war.

Man lebte von einem Tag auf den anderen, man wartete auf ein Lebenszeichen derer, die verschollen waren. Richard zum Beispiel hatte im Sommer 1944 zum letztenmal Urlaub gehabt, war dann zu seiner Einheit zurückgekehrt, seither war kein Lebenszeichen von ihm gekommen. Er war VERMISST gemeldet, aber was hieß das schon. Er konnte in Gefangenschaft geraten, irgendwohin gebracht worden sein, wo eine Möglichkeit, sich zu melden, für ihn nicht bestand. Er konnte geflüchtet sein, desertiert, irgendwo untergetaucht, ein Versteck gefunden haben, die abenteuerlichsten Geschichten wurden erzählt. Er konnte verwundet worden sein, in einem Lazarett oder Krankenhaus, das von jeder Nachrichtenübermittlung abgeschlossen. abgeschnitten war, seiner Genesung entgegensehen. Es gab viele Möglichkeiten, die man sich ausmalte, vorstellte, einzureden versuchte. IN SOLCHEN ZEITEN KLAMMERT MAN SICH AN STROHHALME, sagt die Mutter. WENN RICHARD KOMMT, sagte Hedwig, und sie meinte damit: Dann würde es besser werden, dann würden sich die Verhältnisse normalisieren, dann würde jemand dasein, der in schwierigen Situationen Rat wußte, der sich zu helfen wußte, der ihnen allen helfen würde, dann würde das einen neuen Anfang bedeuten.

Um die Rückführung der Kriegsgefangenen zu beschleunigen oder zu ermöglichen, wurden Suchdienste eingerichtet. Hedwig schrieb ein Ansuchen, eine Suchmeldung nach der anderen. Richards Namen, sein Geburtsdatum, seinen Geburtsort, seinen militärischen Dienstgrad, seine letzte Anschrift und Feldpostnummer, das Datum des letzten Briefes, ihren eigenen Namen, ihren jetzigen Aufenthaltsort.

Sie schrieb an die Suchdienste der neu gegründeten Rundfunkanstalten, an das Rote Kreuz, sie bezahlte Einschaltungen in den Zeitungen: WER KANN AUSKUNFT GEBEN ÜBER MEINEN MANN, RICHARD S. …

Sie ging sogar mehrere Male nach Wien, immerhin eine Strecke von etwa vierzig Kilometern, um bei Suchstellen nachzufragen, bei dieser Gelegenheit Verwandte und Freunde aufzusuchen. Auf Briefe allein konnte und wollte sie sich nicht verlassen. Während das britische Postministerium erwog, Düsenflugzeuge zur Postbeförderung über den Atlantik einzusetzen, die bei einer Stundengeschwindigkeit von 740 Kilometern zwei Tonnen Postsendungen über eine Strekke von dreitausend Kilometern transportieren würden (diese Post würde New York in sechs, Kalkutta in zwölf, Johannesburg in vierzehn, Australien in vierundzwanzig Stunden erreichen), brauchte ein Brief von Mistelbach nach Wien im besten Falle zwei Wochen. Wenn so ein Brief dann auch tatsächlich ankam, trug er den runden Stempel der Zensurstelle. Man durfte nicht alles schreiben, was man gerne geschrieben hätte, man durfte nicht alles berichten, was man gerne berichtet hätte, man durfte nicht alles fragen, was man gerne gefragt hätte.

Vor allem teilte Hedwig allen Bekannten, Verwandten, allen, die Richard gekannt hatte und die ihn gekannt hatten, die Anschrift ihres neuen Aufenthaltsortes mit. WENN RICHARD KAM, mußte er, gleichgültig an wen er sich um Auskunft wandte, erfahren, wo seine Familie zu finden sei.

Richard kam nicht, aber andere kamen, standen plötzlich vor Haustüren, umarmten Frauen, die ihnen fremd geworden waren, küßten Kinder, die sie noch nie gesehen hatten. Die Kinder drückten sich verlegen in Zimmerecken, hielten sich ängstlich an den Röcken der Mütter fest. Die fremden Väter waren nach Hause gekommen, aber sie waren noch lange nicht zu Hause. Sie gingen wie verloren herum, nannten, wenn man sie fragte, manchmal einen Namen, ja, den oder jenen hätten sie noch vor Monaten irgendwo lebend gesehen, dann aus den Augen verloren, einer der noch Vermißten hatte ihnen aufgetragen, seinen Angehörigen mitzuteilen, in welchem Lager er sich befinde, daß er gesund sei, oder sie hatten diese Nachricht über Dritte zu übermitteln. Manchmal waren sie Todesboten, überbrachten Botschaften, die zu überbringen sie lieber unterlassen hätten, aber nicht unterlassen durften. Manchmal tauchte einer von ihnen kurz in einem Dorf auf, das er auf seiner Heimkehr zu durchwandern hatte, suchte nach einer bestimmten Familie, fand sie nicht gleich und ging weiter, weil es ihn dorthin zog, wo er zu Hause war. Dann konnte man Tage später in den Zeitungen lesen: JENER HEIMKEHRER, DER AM 12. OKTOBER DURCH X.; GEGANGEN IST UND NACH DER FAMILIE Y. GEFRAGT HAT, WIRD DRINGEND GEBETEN, SICH ZU MELDEN.

In den geplünderten, ausgeraubten Häusern fanden die Heimgekehrten in den wenigsten Fällen noch eines jener Kleidungsstücke vor, die sie getragen hatten, ehe man sie zu Soldaten machte. Ihre Frauen trugen dann die Uniformfetzen, die sie Jahre hindurch in Erdlöchern, Schützengräben, Unterständen, Tag und Nacht am Leib gehabt hatten, diese von Schweiß, von Nässe und Schmutz, manchmal auch von Blut verklebten, immer wieder mühsam gesäuberten Lumpen, von denen sie sich so gerne für immer getrennt hätten, in eine Färberei. Bestimmte Färbereibetriebe hatten sich ausschließlich auf das Umfärben von Soldatenuniformen spezialisiert, das Tragen von Kleidungsstücken, die als Uniformteile deutscher Soldaten erkennbar waren, hatten die Besatzungsmächte verboten.

Es kam auch vor, daß einer dieser unerwartet Heimgekommenen wieder fortging, wie jener Schneidermeister, dem ein Fremder die Tür öffnete, als er nach Hause kam. Nicht, daß der Schneider Angst vor Fremden gehabt hätte, aber dieser Fremde war nicht mehr fremd, er gehörte offensichtlich zum Haus und zu der in diesem Haus wohnenden Frau. Der Schneidermeister aus dem Dorf X., der bei minus vierzig Grad in russischen Winternächten, später auf dem Rückzug, später in einem Gefangenenlager, Gras und Blätter fressend wie ein Tier, um nicht zu verhungern, um HEIMKEHREN zu können, immer nur an dieses kleine Haus und an die in diesem Haus lebende Frau gedacht hatte, immer nur an diesen winzigen, auf keiner Landkarte auffindbaren Ort, der diese wenigen Quadratmeter ummauerten Raums gemeint hatte, wenn er das Wort HEIMAT aussprach oder dachte, dessen ganzes Denken auf diesen einen, einzigen Punkt fixiert gewesen war, sah sich um alles betrogen, was er für wiedersehenswert gehalten hatte. Er versuchte erst gar nicht, wenigstens einen Teil davon zurückzubekommen, was sein gutes Recht gewesen wäre, er war während der letzten Monate an Rückzug gewöhnt worden und setzte nun diesen Rückzug widerspruchslos fort.

Er ging nicht weit, nur bis zum nächsten Wäldchen, dort legte er seinen Tornister ins Gras, knüpfte einen Riemen an den Ast einer Akazie und erhängte sich.

5

Niemand von den heute noch Lebenden, die ich, Anna, danach gefragt habe, erinnert sich daran, ob die Vorhersage des Salzburger Wetterforschers eingetroffen ist, der für den 10. September 1945 eine merkwürdige Himmelserscheinung prophezeit hatte: Der an diesem Tag in Sonnennähe weilende Merkur würde einen Vorgang bewirken, den die Anhänger der Welteislehre mit dem paradoxen Satz DIE SONNE SCHNEIT beschrieben hätten. Die Erklärung dafür: Bei einer kurzen vorhergehenden Erwärmung eines schwachen gewittrigen Niederschlags oder bei der einem Niederschlag folgenden Abkühlung kann ein Anflug von Höhenschnee eintreten. Dieses von der Sonne verursachte Phänomen könne jedoch nicht nur durch Zustrahlung von Feineis, sondern auch DURCH DIE IRDISCHE WETTERMASCHINE, die eine erhöhte Elektronenausstrahlung auszulösen imstande sei, erklärt werden.

Das Wetter im frühen Herbst, heißt es allgemein, sei verhältnismäßig schön und vor allem warm gewesen. Dies ist, weil es wichtig war, im Gedächtnis geblieben. Keine Unwetter, keine kotigen, aufgeweichten Straßen und Feldwege, keine vom Regen durchnäßten Schuhe und Kleider. Erst der Oktober brachte Kälte und Wind, erst jene, die zugleich mit Hedwig und ihrer Familie unterwegs gewesen sind, haben unter schlechtem Wetter zu leiden gehabt. Anfang September gab es noch Nächte, in denen man am Rand eines Wäldchens oder einfach auf freiem Feld schlafen konnte, ein Kleiderbündel unter dem Kopf, die Kinder mit einer Jacke oder einem Mantel zugedeckt, auf einem mit Klaubholz genährten Feuerchen konnte man eine Suppe wärmen, in der Glut konnten Kartoffeln gebraten werden. Daß die Wege trocken waren, daß die Sonne noch warm vom Himmel schien, war wichtig, sonst nichts.

Wer ein Dach über dem Kopf hatte, wer geborgen war, wer sich dafür interessierte, was in der Welt geschah, konnte nun schon aus Zeitungen erfahren, was jene auf den Straßen Dahinziehenden nicht interessierte: Daß etwa in den ersten Septembertagen in einem Nürnberger Keller die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches aufgefunden worden war; oder daß von offizieller Seite betont worden sei, die Vereinigten Staaten hätten beschlossen, DAS GEHEIMNIS DER ATOMBOMBE NICHT PREISZUGEBEN, es würde nie zu anderen Zwecken verwendet werden als zur Erhaltung des Weltfriedens; oder daß sich in der englischen Presse warnende Stimmen äußerten, es sei nicht ratsam, Korea unmittelbar nach seiner Befreiung aus der japanischen Sklaverei seine Unabhängigkeit zu garantieren, indem man dem Volk volle Autonomie gewähre. Vielleicht haben Heinrich und Valerie jene Meldung gelesen, in welcher berichtet wird, daß eine Abordnung englischer Kirchenfürsten bei Englands Premierminister Attlee vorgesprochen und um Milderung DES BEKLAGENSWERTEN LOSES DER DEUTSCHEN FLÜCHTLINGE AUS POLEN UND DER TSCHECHOSLOWAKEI gebeten hätten. Premierminister Attlee erklärte, daß sich die britische Regierung mit der Flüchtlingsfrage ernsthaft befasse. Sie tue ihr Möglichstes, um die Schwierigkeiten zu überwinden, denen Europa im kommenden Winter entgegenstehe. In der BERLINER KONFERENZ habe man sich bereits auf Maßnahmen geeinigt und bis zur Beschlußfassung durch den Alliierten Rat in Deutschland weitere Ausweisungen von Deutschen verhindert.

Auch die Erklärung des tschechischen Staatspräsidenten Benesch zur Frage der Ausweisung der Deutschen werden sie vielleicht zur Kenntnis genommen haben, daß es mit der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei NUR UNÜBERBRÜCKBARE KOMPLIKATIONEN BEI DER DURCHFÜHRUNG EINER GEORDNETEN STAATSFÜHRUNG geben würde. Dieses Problem müsse im Einvernehmen mit den Großmächten geregelt werden. Oder: Obwohl zwischen den Ländern Österreich und Tschechoslowakei keine offiziellen Beziehungen bestünden, seien die tschechischen Behörden doch bereit, den tschechischen Staatsbürger österreichischer Nationalität ANDERS ALS DEN DEUTSCHEN UND DEUTSCHSPRACHIGEN TSCHECHEN zu behandeln. Zum Unterschied zu den Deutschen würden die Österreicher DIE GLEICHEN LEBENSMITTELKARTEN WIE DIE TSCHECHEN erhalten.

(Besonders jene zuletzt zitierte Bemerkung, die darauf hinwies, daß die noch in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen nur unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt würden, wird Heinrich mit großer Besorgnis erfüllt haben. Er hatte noch keinerlei Nachricht von seiner alten Mutter, die in Mährisch Trübau geblieben war.)

Am 12. September kam Heinrich von einem Krankenbesuch nach Hause und legte eine Zeitung auf den Tisch. Die Wiener Staatsoper, hieß es darin, das künstlerische Zentrum der Stadt Wien und damit ganz Österreichs, würde wieder aufgebaut werden.

Dem Baukomitee seien in den vergangenen Tagen von sowjetischer Seite zur Verfügung gestellt worden: zwei Millionen Schilling in bar, eineinhalb Millionen Ziegelsteine, dreihundert Tonnen Zement, dreißig Tonnen Dachblech, zweihundert Tonnen Stahlträger, vierhundertfünfzig Tonnen Stahl und Eisenarmaturen, zwanzig Tonnen Farbe und sieben Lastkraftwagen.

(Was der Wiederaufbau der rund dreißigtausend zerstörten oder schwer beschädigten Gebäude in Wien insgesamt kosten würde, konnte Anni in einer anderen, in Linz erscheinenden Zeitung lesen. Es würden etwa fünf Millionen Dollar zur Deckung der Kosten nötig sein. Man rechnete mit fünfundsiebzig bis achtzig Millionen Dachziegeln, ebensovielen Quadratfuß Glas, dreihundert Millionen Ziegelsteinen, dreihunderttausend Kubikmetern Holz, zwölftausend Tonnen Baustahl, zweihunderttausend Tonnen Zement. Außerdem würden achtzehntausend Kilogramm Leim und etwa neuntausend Tonnen Gips benötigt werden, der Wiederaufbau würde voraussichtlich sieben bis zehn Jahre in Anspruch nehmen.)

Es ist anzunehmen, daß die Meldung über den geplanten Wiederaufbau der Staatsoper Heinrich trotz (oder gerade wegen!) der alles andere als erfreulichen Situation, in der er sich zur Zeit befand, trotz (oder gerade wegen!) der Armut, in der er lebte, in besonderer Weise beschäftigt hat. Er wird durch diese Meldung in vielerlei Hinsicht an sein früheres Leben, an seine Jugend erinnert worden sein. Er wird an seine Studentenjahre in Wien gedacht haben, in denen er auch gehungert, trotzdem davon geträumt hatte, in der MUSIK- UND THEATERSTADT WIEN bleiben, dort leben zu dürfen. Der Wunsch wird in ihm wachgeworden sein, sich diesen Traum wenigstens jetzt, im zweiten Teil seines entzweigeschnittenen Lebens, zu erfüllen.

Schon Friederike, geboren im niederösterreichischen Furthof, Tochter des Feilenfabrikdirektors, der als Waisenkind in Prag Semmeln und Brot vor die Türen der Bürgerhäuser getragen hatte, schon Heinrichs Mutter also, hatte von Wien geträumt, später die viel kleinere Stadt Brünn des Theaters wegen als Ersatz hingenommen, Boskowitz, wohin ihr Ehemann versetzt worden war, gehaßt, Mährisch Trübau als eine Art Exil empfunden, in das man sie verbannt hatte, das sie angeblich niemals lieben konnte. (Später, wieder in Österreich lebend, hat sie immer Heimweh nach Mährisch Trübau gehabt!)

Schon Friederikes Mutter Amalia, Tochter des Mürzhofner Erbpostmeisters, hat in ihrem Tagebuch Wienbesuche als besondere Festtage eingetragen, schon Amalias Vater, vor dessen Gasthof die aus Wien kommenden Postkutschen hielten, reiste von Zeit zu Zeit gerne nach Wien, wie Amalia ihrer Tochter Friederike, diese wieder ihrem Sohn Heinrich berichtet hat.

In Heinrich erwachte der Wunsch seiner Jugendjahre nicht nur neu, er war stärker als zuvor. Aber nie war die Entfernung zwischen seinem Wohnsitz und dieser Stadt, in der er so gerne gelebt hätte, größer gewesen als jetzt, nie war die Aussicht auf eine mögliche Erfüllung seines Traumes geringer gewesen. Was für Anni galt, galt selbstverständlich auch für ihn, und es galt auch für Valerie. Er war ein Nichts, ein Niemand, ein Mensch, der nirgends mehr hingehörte. Wenn der Arzt, der vor der näherkommenden Front die Flucht ergriffen hatte, zurückkam, würde ihn auch hier im Dorf niemand mehr haben wollen, niemand mehr brauchen, er würde weiterziehen, das Land verlassen müssen. Das neue Gesetz sah die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft nur in Fällen von besonderem Staatsinteresse vor.

Nach Wien willst du, sagte Valerie, die von seinem Wunschtraum wußte, in Wien wartet niemand auf dich.

Nein, niemand wartete darauf, daß Heinrich und seine Frau nach Wien kamen, niemand suchte nach ihnen, niemand gab Suchanzeigen auf, um zu erfahren, ob sie noch lebten. Die Verwandten und Freunde hatten zu dieser Zeit andere Sorgen, sie trugen, was sie an Wertgegenständen besaßen, auf den Schwarzen Markt. BLACK MARKET nannten diesen Markt die Engländer und Amerikaner, die Zeitungen nannten ihn TUMMELPLATZ DER ASOZIALEN.

Zwölfhundert Schilling (oder immer noch Mark) für ein Kilogramm Schweineschmalz, hundertfünfzig Schilling für ein Kilo Mehl, achthundert für einen Liter Öl, fünfzehnhundert für ein Kilo Bohnenkaffee. Hätte Anni in Wien gelebt, dann hätte sie die Wahl gehabt, für die ihr monatlich bewilligten einhundertfünfzig Schilling (oder Mark) entweder fünfzehn Eier oder ein halbes Kilo Zucker oder achtundachtzig Dekagramm Pferdefleisch zu erstehen. Sie hätte auch für diesen Betrag in Linz an der Donau genau einhundert amerikanische Zigaretten kaufen, damit unter gefährlichen Umständen die Demarkationslinie passieren, die Zigaretten in Wien zu fünf Schilling je Stück wieder verkaufen können. Dabei hätte sie einen Gewinn von dreihundertfünfzig Schilling erzielt, für die sie wiederum dreiundzwanzig Deka Bohnenkaffee oder eineinhalb Kilo Brot oder eineinhalb Paar Damenstrümpfe bekommen hätte. Das Unternehmen hätte sich nicht gelohnt, ganz abgesehen davon, daß die Bewilligung zu einer Fahrt über die Zonengrenze immer noch ausschließlich jenen Personen erteilt wurde, die im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft waren, es lohnte sich nur in größerem Umfang. Ein Schleichhändler, den man festnahm, hatte in Linz zwanzigtausend Zigaretten gekauft und durch den Wiederverkauf in Wien bei einem einzigen Geschäft einen Verdienst von siebzigtausend Schilling gehabt.

WIR MÜSSEN GEWAPPNET SEIN, schrieb eine Linzer Tageszeitung im Oktober 1945, WENN BEI AUFHEBUNG DER DEMARKATIONSLINIEN SICH EINE FLUT VON SCHLEICHHÄNDLERN AUS DEM ÖSTLICHEN TEIL ÖSTERREICHS IN UNSER LAND ERGIESST. (Vorläufig konnte von einer Öffnung der Zonengrenzen allerdings keine Rede sein.)

Zurück in das Dorf W. bei Mistelbach im niederösterreichischen Weinviertel, wo die Verhältnisse für Leute, die nicht selbst einen Bauernhof besaßen, zwar nicht so trostlos wie in der Großstadt Wien, aber trostlos genug gewesen sind.

(Hedwig hat einmal auf dem Weg zur Arbeit eine Frau getroffen, die ihr erzählte, sie hätte jetzt mit ihrer Familie vierzehn Tage lang GANZ GUT gelebt, sie hätten EINEN HUND GEHABT.

So weit, sagte Hedwig, sind wir Gott sei Dank nicht gekommen.)

Zurück zu Heinrich, der Typhuskranke besucht, mutig und ohne die eigene Ansteckung zu fürchten, an ihren Betten sitzt, Geschlechtskranke mit unzureichenden Mitteln behandelt. (Das Penicillin war zwar erfunden, es stand jedoch in Österreich praktizierenden Ärzten kaum zur Verfügung.) Heinrich, der gegen Ruhrepidemien ankämpft, hochinfektiöse eiternde Hautausschläge, die rasch sich ausbreitende Krätze bekämpft, Eiterbeulen aufschneidet, Wunden verbindet, Gebärenden hilft, wenn es nötig ist, auch Zähne zieht, der eines Tages aus einem der Nachbardörfer heimkommt, sich auf einen der beiden hölzernen Sessel setzt, einen seiner Schuhe auszieht und feststellen muß, daß die durchlöcherte Sohle sich nun auch aus den Nähten gelöst hat, daß der total ruinierte Schuh nicht mehr reparierbar ist. (Ein Paar neuer Schuhe kostete auf dem Schwarzmarkt zu jener Zeit fünfzehnhundert bis zweitausend Schilling.)

Valerie, die, Tage vorher, im Nachbarhaus einen einzelnen Herrenschuh auf einer Truhe, Kommode, sonst einem Möbelstück von geringer Höhe stehen sah, diesen Schuh, den die Bäuerin behauptete, gefunden zu haben, den sie wegwerfen wollte, mitgenommen hat. Jetzt geht Valerie zum Schrank, nimmt diesen Schuh heraus, reicht ihn Heinrich, es ist ein linker Schuh, wie jener ruinierte, den Heinrich eben ausgezogen hat, er probiert den Schuh, er paßt. (Zu bemerken bleibt nur, daß dieser Schuh hellbraun gewesen ist, der andere, jetzt zerrissene Schuh dunkelbraun, daß auch die Form des einen Schuhes sich wesentlich von der des anderen unterschied.)

Ein Doktor, der mit zwei verschiedenfarbigen, verschieden gearbeiteten Schuhen zu seinen Patienten unterwegs ist? Zu jener Zeit und auf jenen Feldwegen, über die er bei jedem Wetter ging, ist das niemandem aufgefallen, und wenn es jemandem aufgefallen ist, hat es ihn nicht gestört. Nur Valerie konnte sich nicht damit abfinden, daß es, statt besser zu werden, immer noch abwärts ging.

(Welchen Kreisen haben die Damen angehört, die damals KLEIDER MIT BLUSIGEM RÜCKEN trugen, für den Nachmittag mit Valenciennes-Spitzen besetzt oder mit aufgenähten Stoffblumen verziert? Wer konnte sich jene Abendkleider leisten, die SPARSAMER ALS BISHER DIE REIZE SCHÖNER FRAUEN zeigten, die vorne hochgeschlossen, dafür am Rücken tief dekolletiert waren, BEVORZUGTE MATERIALIEN: BROKAT, TÜLL UND TAFT?

SEID GETROST, FRAUEN, schreibt der Verfasser des Modeartikels im WIENER KURIER, auch für euch wird bald die Zeit kommen, da ihr in beschränktem Ausmaß wieder einkaufen könnt!

Wer konnte die vielen aus Loden, aus Wolle, aus Seide und Brokat gefertigten Trachtenmodelle kaufen?

EINES STEHT FEST, hieß es, DIE RÖCKE WERDEN WEITER. Unter dieser Notiz, klein gedruckt, ein Hinweis: WIENER AUFGEPASST! ALLE VERBRAUCHER ÜBER 12 JAHRE ERHALTEN AUF ABSCHNITT M DER BROTKARTE 70 DEKA BROT!

Valerie besaß einen Rock, zwei Blusen, eine Strickjacke und ein vor Jahren in Bad Goisern von einem Schneider angefertigtes, jetzt an den Kanten schon abgewetztes Lodenkostüm. Andere allerdings hatten nicht einmal das. Heinrich hatte drei Hemden über die Grenze gebracht, es gab keine Waschmittel, Valerie hatte diese Hemden mit reinem Wasser auszuwaschen, ein bißchen Seife auf Kragen und Manschetten, dann hängte sie die Hemden im Hof zum Trocknen auf, zog sie zurecht, ein Bügeleisen hatte sie nicht.

Wir waren so arm, sagt die Mutter, daß sich das heute niemand mehr vorstellen kann.)

Der Tag, an dem Valerie zum zweitenmal das Nachbarhaus betrat, aus irgendeinem Grund, an den sie sich nicht mehr erinnert, nach der Bäuerin rief, keine Antwort erhielt, bis sie durch das Vorhaus weiterging, in den Hof. Valerie stand wie erstarrt, sie konnte nicht glauben, was sie da sah. Quer über den Hof waren, von einer Mauer zur anderen, Wäscheleinen gespannt. Aber an diesen Leinen waren nicht etwa Hemden, Socken oder Unterhosen des Bauern, der Bäuerin, ihrer Kinder, nein, da waren Herrenanzüge befestigt, sichtlich von guten Herrenschneidern gearbeitet, Damenkleider verschiedenster Machart, aus Wollstoff, aus Seide, ein Abendkleid, das keineswegs der kurzbeinigen Bäuerin gehören konnte, spitzenbesetzte Nachthemden hingen da und ein Morgenmantel aus Samt. Vor allem aber hingen, über die Wäscheleine geworfen, die Wäscheleine schwer belastend, eine Herausforderung für die Augen, zwei Damenpelzmäntel und ein Herrenwintermantel mit Innenfell.

Valerie stand bewegungslos, sie hätte sich gar nicht bewegen können, auch wenn sie die Absicht gehabt hätte. Sie sah die Bäuerin und eine Nachbarsfrau geschäftig hin- und herlaufen, weitere Wäschestücke, Kleider aus großen Kisten nehmen, über die Stricke werfen. So versunken waren die beiden in ihre Beschäftigung, so von ihr in Anspruch genommen, daß sie in ihrem Eifer die ungebetene Augenzeugin nicht bemerkten.

Valerie verfolgte ihre Bewegungen mit den Augen, registrierte: ein Sommerkleid, zweifarbig, mit Rüschen besetzt, ein roter Seidenrock, weiß getupft, eine Jacke aus Wollstoff, eine Seidenbluse. Wem immer dies alles gehören mochte, es war, nach immerhin siebenjähriger Kriegszeit mit Kleiderkarten und Bezugsscheinen, die man nur selten bekam, eine märchenhafte Garderobe.

Dann, endlich, blieben ihre Augen an einem braunledernen Gegenstand hängen, der in einer Ecke des Hofes auf dem Boden lag. Valerie stellte sofort aus der Entfernung fest, daß es sich nur um den zweiten, den fehlenden Schuh handeln konnte, ging hin, konstatierte, daß ihre Vermutung richtig gewesen war, hob den Schuh auf und hielt ihn noch in der Hand, als sich, in diesem Augenblick, die Bäuerin zu ihr umwandte.

Bilder, die unvergessen geblieben sind, die jetzt von der Mutter geschildert werden: das vor Schreck und Entsetzen verzerrte Gesicht der Bäuerin, ihre gestikulierenden Hände, mit denen sie Erklärungen zu unterstreichen versucht. Die mit hilflos herabhängenden Armen dabeistehende, ebenfalls erschrockene Nachbarsfrau. Die Wäschestücke, die im aufkommenden Herbstwind zu flattern beginnen, ein Wäschestück, das sich losreißt, von der Leine löst, in den Zweigen des breitästigen Nußbaumes hängenbleibt. Diese Sachen, erklärte die Bäuerin, fast schreiend vor schlechtem Gewissen, habe ihr jemand zur Aufbewahrung übergeben, sie seien im Hauskeller versteckt gewesen, hätten durch die Feuchtigkeit einen üblen Geruch bekommen, sie hätte das festgestellt und gefunden, daß man sie dringend lüften müsse.

Eine Pause entstand, gefährliches Schweigen hing in der blauen Herbstluft, Valerie stand immer noch unbeweglich, bis die Frau schließlich keifend erklärte, der Besitzer dieser Sachen käme sicherlich niemals wieder. Wenn er die Absicht gehabt hätte, wiederzukommen, oder vielmehr die Möglichkeit dazu, dann hätte er sich längst gemeldet, wenigstens seine Frau. Wahrscheinlich, fügte sie hinzu, seien die beiden längst tot.

Sie nannte den Namen des Mannes, der ihr die Kisten anvertraut hatte, und Valerie erstarrte zum zweitenmal. Sie hatte einen Namen gehört, den sie kannte. Sie drückte den Schuh an die Brust und verließ mit raschen Schritten das Haus.

Hier müssen familiäre Bezüge ins Gedächtnis gerufen werden.

Eine schon einmal in B. vom Vater auf ein Blatt Papier gezeichnete, im zweiten Teil seines Lebens mühsam rekonstruierte, aus rechteckigen Kästchen gefügte Pyramide muß aus der Schreibtischlade geholt, in den Lichtkreis der Lampe gebracht, betrachtet werden.

Annis Name im untersten Kästchen, rechts und links über ihrem Namen die Namen der Eltern, Heinrich und Valerie.

Schräg aufwärtsgezeichnete Linien führen zu Valeries Eltern Josef und Anna, zu Heinrichs Eltern Friederike und Adalbert, dann, darübergelagert, zum oberen Blattrand aufsteigend, sich verzweigend, in ungleich langen Ausläufern endend, der große, übrige Teil der Pyramide, Namen und Namen, die einmal zu Menschen gehörten, deren Gesichter nur noch vereinzelt auf alten Fotografien festgehalten, deren Schicksale nur noch zum Teil überliefert sind. Ihre Lebensläufe, ihr Glück und ihr Unglück, die Lichtpunkte und die tragischen Verkettungen, alles, was über sie in Erfahrung zu bringen war, ist schon einmal beschrieben worden. Trotzdem muß zurückgeblickt, angeknüpft werden, wo damals nicht fortgesetzt worden ist. Der Vater hat unter dem Namen seiner Mutter Friederike auch die Namen ihrer Geschwister eingetragen: Helene, Marie und Hermann. An Helenes Namen bleiben die Augen hängen. Sie war, nach kurzer Ehe mit einem Mann, der Postmeister und Stationsvorstand der Mariazellerbahn in einer kleinen niederösterreichischen Stadt bei Sankt Pölten gewesen ist, wieder geschieden worden, mußte den Sohn seinem Vater überlassen, zog nach Wien, der Sohn wurde vom Vater erzogen, ein wahrscheinlich nicht sehr glückliches Kind, in dessen Gegenwart der Name der Mutter nicht ausgesprochen worden ist, das die Mutter nicht sehen durfte, das, als es älter wurde, wahrscheinlich von jenem furchtbaren Verbrechen erfahren hat, welches die Mutter begangen hatte: Sie hatte sich, jung, schön, lebenslustig, von ihrem Mann vernachlässigt, in den Gemeindearzt verliebt. Ihr Sohn Hans war der erste der Blutsverwandten, den Heinrich damals in W. bei Mistelbach wiedergesehen hat.

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9783990650240
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