Читать книгу: «Die Berlinerin», страница 2

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„Klingt ziemlich anspruchsvoll. Für wen machen Sie das?“

„Für die Berliner Morgenpost. Von Hanau gingen wichtige revolutionäre Impulse aus.“

„Wieso interessiert man sich in Berlin dafür, was vor beinahe zweihundert Jahren in Hanau passierte?“

„Die Reportage ist Teil einer Serie über die gesamte deutsche Revolution.“

„Die gescheitert ist.“

„Wie fast alle Revolutionen.“

Sie schwiegen eine Weile. Erik schaute wieder zum Fenster hinaus, und während er die sonnenbeschienene Landschaft unter dem blauen, wolkenfreien Himmel in sich aufnahm, überkam ihn ein seit langem nicht mehr gekanntes Gefühl der Freiheit.

„Sie können in Fulda aussteigen und zurückfahren“, nahm Romy den Faden wieder auf. „Ehe Ihre Familie eine Vermisstenanzeige aufgibt.“

Erik sah sie an und schüttelte den Kopf. „Ich habe bis Berlin gelöst, und so einfach werden Sie mich nicht wieder los.“

„Ich fürchte, darüber werden Sie noch einmal nachdenken müssen, Mr. Crazy. Wem gehörte eigentlich das Kleid, bevor Sie es für mich vom Himmel fallen ließen?“

„Meiner Lebensgefährtin. Nadja. Sie ist darüber unglücklich und hat sich mit den Leuten von der Reinigung angelegt. Weil ich mich bei ihr damit rausgeredet hatte, man hätte es nicht finden können.“

Romy schwieg eine Weile. Sie schien beeindruckt zu sein, als habe sie eine wild konstruierte Lügengeschichte erwartet, die ihr einen plausiblen Grund unterjubeln sollte, weshalb Erik das Kleid ihr überlassen hatte und ihr eine Woche später bis in den Zug gefolgt war, vielleicht Floskeln wie „meine Frau und ich verstehen uns nicht mehr“ oder „sie hat den Fummel nur noch getragen, um andere Männer anzumachen“ oder „ich bin gerade Single, und das Kleid stammt noch von einer Verflossenen“. Doch offensichtlich nahm sie Erik beim Wort. „Zwischen Ihrem Mädel und Ihnen scheint es nicht mehr zu stimmen.“ Erik antwortete nicht. „Sie haben recht, Mr. Crazy, es geht mich nichts an. Wenn wir in Berlin sind, bekommen Sie das Kleid zurück und können es nach Hause mitnehmen. Ich werde Ihnen die Rückfahrt bezahlen, das fällt für mich unter abrechenbare Spesen. Sie haben mir eine wundervolle Geschichte geliefert, die ich aufschreiben und bei einem der Zeitungsverlage, für die ich arbeite, unterbringen kann.“

Erik hätte am liebsten aufgeschrien: Ich will das Kleid gar nicht zurückbringen, diesen Fetisch des ersten Kusses, dieses nostalgische Etwas, das für mich jede Bedeutung verloren und keine Versprechung gehalten hat, an das ich mich nicht einmal erinnern könnte, wenn Nadja es nicht in die Reinigung gebracht und damit dieses ganze Drama ausgelöst hätte. Ich wollte, sie hätten es in der Reinigung wirklich nicht gefunden. Ich wünschte, mit diesem Kleid wäre auch Nadja aus meinem Leben verschwunden …

Bei seinem letzten Gedanken erschrak Erik vor sich selbst. Er verwirrte ihn, und gerne wäre er ihn wieder losgeworden. Doch wie eine Gewehrkugel war er in sein Gehirn eingedrungen und steckte darin fest. Da war sie also, die Erkenntnis, die er zu ignorieren versucht hatte, weil es zu schmerzhaft gewesen wäre, sich ihr zu stellen. Weil er nicht den Mut hatte, mit Nadja Schluss zu machen und ihr das Herz zu brechen. Weil er nicht wusste, wie sein Leben ohne sie weitergehen sollte, mittellos wie er war.

Das seien Phasen, wie sie in jeder Beziehung vorkommen, hatte er sich jedes Mal beschwichtigt, wenn er sich unglücklich fühlte und ihn bei der Vorstellung, sein Leben wie jetzt weiterführen zu müssen, der blanke Horror überfiel. Aber das Kleid, dieses vermaledeite Kleid! Wie der Schlüssel zu einer verbotenen Tür hatte es einen Raum geöffnet und Erik gezwungen, einzutreten und das darin Verborgene anzuschauen. Seine spontane Handlung, es zu verschenken, war mehr als eine Laune gewesen, mehr als die Bewunderung für eine attraktive Frau, die er gar nicht kannte: Es war eine Symbolhandlung gewesen, erwachsen aus einer in Eriks Unterbewusstsein schlummernden Wahrheit, die sich ihm jetzt glasklar offenbarte.

Er wollte kein Hausmann mehr sein, sich nicht jeden Tag wie ein Laufbursche in die Stadt schicken lassen, nicht mehr mit ansehen, wie Nadja abends ausgelaugt von der Arbeit nach Hause kam, kaum ein Wort mit ihm wechselte, todmüde ins Bett fiel und ihn allein vor dem Fernsehgerät sitzen ließ. Nach dem Tod seiner Mutter hatte er nie wieder von jemandem abhängig sein wollen, aber genau das war ihm passiert. So schleichend, dass er es anfangs nicht bemerkt hatte. Doch inzwischen war es ihm bewusst geworden, und er hatte diesen Zustand satt, restlos satt. Das war die unbequeme, nackte und kompromisslose Wahrheit.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Romys Stimme schien von weit her zu kommen. Erik nickte kurz. „Worüber haben Sie denn so intensiv nachgedacht? Sie sahen einen Moment lang ziemlich grimmig aus.“

„Ich dachte darüber nach, was ich Nadja erzählen soll, wenn ich nach Hause komme“, log Erik. „Weshalb ich so lange weg war. Nichts Verrücktes, sondern etwas, das sie mir abnehmen kann.“

„Knifflige Sache, scheint mir.“

„Haben Sie eine Idee?“

„Nein, aber einen Rat: Sagen Sie Ihrer Nadja, in der Reinigung habe man einen Fehler gemacht und das Kleid der falschen Kundin ausgehändigt, Sie seien dann zufällig der Frau begegnet, die es getragen hat, und ihr gefolgt, um es zurückzuholen.“

„Bis nach Berlin?“

„Wohin denn sonst? Oder was tun Sie gerade?“

„Sie haben gut spotten! Nadja wird mich in Stücke reißen, wenn ich ihr das gestehe. Haben Sie keine Idee auf Lager, die weniger erklärungsbedürftig ist?“

„Besser nicht, Herr Durante. Die beste Idee ist die Wahrheit, denn an ihr wird am meisten gezweifelt. Das weiß ich aus Erfahrung. Zu Hause werden Sie eine Feuerprobe zu bestehen haben, darauf sollten Sie sich gefasst machen. Also fangen Sie nicht mit Schwindeleien an, in die Sie sich nur verstricken würden. Erzählen Sie Nadja einfach, wie es wirklich gewesen ist, und zwar, so oft sie will. Sie wird immer die gleiche Geschichte hören, weil sie wahr ist.“

Erik dachte eine Weile über Romys Worte nach, ehe er auf sie einging. „Hört sich ziemlich klug an, Romy Bonero. Und schließlich: Was ist denn schon passiert?“

Prenzlauer Berg

Erik und Romy standen auf dem Washington-Platz vor dem modernen Bau des Berliner Hauptbahnhofs, der die Stelle des ehemaligen Lehrter Bahnhofs eingenommen hatte. Sobald der Strom der Reisenden sich aus dem Gebäude ins Freie ergossen hatte, verlor er sich auf dieser riesigen Fläche in Richtung Südost, denn vor allem für die jugendlichen Rucksacktouristen war es wegen der zentralen Lage des Hauptbahnhofs keine Anstrengung, alle Ziele im Herzen von Berlin Mitte zu Fuß zu erreichen und somit das Fahrgeld für die Schnellbahn zu sparen.

„Und was jetzt, Mr. Crazy?“ Romys Tonfall hatte nichts von ihrem milden Spott eingebüßt.

Erik hob die Schultern. „Keine Ahnung.“

„Habe ich mir gedacht. Wieviel Geld haben Sie noch?“

„Nicht viel, aber ich kann jederzeit Bargeld vom Automaten abheben oder mit meiner EC-Karte bezahlen.“

„Sehr schön. Wir nehmen jetzt ein Taxi zum Prenzlauer Berg, und dann suchen wir für Sie ein Hotel. Morgen früh können Sie das Kleid Ihrer Freundin bei mir abholen. Was Sie ihr zu Hause erzählen können, wissen Sie ja bereits.“

Erik zupfte sich am Ohrläppchen. „Bis auf eine Kleinigkeit, über die ich nochmal gegrübelt habe.“

„Und die wäre?“

„Jeder Kunde einer Reinigung kann durch die Folie sehen, was er ausgehändigt bekommt. Jedenfalls war das Nadjas Überlegung, und wenn ich darüber nachdenke, hatte sie recht. Eine Verwechslung ist praktisch ausgeschlossen. Also wie soll ich ihr plausibel erklären, dass Sie es trotzdem in der Reinigung angenommen haben?“

Romy sah ihn spitzbübisch an. „Habe ich doch gar nicht, Mr. Crazy.“

Erik rollte die Augen. „Natürlich nicht, aber …“

„Sagen Sie ihr, mir habe das Kleid besser gefallen als mein eigenes, und zufällig hatte es meine Größe.“

„Ich weiß nicht recht. Das klingt ziemlich weit hergeholt. Haben Sie keine andere Idee, die glaubhafter klingt?“

„Zufällig gerade nicht. Sie müssen sich wohl selbst etwas einfallen lassen, Mr. Crazy. Zeit genug haben Sie ja während der Rückfahrt.“

„Ich fahre nicht zurück.“

Romy zeigte sich von Eriks spontaner Äußerung überrascht. Das war eine neue Entwicklung. „Warum nicht?“

„Ich will Sie näher kennenlernen.“

„Wozu?“

„Sie interessieren mich.“

„Das ist wirklich eine originelle, erschöpfende Begründung.“

Erik ignorierte die Ironie in Romys Worten, nicht willens, sich den Instanzen zu beugen, die man als Vernunft und Verstand bezeichnet. „Jedenfalls fahre ich nicht gleich morgen nach Hanau zurück. Ich bleibe in Berlin, wenigstens für ein paar Tage. Außerdem will ich Sie zum Abendessen einladen.“

Romy schüttelte missbilligend den Kopf. „Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Mr. Crazy. Ich kenne Sie erst seit wenigen Stunden und muss völlig neben der Spur sein, mich überhaupt noch länger mit Ihnen abzugeben.“ Entschlossen packte sie den Griff ihres Rollkoffers und ging los, so dass Erik nichts anderes übrigblieb, als hinter ihr herzutrotten.

An der Westseite des Hauptbahnhofs nahmen sie ein Taxi, dessen Fahrer ein halsbrecherisches Tempo einlegte, um möglichst viele Grünphasen zu nutzen. Innerhalb von fünfzehn Minuten erreichten sie die U-Bahn-Station Schönhauser Allee im Bezirk Prenzlauer Berg, bogen in die Wichertstraße ein und hielten nach wenigen Metern vor einem Altbau.

Erik folgte Romy in den dritten Stock. Sie schloss die Tür zu ihrer Wohnung auf und wurde, kaum dass sie einen Fuß in den Flur gesetzt hatte, mit dem eindringlichen Miauen einer graugetigerten Katze begrüßt, die ihr um die Beine strich und den Kopf an ihren Waden rieb.

„Hallo, Lilly, mein Liebling. Da bin ich wieder.“

Romy stellte ihren Koffer ab und nahm die Katze auf den Arm. Doch als Erik in den Flur trat, fuhr Lilly erschrocken ihre Krallen aus, stemmte sich gegen Romys Brust, sprang ihr vom Arm und flüchtete ins Wohnzimmer.

„Sie braucht eine Weile, sich an Fremde zu gewöhnen. Erst recht, wenn es sich um Männer handelt. Tiefe Stimmen machen sie misstrauisch.“

„Sie haben die Katze tagelang allein gelassen?“

„Wofür halten Sie mich, Mr. Crazy? Lilly nimmt in meinem Leben den ersten Platz ein. Sie wird, wenn ich weg bin, von einer Nachbarin versorgt. Gehen Sie ins Wohnzimmer und setzen Sie sich. Ich mache uns Kaffee. Wie trinken Sie ihn?“

„Schwarz.“

„Genau wie ich.“ Mit diesen Worten entschwand Romy in die Küche.

Erik nahm auf der Couch Platz und sah sich im Wohnzimmer um. Es gab nur wenige Möbel, modern, hell und kühl im Design, dafür allerlei Dekorationsstücke und Schnickschnack: ein Schaukelpferd aus Holz, dessen Farben an vielen Stellen abgeblättert war; ein alter Schlitten, der als Blumenbank diente; eine dreibeinige Studiolampe, wie Beleuchter sie für Filmaufnahmen verwenden; eine chinesische Bodenvase mit Baumwollzweigen, an denen noch die weichen, faserigen Kugeln hingen. Auf einem Hängeregal waren vor den Bücherrücken Figuren und Figürchen aufgereiht, wahrscheinlich Reisesouvenirs und Erinnerungen an die Kindheit. Jede Menge Katzenfiguren: Romy war zweifellos eine Katzennärrin.

Erik fiel ein silberner Bilderrahmen ins Auge, der ganz oben auf dem Hängeregal stand. Er enthielt das Foto eines dunkelhaarigen, gutaussehenden Mannes mittleren Alters, dessen Anblick Erik ein mulmiges Gefühl verursachte.

„So, hier kommt der Kaffee.“ Romy stellte das Tablett mit den gefüllten Kaffeetassen und einer Schale mit Schokoladenkeksen auf dem Clubtisch ab. Erik nahm einen Keks und biss hinein. „Sie sind verheiratet?“

Romy lachte, als habe er einen Witz gemacht. „Ich? Wie kommen Sie darauf? Sieht meine Wohnung aus, als gäbe es hier noch jemanden außer mir? Abgesehen von Lilly.“

„Aber das Foto … dort oben auf dem Bücherregal …“

Im nächsten Moment wich die Unbekümmertheit aus Romys Gesicht, und sie senkte die Augen. „Mein Vater“, flüsterte sie. „Er ist schon lange tot. Ich war zwölf Jahre alt, als er starb. Er war achtunddreißig.“

Erik schwieg, sauer auf sich selbst, dass er mit seiner Neugier die Stimmung getrübt hatte. Aber er wollte nicht nur, sondern musste wissen, ob es in Romys Leben einen Mann gab, eine Frage, die ihm bis zur Konfrontation mit dem Foto nicht in den Sinn gekommen war.

Stumm tranken sie ihren Kaffee. Romy stellte die leeren Tassen auf das Tablett zurück und stand auf. „Ich hole Nachschub. Nach der langen Fahrt ist mir danach.“

Als sie zurückkam, hatte sie außer den Tassen mit frischem Kaffee zwei gefüllte Cognacschwenker auf dem Tablett. „Sie trauen sich nicht, danach zu fragen, warum mein Vater so jung gestorben ist, nicht wahr.“

„Ich will Ihnen nicht weh tun.“

„Das können Sie gar nicht. Es tut weh, immer, Tag für Tag.“ Sie machte eine kurze Pause, ehe sie freiwillig fortfuhr. „Er war bei der Polizei. Schon als Kind hatte er davon geträumt, Polizist zu werden. Er liebte seinen Beruf. Eines Tages klingelten zwei Kollegen an unserer Tür und sagten meiner Mutter, dass er während eines Einsatzes erschossen wurde.“

„Sie hingen an Ihrem Vater?“

„Sehr. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn man einen Menschen verliert, den man über alles liebt? Den man für das Beste in seinem Leben gehalten hat?“

Erik nickte. „Bei mir war es die Mutter. Ein Autounfall.“

Romys Augen wurden feucht, aber sie hatte sich im nächsten Moment wieder im Griff. „Das tut mir leid“, murmelte sie und nahm die beiden Cognacschwenker mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit vom Tablett. „Hier, nehmen Sie. Den können wir jetzt gebrauchen.“

Während sie ihren Cognac nippten, tauchte die Abenddämmerung das Zimmer langsam in ein Halbdunkel. „Haben Sie ein Mobilphone dabei?“ Als wisse sie die Antwort bereits, setzte Romy ihren Schwenker auf das Tablett zurück und griff nach dem Festnetzapparat auf dem Beistelltisch.

Erik schüttelte den Kopf. „Liegt zu Hause. Bei kurzen Wegen brauche ich es nicht.“

„Von kurzen Wegen kann inzwischen keine Rede mehr sein, Mr. Crazy.“ Entschlossen hielt sie ihm das schnurlose Telefon hin. „Es ist neun Uhr vorbei, und Ihre Freundin macht sich bestimmt Sorgen. Sagen Sie ihr, wo sie stecken und dass Sie morgen nach Hause kommen werden.“

Erik schüttelte energisch den Kopf. „Ich bleibe in Berlin. Und anrufen kann ich morgen noch.“

„Sie Sturkopf! Ist Ihnen denn nicht klar, was Sie auslösen können?“

„Was denn?“

„Ihre Freundin wird überall anrufen und nach Ihnen fragen, aber niemand weiß etwas. Also wird sie die Polizei alarmieren und Sie als vermisst melden. Vielleicht hat sie es bereits getan und eine Fahndung ausgelöst. Nicht nur Nadja, sondern alle ihre Freunde, Bekannte und Familienmitglieder sind beunruhigt und werden …“

„Hören Sie auf!“

Zornig warf sie das Telefon neben Erik auf die Couch. Als er es nach einigem Zögern in die Hand nahm, stellte sie die leeren Tassen und die beiden Cognacschwenker auf das Tablett und begab sich damit in die Küche, um die Diskretion zu wahren. Erik tippte seine Hanauer Festnetznummer ein und hoffte inbrünstig, Nadja möge nicht zu Hause sein.

Sie weinte. „Wo steckst du? Ich habe mir deinetwegen fürchterliche Sorgen gemacht. Gerade wollte ich die Polizei anrufen.“

Mit allem hatte er gerechnet, mit einem Wutanfall, Vorwürfen, Drohungen, Unterstellungen – aber nicht mit angstvollem Schluchzen. Das passte nicht zu Nadjas Temperament. Er war von ihrer Reaktion dermaßen überrascht, dass es ihm die Sprache verschlug.

„Erik?“

Er nahm sich zusammen. „Tut … tut mir leid, Schatz. Du musst nicht weinen. Mit mir ist alles in Ordnung. Es ist nur so, dass ich … Also, ich bin in Berlin.“

Einige Sekunden lang hörte er nur Nadjas Schniefen, ehe sie konsterniert fragte: „Berlin? Was machst du denn in Berlin?“

Erik beherzigte Romys Ratschlag, die Wahrheit zu sagen. „Ich bin einer Frau nachgegangen.“

„Einer Frau? Weswegen?“

„Sie hatte dein Kleid an. Das aus der Reinigung.“

„Was hat das mit Berlin zu tun?“

„Sie wohnt in Berlin. In Hanau hatte sie nur beruflich zu tun. Als ich sie zufällig auf dem Markt sah, war sie auf dem Weg zum Bahnhof, um nach Berlin zurückzufahren.“

Nadja hatte aufgehört zu weinen. „Du Ärmster. Du wolltest mir mein Kleid zurückbringen und musstest deswegen bis nach Berlin fahren?“

„Ich konnte von dieser Frau schlecht verlangen, dass sie es am Hauptbahnhof in aller Öffentlichkeit auszieht.“

„Sie hätte in die Damentoilette gehen können.“

„Und womöglich ihren Zug verpasst …“

Nadja wirkte jetzt spürbar entspannter. „Wann kommst du nach Hause?“

„Morgen, Schatz, gleich morgen. Mit dem Kleid.“

„Ich liebe dich.“

Erik schluckte. „Bis morgen.“

Er stellte das Telefon auf die Ladestation zurück und ging in die Küche. Romy war nicht mehr hier. Die beiden Schwenker hatte sie auf einem Servierwagen abgestellt, auf dem auch die Cognac-Flasche stand. Erik nahm die Flasche und einen der Schwenker, goss sich einen ordentlichen Schwung ein und nahm einen tiefen Zug. Besser fühlte er sich danach nicht. Er hatte sich nicht nur von Nadjas Weinen im Handumdrehen entwaffnen lassen, sondern sie auch „Schatz“ genannt, und seitdem beherrschte ihn ein vages Unbehagen, als habe er eine nicht greifbare Schuld auf sich geladen.

Er fand Romy in ihrem Arbeitszimmer. Sie saß am Computer und bewegte die Maus hin und her.

„Der Zarenhof in der Schönhauser Allee hat Zimmer zu akzeptablen Preisen frei. Ich habe online für eine Nacht gebucht.“

Romy schrieb ihm die Reservierungsnummer auf einen Zettel. „Zu Fuß braucht man von hier bis zum Hotel etwa zwanzig Minuten. Ich werde Sie begleiten.“

„Und dann alleine nach Hause zurückgehen? Das kommt nicht in Frage.“

„Machen Sie sich keine Sorgen, wir sind hier nicht im Wilden Westen, sondern in Berlin. Ich bin an das Nachtleben dieser Stadt gewöhnt, und für Berliner Verhältnisse ist es noch früh am Tag.“

„Schreiben Sie mir Ihre Telefonnummer auf?“

„Wozu?“

„Ich will anrufen, um sicherzugehen, dass Sie unbehelligt nach Hause gekommen sind.“

Romy lächelte nachsichtig. „Hören Sie, Mr. Crazy: Ich brauche schon lange kein Kindermädchen mehr. Ich bin in dieser Stadt aufgewachsen und absolut sicher. Kommen Sie morgen zum Frühstück, sagen wir um neun Uhr. Wenn wir damit fertig sind, übergebe ich Ihnen Nadjas Kleid und bestelle ein Taxi, das Sie zum Hauptbahnhof bringen wird.“

„Also gut, keine Telefonnummer. Dann machen wir es halt umgekehrt, und Sie rufen mich im Hotel an, wenn Sie wieder zu Hause sind. Bitte …“

Romy schüttelte lächelnd den Kopf. „Keine Chance, Mr. Crazy. Ich bin für mich selbst verantwortlich, und dabei soll es bleiben.“

Hart wie Granit, dachte Erik, widersprach aber nicht weiter. Als er eine Stunde später in seinem Hotelzimmer auf dem Bett lag und in die Dunkelheit starrte, fühlte er eine Mischung aus Enttäuschung und Verzweiflung in sich aufsteigen. Nichts war gelaufen, wie er es sich vorgestellt hatte, und wenn er in Gedanken den Tag passieren ließ, kam er sich wie der größte Narr vor, der jemals Berliner Boden betreten hatte.

Aber was hatte er auch erwartet? Seine Handlungen waren spontan verlaufen, und sicherlich hatte er jedes Mal ein Motiv gehabt. Wie sehr er auch versuchte, scharfe Bilder dieser Motive zu gewinnen, sie blieben verschwommen. Klar war ihm nur eins geworden: Er musste sein Leben ändern. Selbständig werden. Arbeiten. Geld verdienen. Aber wie sollte das ohne Studienabschluss und Berufserfahrung funktionieren? Der Weg zurück zur Universität war ihm aus finanziellen Gründen verwehrt, außerdem würde ihn die Fortsetzung des Studiums Jahre kosten, wertvolle Zeit, die er nicht zu verlieren hatte.

Während er vergeblich darauf wartete, dass ihn Müdigkeit überkam und entspannte, stiegen wie aus dem Nichts Bilder aus der Vergangenheit in ihm auf, als wollten sie ihm die Augen öffnen, wie das Problem zu lösen sei. Eine wachsende Unruhe erfasste ihn, und das Pochen seines Herzens stieg bis in seine Schläfen. Er verspürte den Drang, aus dem Bett zu springen und irgendetwas zu tun, um seinem inneren Brodeln ein Ventil zu verschaffen. Aber was hätte er hier und jetzt Sinnvolles anstellen können? Er musste warten, bis er wieder in Hanau war, ehe er den Versuch unternehmen konnte, seine noch vagen Fantasien erst in klare Bilder und dann in die Tat umzusetzen.

Nachdem er dreimal auf seine Armbanduhr gesehen hatte, kam er zu der Einsicht, dass sich nichts im Leben mit einem Fingerschnippen herbeiwünschen lässt. Seine Gedanken begannen langsamer zu kreisen, und allmählich wurde er müde. Gebettet in die Zuversicht, einer Idee zum Greifen nahe zu sein, die seinem Leben eine Wendung geben könnte, schlief er in den frühen Morgenstunden ein.

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