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In einfachen Gesellschaften, die aus ähnlichen Segmenten bestehen – Durkheim charakterisiert diese Form der Organisation mit dem Begriff der »mechanischen Solidarität« –, bilden diese (zumeist religiösen) kollektiven Vorstellungen ein Kollektivbewusstsein, das sich mit dem der meisten Individuen weitgehend überschneidet. Unter einem Kollektivbewusstsein versteht Durkheim die Gesamtheit der gemeinsamen Überzeugungen und Gefühle der Mitglieder einer Gesellschaft. Das Kollektivbewusstsein bezeichnet den sozialen Ursprung, den das Denken und Fühlen aller Individuen hat. Tatsächlich scheint Durkheim hier eine Art »Gruppengeist« vorzuschweben, der eine eigenständige Wirklichkeit hat. Das Kollektivbewusstein ist [70]deswegen sehr eng mit der Integration der Gesellschaft verknüpft. Ja man kann hier die Regel aufstellen: Je ähnlicher sich individuelles und kollektives Bewusstsein sind, je stärker die Zustände des kollektiven Bewusstseins sind und je bestimmter die Glaubensüberzeugungen und Rituale sind, desto stärker sind die Einzelnen in die Gesellschaft integriert.

Je komplexer aber die soziale Struktur einer Gesellschaft ist, umso verwickelter wird auch der Zusammenhang zwischen Kollektivbewusstsein und Gesellschaft. So zeigt Granet7 im Anschluss an Durkheim, wie die alte chinesische Hochkultur von Leitideen beherrscht ist, deren Genese ebenfalls auf sozialen Kategorien beruht. Die chinesischen Begriffe der Zeit widerspiegelten die dynastische und feudale Struktur des alten China. Anstatt einer linearen Zeit sei ihr Sinn von der Ordnung der Epochen und Phasen geprägt, die mit der dynastischen Abfolge verbunden werde. Der Ursprung etwa der Einteilung von Yin und Yang liege in halbjährlich stattfindenden Zeremonien, in denen die soziale Struktur nach dem Geschlechterprinzip aufgeteilt werde. Auch der Raum sei von der feudalen Gesellschaft bestimmt, die das Muster eines hierarchischen Bundes und einer heterogenen Ausbreitung vorgebe. Die fortschreitende Differenzierung bzw. Arbeitsteilung der Gesellschaft löse diese Struktur des Wissens allmählich auf.

Durkheim blickt jedoch vor allem auf die moderne Gesellschaft. Sie ist hochgradig arbeitsteilig, und ihre Elemente bestehen nicht mehr aus gleichartigen Gliedern (Klanen, Phratrien, Stämmen). Da sie vielmehr aus verschiedenen, einander funktional ergänzenden Elementen aufgebaut ist8, schwindet die Anzahl gemeinsamer Vorstellungen, gemeinsamer Werte und gemeinsamer Rituale. Durkheim redet hier von »organischer Solidarität«. An die Stelle der kollektiven Repräsentationen des Religiösen können nun auch andere Formen des Wissens treten: Die Wissenschaft löst das religiöse Wissen ab, die politischen Rituale ersetzen die religiösen. Die Mitglieder der Gesellschaft sind durch die Arbeitsteilung zwar voneinander abhängig, sie teilen aber immer weniger kollektive Vorstellungen, ihr Kollektivbewusstsein nimmt in dem Maße ab, wie die Individualisierung zunimmt. »Der Mensch wird beweglicher, wechselt leichter die Heimat, verlässt die Seinen, um anderswo ein autonomeres Leben zu führen und bildet sich mehr eigene Ideen und eigene Gefühle.«9 Die Individualisierung verringert die Integration und erhöht die Gefahr der Anomie, weil nun das Individuum selbst zum Gegenstand der religiösen Verehrung wird.

Wie Wilhelm Jerusalem im Anschluss an Durkheim vermutet, geht mit der Individualisierung auch eine Intellektualisierung der Seele einher. Er betrachtet sogar die Denkmöglichkeit empirischer Tatsachen als Folge der Individualisierung. Denn erst sie schaffe jenes einsam beobachtende und wissende Individuum, das die Erkenntnistheorie immer schon voraussetze. Die soziale Differenzierung führe also zu einer [71]Individualisierung des Denkens und damit – als Folge dieser sozialen Entwicklung – zur Universalisierung der Erkenntnis.10

Auch für Durkheim spiegelt die Denkfigur der individuellen Erkenntnis die Struktur einer individualistisch gewordenen Gesellschaft wider. In der Tat ist die Vorstellung der Widerspiegelung zentral für das Verhältnis von Wissen und Denken zur Sozialstruktur bei Durkheim. Diese Spiegelung der Gesellschaft wird durch kollektive Repräsentationen geleistet. Die Gesellschaft wird repräsentiert, indem Zeichen für sie gesetzt werden: Sie wird symbolisiert und ritualisiert. So ist der Kult etwa ein Zeichensystem, durch das der Glaube nach außen übersetzt wird und zugleich eine Sammlung der Mittel, durch die die kultische Gruppe sich immer wieder bestätigt. Dadurch erlauben die Repräsentationen die kognitive, geistige Erfassung der Gesellschaft und der sozialen Beziehungen in ihr. Überdies kann man sagen, dass kollektive Repräsentationen der Gesellschaft einen Ausdruck verleihen, ihr also erlauben, sich gleichsam für sich selbst zu inszenieren. So dienen etwa kommemorative Riten dazu, die gemeinsame Vergangenheit in die Erinnerung der einzelnen Person zu bringen. Kollektive Repräsentationen erfüllen dadurch verschiedene Funktionen für die Gesellschaft. Neben der normativ-integrativen Funktion des Kollektivbewusstseins11 haben sie eine psychologisch-kognitive Funktion: Sie strukturieren das Denken des Einzelnen und leiten seine Gefühle und Empfindungen.12 Weil sich religiöse Vorstellungen auf soziale Gruppen, ihre Werte und Normen beziehen, stellen sie ein Mittel zum Verständnis gesellschaftlicher Abläufe dar. Zeremonien, Totems oder Rituale stehen gewissermaßen für die Klane und andere gesellschaftliche Gruppen. Zwischen der Sozialstruktur und den kollektiven Ideen besteht also eine Korrespondenz.

Das Verhältnis von Wissen und Sozialstruktur verläuft offenbar analog dem Verhältnis von Basis und Überbau. Deswegen ist es sicherlich nützlich, sich kurz mit diesem korrelativen Verhältnis noch etwas eingehender zu beschäftigen, das mit dem Begriff der Spiegelung nur sehr ungenau bezeichnet wird. In Durkheims Schriften finden sich mehrere Vorstellungen dieses Verhältnisses, wobei in allen Fällen die soziale Struktur einen Vorrang vor den Wissenskategorien und Denkformen [72]einnimmt.13 Zum einen gibt es »strukturale Korrespondenzen«14: Die Wissens- und Denkformen sind gleichsam die bildlichen Übersetzungen der Sozialstruktur. Zum Zweiten aber meint Durkheim zuweilen auch, dass die beiden Aspekte durchaus in einer kausalen Beziehung stehen, wobei die Sozialstruktur als Ursache auftritt. Menschen klassifizieren Dinge, weil sie in Klassen eingeteilt sind. Diese kausale Vorstellung ist nicht identisch mit der funktionalen, derzufolge kognitive (z.B. Zeit-) Kategorien eine ordnende Funktion für das gesellschaftliche Leben spielen. Kalender etwa drücken nicht nur den Rhythmus des kollektiven Lebens aus; sie sichern auch die soziale Regelmäßigkeit. Lukes ist der Auffassung, dass dies wiederum nicht identisch damit ist, dass die Repräsentationen nach dem Muster der Sozialstruktur modelliert sind.15 Schließlich sind die Repräsentationen Sinngeber der Sozialwelt, sie bilden eine Art Raster, das der sozialen Welt erst einen umfassenden Sinn verleihen kann.

Durkheims These der Spiegelung wurde scharf kritisiert. Insbesondere die Annahme einer kausalen Beziehung zwischen Kategorien und Sozialstruktur ist heftig umstritten, zumal schon eine Reihe seiner empirischen Belege nicht zu stimmen scheinen. Überdies gilt auch Durkheims Annahme einer Parallelität von Wissen und Sozialstruktur als recht überzogen, zumal fraglich ist, ob eine Gesellschaft zu einem Zeitpunkt nur über ein Klassifikationssystem verfügt. Durkheim wurde vielfach eine Art »Korrespondenztheorie des Wissens« oder ein soziologischer Naturalismus, ja Soziologismus vorgehalten, weil er kollektive Repräsentationen bloß als Oberflächenmanifestationen einer zugrunde liegenden Essenz ansehe: Wertsysteme, Glaubensüberzeugungen, Normen und Wissen korrespondierten einer eigenständigen sozialen Wirklichkeit. Diese Kritik ist sicherlich berechtigt, sofern Durkheim von der Unabänderlichkeit der untersuchten Sozialphänomene ausgeht. Dennoch anerkennt Remmling, dass Durkheim in einem gewissen Sinne sogar mehr als die deutsche Wissenssoziologie (auf die wir unten zu sprechen kommen werden) geleistet habe, »who only posited the interrelationships between social structure and thought«, da er das Feld mittels konkretem historischem Material bearbeitet habe.16

Wie schon erwähnt, wurde Durkheims Arbeit von seinen Mitarbeitern fortgeführt und von vielen Forschern aus unterschiedlichen Disziplinen aufgenommen. So inspirierte [73]er den Begriff der »Mentalität«, auf den wir noch zu sprechen kommen werden; er regte die sozialpsychologische Forschung über »soziale Repräsentationen« an, und auch Mauss’ Vorstellung der »Techniken des Körpers« als nicht-sprachliche, körperliche und kollektive Formen des Wissens steht ganz in der Linie der Durkheimschen Argumentation. Dies gilt auch für Halbwachs’ Konzeption des »kollektiven Gedächtnisses«, die in der jüngeren Zeit auf eine sehr anregende Weise erneuert wird. Während ich auf diese Konzeptionen später zurückkommen werde, muss hier noch ein Autor erwähnt werden, der nicht nur Zeitgenosse Durkheims war, sondern in gewissem Sinne als sein Opponent zu betrachten ist. Der französische Philosoph LUCIEN LÉVY-BRUHL hatte sich intensiv mit den Formen des Denkens auseinander gesetzt.17 Zu diesem Zwecke untersuchte er – ähnlich wie Durkheim – die zahlreichen ethnologischen Quellen seiner Zeit auf Aussagen über Denkformen.18 Er setzte also eine Art der philosophischen Textanalyse ein. Auf dieser Grundlage vertrat er die These, dass sich das primitive Denken grundsätzlich vom Denken der großen Zivilisationen unterscheide. Er nannte es »prälogisch«, da das primitive Denken auf einer mystischen Wahrnehmung des Universums aufbaue. Diese Kategorisierung wurde häufig als eine abschätzige Beurteilung missverstanden. Doch wollte Lévy-Bruhl vielmehr zeigen, dass das Denken der »Primitiven« in sich schlüssig ist – auch wenn es sich von unserem Denken unterscheidet. Lévy-Bruhl grenzt sich damit von evolutionistischen Autoren ab, die meinten, dass das Einfache immer auch das Ursprünglichere sei. Vielmehr herrsche eine Dichotomie zwischen dem vorlogischen und dem rationalen Denken. So wiesen auch die kollektiven Repräsentationen der Primitiven keinen logischen oder rationalen Charakter auf. Im Unterschied zu Durkheims Annahme sei das primitive Denken nicht durch sozial bedingte logische Kategorien bestimmt, sondern von der »mystischen Teilnahme« beherrscht, die auf der Kategorie des Übernatürlichen beruhe. Mystische Teilnahme bezieht sich auf die emotional geladene Vorstellung, Teil eines sinnhaften Zusammenhangs zu sein, zu dem auch die nichtbelebten Dinge gehören. Weil es durch mystische Erfahrung und Teilhabe charakterisiert sei, könne man von einem »prälogischen« Denken reden: Es beruht nicht auf einem begrifflichlogischen, sondern auf einem affektiven Verhältnis zum Übernatürlichen und hat einen völlig anderen Zugang zu Zeit, Raum etc. als das ›zivilisierte‹ Denken. Vieles, was »die Primitiven« sehen, entgeht uns, und was wir sehen, verstehen sie nicht. Für sie hat jedes Ding einen mystischen Charakter: Die Objekte führen z.B. eine mystische Existenz. So weigern sich etwa die Indianer Guyanas, ihre Werkzeuge zu reparieren, weil sie befürchten, sie verlören damit ihre unsichtbaren mystischen Eigenschaften. Für das vorlogische Denken haben diese mystischen Eigenschaften dasselbe [74]Gewicht wie die materiellen: Für die Bewohner der Fidschi-Inseln ist der Schatten ein Abbild der Seele, und die Cherokee-Indianer lassen sich medizinisch behandeln, wenn sie geträumt haben, dass sie von einer Schlange gebissen worden seien. Für das vorlogische Denken gibt es keinen Unterschied zwischen der physischen und der mystischen Welt, und das mystische Handeln ersetzt für sie die Naturgesetze.

Den verschiedenen Formen des Denkens entsprechen für Lévy-Bruhl dann auch unterschiedliche Formen von Gesellschaften. Dabei zeichneten sich die zivilisierten Gesellschaften dadurch aus, dass sich hier das Denken von seinen sozialen Bedingungen emanzipieren könne.


Georg Simmel, Max Weber und der Historismus

Die Grundlegung der Soziologie in Deutschland wird häufig als Verdienst von Max Weber angesehen. Dies ist zweifellos eine Vereinfachung, weil man eine große Zahl verdienstvoller Autoren nennen müsste. Dennoch repräsentiert Weber sicherlich in geradezu mustergültiger Weise die besondere deutsche Entwicklung der Soziologie. Darüber hinaus trug er Entscheidendes zur Ausbildung der Wissenssoziologie bei, deren Entstehung sich schon während seiner Lebzeit abzeichnete. Webers Beitrag wird etwa im Denken und Vorgehen von Max Scheler sehr deutlich, auf den wir später zu sprechen kommen werden.

Webers Forschung steht vor dem Hintergrund eines Methodenstreits, der sich um die Wende zum 20. Jahrhundert insbesondere innerhalb der deutschen Soziologie abspielte und für die sich konstituierende Wissenssoziologie prägend werden sollte.19 Kontrahenten waren einerseits die Anhänger eines Positivismus im Gefolge Comtes auf der einen Seite und die Vertreter einer vom Historismus geprägten »geisteswissenschaftlichen« Position auf der anderen Seite. Waren die Positivisten, deren Position wir bei Comte kennen gelernt hatten, der Meinung, die Wissenschaften sollten allesamt die Methoden der Naturwissenschaften anwenden, weil es keine wesentlichen Unterschiede zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften gebe, war das zweite Lager gegensätzlicher Auffassung: Der Gegenstand der Sozial- und Geisteswissenschaften unterscheidet sich in ihren Augen grundlegend von dem der Naturwissenschaften. Deswegen bedürfen sie auch einer besonderen Methodologie. Dieser Streit berührt die Wissenssoziologie sehr grundlegend, ging es hier doch um die besondere Rolle des »Geistes« im Bereich menschlichen Handelns. Aus dieser zweiten Perspektive wurde die Erforschung sozialer Phänomene zunächst als eine »geisteswissenschaftliche« Aufgabe angesehen. Die positivistische Soziologie eines Comte erschien einer solchen Geisteswissenschaft wie eine »Metaphysik, welche an die Erfassbarkeit des Wirklichen in einer notwendigen Begriffseinheit und [75]darum an eine Generalmethode glaubt.«20 Der Blick ging weniger auf das Verhältnis zueinander, sondern auf die geistige Beziehung der Menschen bzw. ihres Geistes. Diese Betrachtungsweise ist dem Historismus verpflichtet, der sich im 19. Jahrhunderts vor allem in Deutschland verbreitet hatte. Da dieser Historismus, wie etwa Berger und Luckmann21 betonen, »ein unmittelbarer Vorläufer der Wissenssoziologie« war, sollten wir ihm einen kurzen Abriss widmen.

Ursprünglich war der Historismus aus einer Opposition gegen die Philosophie Hegels entstanden. Schon zu Lebzeiten Hegels hatte sein Kollege an der Berliner Universität, Friedrich Carl von Savigny, dem umfassenden Idealismus und den mit ihm verbundenen abstrakten Spekulationen Hegels den Sinn für die Wirklichkeit abgesprochen. Stattdessen forderte er, der Realität durch eine getreue Beschreibung historisch einmaliger Ereignisse und Personen einen Sinn abzugewinnen. Der von Savigny damit eingeläutete Historismus betont vor allen Dingen, dass das Gewordene, die Gegenwart, in Verbindung mit der Vergangenheit und aus ihr heraus verstanden werden müsse – eine Vorstellung, die sich ja heute noch großer Beliebtheit erfreut. Im Unterschied zu Hegel entwickelte der Historismus aber keine Systematik. Stattdessen zeichnet er sich durch viele historische Einzelstudien aus. Trotz dieser theoretischen Abstinenz entwickelte sich eine Art Modell: Geschichte war für ihn nicht bloß ein Zusammenhang von Ideen. Sie trägt ihren Sinn in sich, ging der Historismus doch davon aus, dass jedes Gebilde und jeder Gedanke eine von »konkreten Umständen bedingte Sonderform des Menschlichen darstellt und keinerlei Platz übrig hat für absolute, überall gleiche rationale Wahrheiten und Ideale«.22 Ein Axiom des Historismus war, dass einzelne Ereignisse (und nicht Gesetze) der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sind. Zudem ging er davon aus, dass alle Tatsachen (auch die wissenschaftlichen) als historische Phänomene zu betrachten sind. Historische Tatsachen schließlich lassen sich nur »verstehen«, nicht aber »erklären«, da sie die Beteiligung der Handelnden einschließen.

Die Historizität der Wissenschaft zeigt mustergültig Wilhelm Dilthey auf, der betont, dass selbst die Kategorien der Vernunft historisch wandelbar sind. In scharfem Widerspruch zum Positivismus Comtes geht Dilthey, der zwischen 1890 und 1930 in Deutschland höchst einflussreich war, davon aus, dass Recht oder Wahrheit immer einen jeweils besonderen kulturellen Ausdruck finden. (Von der spezifischen Ausprägung der Wahrheit in der deutschen Kultur wurde sehr viel erwartet, und so wurde auch der deutsche Widerstand gegen Parlamentarismus, Demokratie, ja sogar gegen die »französische« oder »englische« Soziologie historistisch begründet.) »Immer ist das Wissen von einer Epoche vorübergehender und subjektiver Ausdruck eines [76]geistiges Zustandes, immer wechseln die metaphysischen Systeme und die sittlich religiösen Ideale mit der Zeit, und sie sind bedingte Erzeugnisse der Geschichte.«23 Weltanschauungen bilden die Grundlage aller philosophischen Systeme und finden sich in der gelebten Erfahrung einzelner Denker. Jede einzelne Philosophie oder intellektuelle Position ist demnach lediglich Ausdruck einer grundlegenden Weltanschauung, und sie konnte nur insofern Wahrheit beanspruchen, als sie der gelebten Erfahrung ihrer Autoren entspricht. Eine absolute Wahrheit ist folglich unmöglich.

Aus der Vielfalt der historischen Lebenszusammenhänge sucht Dilthey einzelne Weltanschauungen zu identifizieren.24 Dazu betrachtet er die jeweiligen Einstellungen der Menschen zum Leben, die sich in verschiedenen philosophischen Systemen finden lassen. Mit dem Begriff der Weltanschauung bezeichnet Dilthey eine vortheoretische umfassende Form des menschlichen Erlebens, die nicht nur das Wissen umfasst, sondern auch die Tiefenschichten des menschlichen Bewusstseins und die kulturellen Ausdrucksformen der jeweiligen Zeit. »Die elementaren Operationen des Denkens geben Gleichheit, Unterschied, Sonderung, Verbindung zum Neben- oder Nacheinander, aber keinen wirklichen Zusammenhang. […] Sonach ist der menschliche Intellekt in Bezug auf seine höchste Aufgabe, den Zusammenhang des Wirklichen anzusprechen, gebunden an den in der Lebendigkeit der Person enthaltenen Zusammenhang. Hinter das Leben kann das Erkennen nicht zurückgehen.«25 Die Gemeinsamkeiten des Lebens nun, von Dilthey unter die Kategorie des Erlebens gefasst, bilden eine geisteswissenschaftliche Folie, die es erlaubt, die Zerrissenheit des gesellschaftlichen Zusammenhanges zu verbinden, die voneinander isolierten Handlungs- und Wissensbereiche miteinander zu verknüpfen und auch den unterschiedlichen Kommunikationsformen der Wissenschaften eine geteilte Grundlage zu geben.26 Bei aller Unterschiedlichkeit der philosophischen Systeme macht er drei unterscheidbare Weltanschauungstypen aus: Naturalismus, objektiver Idealismus und subjektiver Idealismus. Diese drei Typen folgen einander nicht in einer historischen Abfolge, sondern können in jeder historischen Epoche auftreten.

Historistische Vorstellungen, wie die vom »Sitz im Leben« von Texten oder von der »Standortgebundenheit des Denkens«, haben einen sehr tiefen Eindruck in der deutschen Soziologie und damit auch der Wissenssoziologie hinterlassen. So bilden sie einen Ausgangspunkt der Soziologie GEORG SIMMELS.27 Wie Dilthey bestritt [77]auch Simmel die Zeitlosigkeit der Vernunft; sie erscheint ihm vielmehr als ein historisch variables Gebilde, das in seinen historischen Erscheinungsformen betrachtet werden muss. Die Geschichtlichkeit ist lediglich eine Form des Erlebens. Wissen ist an diese Form gebunden und bleibt für Simmel immer das partikulare Ergebnis eines Deutungsaktes des Subjektes.

Gegen die positivistische Vorstellung der Soziologie von Comte, Mill und Spencer hatte schon Dilthey Gesellschaft als »Spiel der Wechselwirkungen« und Summe von Interaktionen der Individuen verstanden. Das Individuum, so Dilthey, ist ein Element in den Interaktionen der Gesellschaft, ein Schnittpunkt der verschiedenen Interaktionsgeflechte, das mit Absicht und handelnd auf ihre Wirkungen reagiert. Auch Georg Simmel widersprach der Auffassung, die Gesellschaft weise eine eigene Substanz auf (wie sie etwa im Begriff der »Volkseele« der Wundtschen Völkerpsychologie zum Ausdruck kam). Sie ist für ihn zwar ein eigenständiges Gebilde, doch ist ihre Substanz nichts anderes als die Interaktionen ihrer Mitglieder, also der Individuen. Gesellschaft ist also kein einheitliches Konzept, sondern ein Geflecht aus Interaktionen der unterschiedlichsten Art, die jeweils bestimmte Personen miteinander verbinden. Gesellschaft besteht »aus dem Wechselwirken und dem Zusammenwirken der Einzelnen, aus der Summierung und Sublimierung unzähliger Einzelbeiträge, aus der Verkörperung der sozialen Energien in Gebilden, die jenseits des Individuums sich entwickeln.«28

Die einzelnen Individuen, deren Wechselwirkungen die Gesellschaft bilden, sind von Absichten, Interessen und Einstellungen geleitet: Sie wollen spielen, Dinge erwerben, anderen helfen, sie besiegen, belehren usw. Diese Absichten bewirken auch, »dass der Mensch in ein Zusammensein, ein Füreinander-, Miteinander-, Gegeneinander-Handeln« und damit in Beziehungen mit anderen tritt. »Diese Wechselwirkungen bedeuten, dass aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine ›Gesellschaft‹ wird. Denn Einheit im empirischen Sinn ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen.«29 Interaktion also stellt die Form dar, in der Wissen als Inhalt auftritt. Dessen Inhalt kann all dasjenige sein, was die Handlungen der Individuen leitet: Interessen, Triebe, Neigungen, psychische Zuständlichkeiten. Inhalte bzw. Wissen jedoch machen Individuen noch nicht zu sozialen Wesen. Sie entsprechen dem, was Weber Handlungen nennt. Zum Sozialen werden sie erst durch die Form, also dasjenige, was in der Interaktion Gestalt gewinnt. Dazu zählen: Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Nachahmung, Arbeitsteilung, Parteibildung, Vertretung, Gleichzeitigkeit des Zusammenschlusses nach außen und des Abschlusses nach innen – also all das, was erst entsteht, wenn wir mehrere Individuen haben, die miteinander und aufeinander handeln. Formen sind etwa Gemeinschaften, die ein gemeinschaftsspezifisches Wissen besitzen. [78]Inhaltlich kann es sich dabei jedoch um Räuberbanden oder Religionsgemeinschaften handeln, um Wirtschaftsgenossenschaften oder Kunstschulen. Sie haben also etwa wirtschaftliches Interesse, Kunst oder Religion zum Inhalt, doch formt sich dieser Inhalt in der Konkurrenz anders als in der Kooperation und gemeinsamen Planung. Gesellschaft besteht also dort nicht, wo alle einzelnen dasselbe wollen und für sich zu erreichen suchen, sondern dort, wo sie es mit, gegen oder für andere tun.

Um die empirische Vielfalt zu erfassen, muss die soziologische Beschreibung deswegen von den Inhalten abstrahieren. Sie hat allein die Formen der Wechselwirkungen zum Gegenstand, also, um es noch einmal zu wiederholen: Hierarchien und Korporationen, Konkurrenzen und Eheformen, Freundschaften und gesellige Sitten, Ein- und Vielherrschaften u.Ä.m. Die Soziologie ist also gewissermaßen eine formale, der Geometrie vergleichbare Wissenschaft: Sie verhält sich zu den übrigen Sozialwissenschaften wie die Geometrie zu den physikalisch-chemischen Wissenschaften: Sie betrachtet die Form, durch die Materie überhaupt zu empirischen Körpern wird.

Genauer unterscheidet Simmel drei Gesichtspunkte, unter denen soziohistorische Erscheinungen betrachtet werden können:


(a)Die individuellen Existenzen, die die realen Träger der Zustände sind;
(b)die formalen Wechselwirkungen, die sich an individuellen Existenzen vollziehen, aber nicht von deren Standpunkt, sondern von dem ihres Zusammen und Miteinander begriffen werden;
(c)die begrifflich formulierbaren Inhalte von Zuständen und Geschehnissen, bei denen jetzt nicht nach ihren Trägern oder deren Verhältnissen, sondern nach ihrer rein sachlichen Bedeutung gefragt wird, also nach ihrer wirtschaftlichen, künstlerischen, rechtlichen, wissenschaftlichen Bedeutung.

Handelt es sich hier um Gesichtspunkte, die für alle Gesellschaften relevant sind, so hat Simmel auch eine auf die moderne Gesellschaft zugeschnittene wissenssoziologische Diagnose erstellt: die These vom Auseinandertreten von subjektiver und objektiver Kultur. Die objektive Kultur beinhaltet die gesamten Kulturleistungen einer Gesellschaft, wie sie in ihrem angesammelten Wissen, in ihren Erfindungen und Entdeckungen zum Ausdruck kommen. Die subjektive Kultur besteht aus dem, was sich die Individuen davon zueigen machen. Je mehr sich die objektive Kultur dank der gesellschaftlichen Arbeitsteilung entwickelt und auffächert, umso schwerer fällt es dem Individuum, an dieser zunehmenden Vielfalt des Kulturellen teilhaben zu können. Es gehört zur »Tragödie der Kultur«, dass Subjektives und Objektives immer mehr auseinander fallen. »Die Kulturobjekte erwachsen immer mehr zu einer in sich zusammenhängenden Welt, die an immer wenigeren Punkten auf die subjektive Seele mit ihrem Wollen und Fühlen hinuntergreift.«30 Die Entfremdung von der Welt der Dinge analysiert Simmel detailliert am Beispiel des Geldes, das für ihn [79]eine überindividuelle Größe darstellt, die von Menschen erzeugt wird und im menschlichen Verkehr gründet, zugleich aber einer Verdinglichung unterliegt, die der Rationalisierung des Umgangs mit ihm geschuldet ist. Die These des Auseinandertretens von subjektiver und objektiver Kultur ist in eine Reihe von späteren Theorien eingegangen – durchaus auch in die populäre Kulturkritik.

Auch für MAX WEBER spielt der Historismus eine wichtige Rolle.31 Im Falle Max Webers steht dabei ein besonderer Aspekt des Historismus im Vordergrund, den wir noch kurz erläutern müssen: Mit der Ausweitung und Etablierung der positivistischen Naturwissenschaften (z.B. an den Universitäten) sah sich der Historismus mit der Frage nach der Einheit der Wissenschaften konfrontiert. Denn der Positivismus im Gefolge Comtes vertrat ja die Auffassung, dass die naturwissenschaftlichen Methoden auch auf das Soziale und Geistige anwendbar sind, so dass man von einer einheitlichen wissenschaftlichen Methodologie reden konnte. Dagegen forderte Dilthey eine Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Um den Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und dem, was nun Geisteswissenschaften hieß, herauszustellen, unterschied Dilthey (durchaus im Gefolge Vicos) diese beiden Wissenschaftsbereiche, weil ihnen verschiedene Erfahrungen zugrunde lägen: einmal die innere, ein anderes Mal die äußere Erfahrung. Während in den Naturwissenschaften diejenigen Gegenstände erforscht würden, die dem Bewusstsein als von außen gegeben scheinen, hätten es die Geisteswissenschaften mit der Realität von innen zu tun. Die Wirklichkeit sei ihr eigentlich gar nicht direkt gegeben, dafür sei sie selbst auf eine besondere Weise zugänglich: »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.«32 Diese Unterscheidung fand schließlich in der Abgrenzung der Typen des ideographischen (historisch beschreibenden) und des nomologischen (gesetzlich erklärenden) wissenschaftlichen Wissens durch Windelband und Rickert ihren Anschluss.33

Zum Verständnis von Webers Haltung muss erwähnt werden, dass der Historismus zu seinen Lebzeiten auf harsche Kritik zu stoßen begann. Weil er davon ausgehe, dass alle Ideen und Ideale in ihrem historischen Kontext betrachtet werden müssten, wurde ihm vorgehalten, die Möglichkeit einer intersubjektiven Wahrheit auszuschließen. So warf Ernst Troeltsch dem Historismus einen »geschichtlichen Relativismus« vor, der jedes Gebilde und jeden Gedanken unterschiedslos als eine von »konkreten Umständen bedingte Sonderform des Menschlichen darstellt und keinerlei Platz übrig hat für absolute, überall gleiche rationale Wahrheiten und Ideale.«34 [80]Dieser Vorwurf führte schließlich zur ›Krise des Historismus‹ und seinem Niedergang in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.

Webers historistische Verankerung wird daran deutlich, dass er den Begriff des Verstehens ins Zentrum des soziologischen Unterfangens stellt. Im Unterschied zu Durkheim geht Weber nicht von einem »objektiven System« der Gesellschaft aus, räumt aber ein, dass das Verstehen nicht genüge, sondern die Soziologie als Wissenschaft auch erklären müsse. Anfangs- und Endpunkt einer jeden soziologischen Erklärung und eines jeden Verstehens bildet der Begriff des individuellen Handelns (der ja für die Ökonomie und die Jurisprudenz ohnehin schon zentral war). In diesem Begriff vereinigen sich die gerade genannten widersprechenden Prinzipien: Um das Handeln der Menschen erklären zu können, müssen wir verstehen, welchen geistigen Vorgaben sie folgen, also welchen Sinn sie verfolgen.35 Dies ist das Grundprinzip seiner verstehenden Soziologie.

Dieses Prinzip geht auch in seine Handlungstheorie ein, die damit gewichtige wissenssoziologische Annahmen enthält.36 Denn die weithin bekannten Handlungstypen, die er unterscheidet, sind sozusagen orientiert an Wissensarten; es geht ihm dabei um die Verbindung von sozialem Handeln mit Wissen, das diese Handlung voraussetzt und das sie erfordert. Das zweckrationale oder zielgerichtete Handeln kalkuliert ökonomisch seine Mittel mit Blick auf das Ziel. Dabei verbinden Handelnde mit dem Ziel ein gewisses Ergebnis, sie erwarten also eine Art Nutzen – eine Erwartung, die als Wissensannahme in das Handeln eingeht. Dieser erste Typus entspricht durchaus dem ökonomischen Modell des Handelns, das wir schon bei Pareto kennengelernt haben. Wie bei Pareto stellt diese zweckrationale Form des Handelns jedoch nur eine von verschiedenen Typen des Handelns dar, die auch Weber in der Ökonomie übergangen sieht.

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9783846341568
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