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Geben wir einen kurzen Überblick über den argumentativen Aufbau des Buches: Die Darstellung beginnt mit einem historischen Abriss, der – wie auch die Soziologie – den Schwerpunkt auf die Moderne legt.10 Ein deutliches Kennzeichen der entstehenden Moderne in der frühbürgerlichen Phase ist die Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft. Ein pathetischer Begriff der Erkenntnis entsteht neben einem (an die Religion gebundenen) aufkommenden Ideologiebegriff, der hinter unwissenschaftlichem Wissen immer die Frage stellt: cui bono? In der folgenden [19]Phase wird dann die Natur von der Geschichte so abgelöst, dass sie als abgegrenzte Entität zum Gegenstand der Naturwissenschaft und Technik werden konnte. Der Gegenwart der selbst fabrizierten Wirklichkeit der Geschichte widmet sich die allmählich aufkommende Soziologie (selbst ein Ergebnis der Ausdifferenzierung), die die Zusammenhänge zwischen dem Menschengemachten und dem menschlichen Verstande erkennt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es zu einem offenen Umbruch und einer ideologischen Zersplitterung bzw. (wie man es später nennen wird) einer kulturellen Pluralisierung der Gesellschaft, die den Anlass für einen ersten Höhepunkt der Wissenssoziologie im engeren Sinne gibt. Auf diese dritte Phase folgt schließlich die konstruktivistische Wissenssoziologie, die gesellschaftliche Institutionen als verdinglichtes Handeln, als vergegenständlichtes Wissen behandelt. Die Theorie der ›gesellschaftlichen Konstruktion‹ bildet nicht nur einen zweiten Höhepunkt, sie bildet einen regelrechten Wendepunkt der Wissenssoziologie. Indem sie die integrative Perspektive begründet, erlaubt sie einen Blick auf die zentrale Rolle des Wissens für die Gesellschaft, das nun keineswegs mehr in Verbindung mit der Ideologie gedacht werden muss.

Wir werden uns in diesem II. Teil des Buches mit einer Reihe von Ansätzen beschäftigen, die sich teilweise parallel, teilweise nacheinander entwickelt haben. Bei aller Vielfalt der Ansätze lassen sich doch einige große thematische Richtungen entdecken, die diese wissenssoziologische Forschung genommen hat. Insbesondere in der deutschsprachigen und teilweise auch in der angelsächsischen Wissenssoziologie können wir eine starke Tendenz der Verlagerung von Wissen zur Kommunikation beobachten. Das mag zum Teil mit dem bekannten »linguistic turn« zusammenhängen, also jener Wende, die durch die Erkenntnis der zentralen Rolle sprachlicher Formen, Prozesse und Handlungen für das menschliche Denken bewirkt wurde. (An dieser Erkenntnis war, wie wir gesehen haben, auch die phänomenologische Tradition spätestens seit Schütz mit beteiligt, selbst wenn Wittgenstein oder Austin häufig als ihre wesentlichen Initiatoren genannt werden.) Die Bedeutung der Sprache war auch für die französische Wissenssoziologie prägend, wenngleich in einer davon abweichenden Linie. Hier war der von de Saussure begründete und von Lévi-Strauss auf die Sozialwissenschaften angewandte Strukturalismus ausschlaggebend. Die Ansätze von Foucault und Bourdieu sind ohne diesen Hintergrund nicht zu verstehen. Sowohl Foucault wie auch Bourdieu sind nicht nur vom Funktionalismus geprägt. Sie haben sich so stark gegen den Strukturalismus gewandt, dass sie als »Poststrukturalisten« bezeichnet wurden. Dies gilt ebenso für einen angelsächsischen Ansatz, der unter dem Titel »Cultural Studies« bekannt wurde.

Beschäftigt sich das II. Kapitel mit theoretischen Ansätzen, so widmet sich das III. Kapitel einer Reihe von substantiellen Themen, die von der gegenwärtigen Wissenssoziologie behandelt werden. Dazu gehört zum einen die Wissenschaft (III A), deren Geltungsansprüche nun selbst wissenssoziologisch untersucht werden. Auch die Debatte um die Informations- und Wissensgesellschaft (III B) muss hier erörtert werden. Zu den bedeutsamen Themen der Wissenssoziologie zählt auch die gesellschaftliche [20]Verteilung des Wissens (III C): In welcher Beziehung steht die gesellschaftliche Zugänglichkeit des Wissens mit der Struktur der sozialen Ungleichheit und der Ordnung der Institutionen? Wir kommen in diesem Zusammenhang auch auf die Träger von Sonderwissen zu sprechen, wie etwa Intellektuelle, Experten und Professionelle, sowie auf die soziale Verteilung des Wissens.

Wie dann gezeigt wird, beschränkt sich die wissenssoziologische Betrachtungsweise keineswegs auf die professionell betriebene Soziologie. Vielmehr zeigt schon die Debatte um die Wissensgesellschaft oder die Wissenschaftsforschung, wie sehr die wissenssoziologische Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft zu einem Thema auch für andere Disziplinen geworden ist und zuweilen sogar in die Öffentlichkeit hineinspielt. Diese wachsende Bedeutung einer wissenssoziologischen Forschung außerhalb der Wissenssoziologie skizziere ich unter dem Titel der Wissensforschung (III D). Erwähnenswert ist hier die Debatte um das kollektive Gedächtnis, die in der Soziologie einsetzt, dann aber vor allem in der Geschichtswissenschaft und den »Kulturwissenschaften« aufgenommen wird. Eine große Rolle spielt auch die anthropologische und sozialpsychologische Kognitionsforschung, deren Fragestellungen sich mit denen der Wissenssoziologie deutlich überlappen. Ebenso hat die Heraufkunft der neuen Medien die Frage aufgeworfen, inwiefern Medien bestimmte Formen des Wissens präferieren oder prägen. Und abschließend werde ich auch kurz auf die Diskussionen des Wissensmanagements zu sprechen kommen, die klassische Fragen der Wissenssoziologie bis tief in die organisatorische und wirtschaftliche Praxis hineintragen.

Die »tour d’horizon« der Wissenssoziologie mündet in einen Schluss, der die Entwicklungen der Wissenssoziologie in groben Umrissen skizziert, die sich seit der Erstveröffentlichung des Buches im Jahre 2005 abzeichnen. Zum Abschluss möchte ich einen Versuch unternehmen, den zentralen Begriff des Wissens zusammenfassend zu bestimmen.

1 Vgl. Max Adler, Marxismus und Kantischer Kritizismus, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus, 1925

2 Auch in der Philosophie wird das Problem der Sozialität des Wissens aufgenommen, etwa unter dem Titel der »Social Epistemology«. Allerdings ist dort die Rezeption der Wissenssoziologie noch nicht sehr weit fortgeschritten; vgl. dazu Frederick F. Schmitt (Hg.), Socializing Epistemology. The Social Dimensions of Knowledge, Boston u. London 1994

3 Werner Stark, The Sociology of Knowledge. An Essay in Aid of a Deeper Understanding of the History of Ideas, London 1958, S. 19f

4 Randall Collins, The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, Cambridge 1998

5 Paul Ludwig Landsberg, Wesen und Bedeutung der platonischen Akademie. Eine erkenntnissoziologische Untersuchung, Bonn 1923

6 Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982

7 Vgl. dazu James T. Borkeh und Richard F. Curtis, A Sociology of Belief, New York 1975

8 Die Schwierigkeiten, die eine solche »korrelationistische« Wissenssoziologie aufwirft, hat Geertz auf eine etwas polemische Weise auf den Punkt gebracht: »The sociology of knowledge […] is not a matter of matching varieties of consciousness to types of social organization and then running causal arrows from somewhere in the recesses of the second in the general direction of the first – rationalists wearing square hats sitting in square rooms thinking square thoughts, they should try sombreros[…]« Clifford Geertz, The way we think now: Ethnography of modern thought, in: Local Knowledge, New York 1983, S. 153

9 Diese Meinung wird auch vertreten von McCarthy, op. cit., S. 12, die eine der wenigen jüngeren Übersichten zur Wissenssoziologie verfasst hat.

10 Sehr plausibel erschien mir die Skizze der wissenssoziologischen Entwicklung von Michael Meuser und Reinhold Sackmann, Zur Einführung: Deutungsmusteransatz und empirische Soziologie, in: dies. (Hg.), Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie, Pfaffenweiler 1992, S. 9-37.

[21]I

Die Ausbildung

der Wissenssoziologie


[22][23]AVorläufer


1Aufklärung, »philosophes« und »Ideologen«

Die wissenssoziologische Frage nach dem Zusammenhang zwischen Denken und Denkenden, zwischen Wissen und Wissenden, zwischen Wahrheit und denen, für die die Wahrheit gilt, ist zweifellos keine Neuerfindung der Moderne. In der Geschichte des menschlichen Denkens finden wir sie immer wieder. Insbesondere die Philosophie entfaltet in verschiedenen Fassungen die Grundgedanken dessen, was später als Wissenssoziologie institutionalisiert werden wird. Schon vor dem berühmten Höhlengleichnis des Platon, das die Perspektivität menschlichen Denkens insgesamt auf ein Bild bringt – Platon vergleicht die Menschen mit Wesen, die in Höhlen wohnen und statt der eigentlichen Dinge lediglich die Schatten der Phänomene sehen, die das äußeren Licht an die Höhlenwand wirft, – werden Vorstellungen formuliert, die später bei der Vorbereitung der Wissenssoziologie aufgenommen werden. So deutet sich bereits in der Religionskritik des im 5. Jahrhundert vor Christus schreibenden Eleaten Xenophanes eine Vorstellung an, die Gottesbilder als Ausdruck ethnischer Merkmale versteht: »Die Äthioper behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und rothaarig.«1 Einen bekannten Ausdruck findet diese Vorstellung auch in Pascals berühmtem Diktum, dass die Wahrheit auf der einen Seite der Pyrenäen der Irrtum auf der anderen sei. Der Renaissance-Philosoph Michel de Montaigne wäre sicherlich ebenso ein guter Kronzeuge, mit dem wir die Wissenssoziologie beginnen lassen könnten, betont er doch den sozialen Ursprung des menschlichen Wissens: Unser Wissen erstehe aus unseren Gewohnheiten.2 In seiner Geschichte des Ideologiebegriffes hebt der berühmte Wissenssoziologe Karl Mannheim den Philosophen Niccolò Machiavelli als denjenigen hervor, der die Unterschiedlichkeit des Denkens sehr klar auf soziologische Faktoren zurückführe. Die Unterschiede der Meinungen der Menschen ließen sich demnach auf Unterschiede ihrer Interessen beziehen, die wiederum mit ihrer jeweiligen sozialen Stellung und vor allem ihrer Macht zusammenhingen. Als einen weiteren Meilenstein bezeichnet Mannheim die berühmt gewordene Idolenlehre des FRANCIS BACON, in der er »eine Vorahnung der modernen Ideologiekonzeption« ausmacht.3 In der Tat werden die Vorstellungen von Bacon in der Folgezeit tragend, [24]prägen sie doch nicht nur die einsetzende Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft. Bacon zählt zu jenen Autoren, die durch ihre Rezeption einen maßgeblichen Einfluss auf das aufklärerische Denken und die Ausbildung des Ideologiebegriffes nahmen. Unter Seglern, Navigatoren, Abenteurern und aufkommenden Wissenschaftlern lebend, wollte er darauf drängen, die scholastischen Debatten aufzugeben und sich – in diesem Sinne ganz Brite – der empirischen Erforschung der Dinge zu widmen. In seinem wissenschaftlichen Werk wandte er sich gegen deduktive Methoden und forderte eine rational geplante Empirie, die dazu dienen sollte, die Natur zu beherrschen und die Bedürfnisse der Menschen auf eine wissenschaftliche Weise zu befriedigen – eine Wissenschaft, die den sich in Großbritannien bald entwickelnden Industrialismus stützen sollte.

Bacon erläuterte seine Methode des Erwerbs von Wissen in seinem Novum Organum, das 1620 erstmals veröffentlicht wurde. Mit diesem Titel spielt er auf Aristoteles’ logische Werke an, die als Organon bezeichnet wurden. Bacon wollte damit das Ende des Aristotelischen Einflusses andeuten. Der Mensch ist nach Bacon darauf angewiesen, die Natur und ihre Gesetze zu entdecken. Dies könne jedoch nicht deduktiv geschehen. Der Mensch müsse die Welt vielmehr mit seinen Sinnen betrachten, um induktiv daraus Erkenntnis abzuleiten. Bei dieser Betrachtung stellten sich dem Menschen jedoch zahlreiche Hindernisse in den Weg, die seinen Blick trübten – und genau diese Hindernisse bilden die »Idole« (Gestalt, Bild, Trugbild, Götzenbild), die Gegenstand Bacons wissenssoziologischen Überlegungen sind.

Idole oder »Vorurteile des Geistes« (»idola mentis«) sind die »Vorurtheilsgötzen, die falschen Begriffe«4, von denen sich die Menschen leiten lassen. Entgegen der vermeintlichen Gleichheit des menschlichen Geistes sind sie Folge der individuellen Vorurteile, dem begrenzten menschlichen sinnlichen Vermögen und dem Einfluss der Leidenschaften auf das Erkennen. Idole sind jene Hindernisse, die das Erkennen behindern oder entstellen.5 Berühmt geworden ist Bacons Unterscheidung verschiedener menschlicher »Idole« oder »Götzen-« oder »Trugbilder«:

Idola tribus sind die Trugbilder »des Stammes«. Damit meint er die Täuschungen, die in der Natur des Menschen verankert sind. Sie werden verstärkt durch den falschen Anspruch, der Mensch sei das Maß aller Dinge. In Wirklichkeit leidet der Mensch an geistigen Mängeln, die damit verbunden sind, dass er dazu neigt, das zu glauben, was ihm gefällt, und das was ihm nicht gefällt, nicht zu glauben.6

[25]Die idola specus, die Trugbilder der Höhle sind nicht in der Gattung Mensch begründet, sondern liegen im Individuum selbst: seine Vorurteile und geistigen Versäumnisse. Die Irrtümer treten auf, weil wir alle Grenzen der Erfahrung und des Wissens haben. Wir wohnen alle sozusagen in einer kleinen Höhle, haben alle eine besondere Perspektive. Unsere Gedanken sind von unserer jeweiligen Lebenssituation abhängig. Idole der Höhle liegen begründet in unserer Erziehung und den Gewohnheiten sowie in den persönlichen Umständen. Auch die zu starke Spezialisierung in den Wissenschaften, also »Fachidiotie«, kann eine ihrer möglichen Ursachen sein.

Andere Verzerrungen sind auf das Unvermögen der Sprache zurückzuführen, Gedanken richtig zu kommunizieren. Dieses Problem findet seinen Ausdruck in den »Idolen des Marktes« (idola fori): Sprache und Denken sind sozial determiniert. Sie können deswegen unsere individuellen Erfahrungen nicht ausdrücken. Außerdem werden sie häufig auch falsch gewählt. Manchmal werden Worte für etwas erfunden, was es gar nicht gibt, und die Begriffe für tatsächliche, existierende Objekte sind ungenau oder schlecht definiert. Verwirrung und Konfusion sind die Folge.

Schließlich erwähnt Bacon noch die Idole des Theaters (idola theatri). Darunter versteht er den Einfluss herkömmlicher Theorien. Besonders der die katholische Scholastik prägende Aristotelismus ist ihm ein verhasstes Beispiel für ein an vorgegebenen Dogmen orientiertes Denken. Irrtümer entstehen also aus traditionellen Meinungen und philosophischen Systemen. Gerade die Philosophen hätten versagt, das Wissen voranzubringen. Stattdessen trügen sie dazu bei, fiktive und »theatrale« Welten zu bauen. Einer ihrer größten Fehler bestehe nicht nur in der Übernahme von Gemeinplätzen, sondern auch in ihrer Methode: Sie übernähmen theoretische Vorannahmen, die alleine deduktiv überprüft würden. Empirische Daten, die den Vorannahmen nicht folgen, kämen so gar nicht in Betracht. Auch der volkstümliche Ausdruck dieses Denkens, der Aberglaube, sei eine Quelle von Irrtümern.

Aufgrund dieser Idole erscheint die soziale Ordnung für Bacon als etwas, das hoffnungslos der Autorität, der Tradition, der Rhetorik und irrationalen Meinungen unterworfen ist. Die Erkenntnis dieser Idole dient deswegen dem Zweck, wissenschaftliche, wahre Erkenntnis zu ermöglichen. Denn »die Idole und falschen Begriffe, welche vom menschlichen Verstand schon Besitz ergriffen haben und fest in ihm haften, halten den Geist nicht nur so besetzt, dass der Wahrheit der Zutritt nur schwer offen steht, sondern auch so, dass sie, wenn dieser Zutritt gewährt und bewilligt worden ist, bei der Erneuerung der Wissenschaften wiederkehren und lästig sind, solange sich die Menschen nicht gegen sie vorsehen und nach Möglichkeit verwahren«.7

Mit dieser Hoffnung einer Bekämpfung der Idole bildet er die Vorhut der aufklärerischen Philosophie, die sich zunächst vor allem im katholischen Frankreich ausbreitete und die Lehren von Bacon und seinen Nachfolgern übernahm. Sie ging davon aus, dass die gesellschaftliche Ordnung auf der vernünftigen Erkenntnis der Naturgesetze aufgebaut und gestaltet werden könnte. Das Fehlen der rationalen [26]Ordnung von Staat und Gesellschaft geht auch in ihren Augen auf Täuschungen zurück, die sie behinderten. Dabei wird anstelle von Bacons Begriff der täuschenden Idole in Frankreich der Begriff des »Vorurteils« (»préjugé«) bevorzugt. Der Kampf gegen »Vorurteile« bildet eines der zentralen Ziele der meisten aufklärerischen Kampagnen. Der Begriff des Vorurteils wird vor allem in Frankreich zum Fundament für die Erziehung der Menschen, für die Ordnung des Staates und die Kritik an der Religion, dem Christentum und der Kirche. Es sind vor allem drei »Vorurteile« bzw. Gründe für Vorurteile, die von den Aufklärungsphilosophen bekämpft werden: Idole, wie sie von Bacon schon genannt wurden, Interessen und der Betrug der Priester.

Beginnen wir mit dem Letztgenannten: Hatte sich Bacon noch vor allem gegen den Aberglauben gewandt, so richtete sich die Kritik der aufklärerischen »philosophes« gegen die im katholischen Frankreich noch erdrückende Vorherrschaft der katholischen Religion, die den Absolutismus rundherum stützte. Schon Machiavelli hatte ja Überlegungen darüber angestellt, welche Funktionen die religiösen Ideen der Bürger für die Machtausübung der Herrscher spielten. Auf derselben Linie hatte sich auch der berühmte britische Philosoph Hobbes bewegt. Seine an Bacon anschließende philosophische Forderung, Wissen komme nur auf Grund sinnlicher Erfahrung zustande, hatte sich direkt gegen die Vorherrschaft einer übersinnlich-jenseitigen Welt gerichtet. Die eigentlichen Quellen des Glaubens an höhere Wesen und Mächte seien Sorge und Furcht sowie die Unkenntnis der wirklichen Ursachen der Furcht. Auch für ihn bilden List und Betrug die Mittel, mit denen die Herrschenden das Volk in Unkenntnis halte. Die religiösen Vorstellungen stünden deswegen im Dienst des Erhalts der Macht. In Frankreich war VOLTAIRE eine der lautesten Stimmen, die den »mittelalterlichen Aberglauben« der Religion zur wichtigsten Ideologie erklärten, die es zu enthüllen gebe.8 Die Religion sei eine Niederträchtigkeit (»l’ infâme«, wie er es zu nennen pflegte), eine Irrlehre der Priesterschaft. (Und er bezog sich hier auch auf das wörtliche Verständnis der Bibel: Konnte es denn sein, dass die Sonne erst am vierten Tag erschaffen wurde.) Deswegen forderte er: »écrasez l’ infâme«, löscht die Religion aus! Eine solche Auslöschung erst würde es ermöglichen, dass die Menschenrechte erworben werden können, die er lange vor der französischen Revolution verkündete: Die Freiheit der Person, des Eigentums, des Gedankens, der Presse, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Trennung von Kirche und Staat. Voltaire »ist der erste, der Ideologiekritik im großen Stil betreibt und bewusst auf die Entzauberung der geschichtlichgesellschaftlichen Welt hinarbeitet«.9 Allerdings zweifelt er, ob das Volk dieses Ziel selbst erreichen könne: Das Volk werde immer dumm und barbarisch bleiben. Allein eine Zentralgewalt könne eine gewisse Rationalität in das Gemeinwesen bringen.

Auch die so genannten Enzyklopädisten, die in Frankreich den Schatz des zeitgenössischen Wissens sammeln wollten, klagten die Religion an, den geistigen Fortschritt [27]und damit auch eine gute gesellschaftliche Ordnung zu behindern. So bemängelt Diderot, dass die Menschheit in zwei Gruppen zerfalle: eine kleine Elite mit Zugang zur Wahrheit auf der einen Seite und der Masse der Menschen auf der anderen Seite, die in der Dunkelheit des Unwissens lebten. Die Priester, so glaubte er, kannten zwar die Wahrheit, hielten sie jedoch zurück, um ihre Herrschaft über die Menschen zu erhalten. Die Täuschung also würde bewusst betrieben werden.

Bei dieser »Lehre vom Priester- und Herrentrug« handelte es sich keineswegs nur um eine Theorie kleiner intellektueller Kreise.10 Im Frankreich des 18. Jahrhunderts hatte sich die aufklärerische Religionskritik schon so weit durchgesetzt, dass sie Teil einer breiten bürgerlichen Weltanschauung geworden war, die keiner transzendenten Deutungen mehr bedurfte, um die Fragen nach dem Schicksal des Menschen und der Welt zu beantworten. Schon in der »religiösen Krise des 18. Jahrhunderts« ist der Glaube nicht mehr ein integrierter Bestandteil des Lebens einer wachsenden Zahl von Menschen, die für die Priester und ihre Predigten zu einem dauerhaften Problem werden. So schreibt ein Zeitgenosse: »Man sitzt in den Werkstätten über die Religion zu Gericht. Die Philosophie ist bis in die niedrigsten Volksschichten hinein verbreitet, und überall spielen sich die Menschen als Denker auf.«11 Selbst der Versuch der Kirche, die Gefahr der Ungläubigkeit durch die Schreckensszenarien der Hölle zu bekämpfen, stieß nicht mehr auf Widerhall. Wenigstens die gebildeten Laien ließen sich davon nicht mehr beeindrucken. Dazu war die Theorie des Priesterbetrugs schon zu weit verbreitet und akzeptiert. In ihrer kompakten Form findet man sie etwa bei Holbach ausformuliert: »Man kann nicht leugnen, dass [das Dogma vom Fortleben nach dem Tode] für diejenigen von großem Nutzen war, die dem Volk Religionen gaben und sich zu Priestern machten; es wurde die Grundlage ihrer Macht, die Quelle ihrer Reichtümer und die beständige Ursache von Blindheit und Schrecken, in denen sie die menschliche Gattung festhalten wollten.«12

Die Priesterbetrugstheorie wurde jedoch auch ausgeweitet. Hatte schon Machiavelli bemerkt, dass Macht immer einer ideologischen Stütze bedürfe, so formulierten nun die Enzyklopädisten eine Interessentheorie des Wissens: Den Priestern wurde vorgeworfen, ihr Wissen und ihre Macht zu missbrauchen, um ihre wirtschaftlichen Interessen wahrzunehmen. Aufgrund der wirtschaftlichen Interessenlage also würden Ideen benutzt, um die Wirklichkeit zu fälschen. (Nur die Philosophen sähen sie richtig.) Auch Holbach beklagt, die öffentliche Meinung verleite zu falschen Anschauungen von Ruhm und Ehre. Hinter diesen falschen Anschauungen stünde die gesamte Obrigkeit, die daran interessiert sei, dass einmal verbreitete Meinungen unbezweifelt bestehen blieben. Die Menschen würden von den Regierungen [28]blind gemacht. Ein wesentliches Mittel dazu sei die Religion. »Aus der Unkenntnis der natürlichen Ursachen entstanden die Götter«, ja die Grundlage der Religion bilde immer die Unwissenheit, deren Richtschnur die Einbildungskraft sei.13 So sehr sich diese Theorie auch auf die Religion konzentrierte, enthielt sie doch einen allgemeinen wissenssoziologischen Kern, den Holbach trefflich so formuliert: »Die Autorität hält sich gewöhnlich für verpflichtet, die einmal vorhandenen Meinungen beizubehalten. Die Vorurteile und die Irrtümer, die sie zur Sicherung ihrer Macht für notwendig erachtet, werden durch Gewalt, die sich nie nach der Vernunft richtet, aufrechterhalten.«14 Mit anderen Worten: Hinter den Anschauungen und Glaubensvorstellungen stehen die Machtinteressen besonderer sozialer Gruppen, die ihre Machtposition durch eben diese Vorstellungen und Weltanschauung verschleiern wollen. Wer also auf Ideen blickt, muss auch immer nach dem Cui bono fragen, also danach, für wen sie von Nutzen sind.

Während Bacons Theorie der Idole den Schwerpunkt auf die sozial, psychologisch und anthropologisch bedingten Formen der Selbsttäuschung legt, geht es der Aufklärung dagegen um (mehr oder weniger bewusste) Täuschung. Zwar hatte die Aufklärungsphilosophie auch andere Quellen für Täuschungen eingeräumt. Wie Bacon führen einige Autoren anthropologische Gründe an, die im menschlichen Wesen zu finden sind: Hobbes betrachtet das Begehren als Ursache für falsches Wissen, Locke dagegen sieht den Grund dafür in Unlustgefühlen und Egoismus und Helvétius in den Leidenschaften und Emotionen: »Die Leidenschaften sind in der Moral das, was in der Physik die Bewegung ist.«15 Im Unterschied zu diesen anthropologischen Erklärungen liegt die Theorie des Priesterbetrugs »der Lüge näher als dem falschen Bewusstsein«.16 Sie kommt dem Grundmuster einer Verschwörungstheorie gleich, in der den »Anderen« eine verborgene, täuschende Absicht unterstellt wird.

Die Interessentheorie stellt also eine Ausweitung der Priesterbetrugstheorie auf andere Kreise als nur die Priester dar. Der Bezeichnung ›Interessentheorie‹ wurde von Theodor Geiger vorgeschlagen, auf den wir später noch eingehen werden: »Die Interessentheorie besagt, dass die im Gefühls-, Trieb- und Willensleben wurzelnden Interessen-Motive die Gedankengänge des Menschen vom geraden Wege zur objektiven Wahrheit ablenken.«17

Die »Interessentheorie« bildet die Grundlage einer frühen Form der Ideologiekritik, die sich nicht nur mit der Religion, sondern mit den Ideen insgesamt beschäftigt. Von Bedeutung sind hier besonders die so genannten »Ideologen«, zu denen Etienne [29]Bonnet de Condillac, Antoine Louis Claude Destutt de Tracy und Claude Adrien Helvétius zählten. Der für die Wissenssoziologie und die Ideologienlehre so zentrale Begriff der »Ideologie« geht vermutlich auf Destutt de Tracy’s »Elements d’ideologie« (1801–1805) zurück. Destutt de Tracy selbst benutzte den Begriff der Ideologie noch in einem neutralen Sinn für eine Wissenschaft der Ideen, die er begründen wollte. Die Ideologie sollte das richtige Verfahren aufzeigen, das bei der Bildung von Ideen zu befolgen sei. Er schlug sogar vor, Ideen als Teil der Zoologie zu betrachten. Um das »Tier« Mensch wirklich erfassen zu können, sollte man seine geistigen Leistungen abmessen – wobei er natürlich von den religiösen Aspekten absah. Im Gefolge von Bacon argumentierten ›Ideologen‹ wie etwa Helvétius (in »De l’esprit«)18, dass Ideen auf Wahrnehmungen beruhten und deswegen die Philosophie ebenso wie die Wissenschaft auf empirische Beine gestellt werden sollte. Unsere Ideen sind seines Erachtens notwendigerweise Folgen der Gesellschaft, in der wir leben. Die Reaktionen der Menschen auf verschiedene Ereignisse und Tatsachen verändern sich, sobald wir den Standpunkt wechseln. Die Menschen nehmen Ideen und Vorstellungen an, die ihrer besonderen sozialen Position und beruflichen Stellung entsprechen. Wie Barth betont, wird Helvétius damit Vorläufer der ab dem 19. Jahrhundert so populären Milieutheorie, »indem er zu beweisen suchte, dass der Mensch nichts anderes ist als das Produkt der geistigen und sozialen Umwelt, in die er hineingeboren wird«.19

Ideen sind, so Helvétius, an die Interessen »besonderer Gemeinschaften« (Adel, Könighaus, Klerus) gebunden, die – ihren natürlichen Interessen zufolge – gegen das öffentliche Interesse handelten. Denn die Idee tritt nie rein auf, sie ist vielmehr mit der »amour de la puissance« verbunden, dem Verlangen der Menschen nach Macht. Das verzerrt sie zwar, führt aber auch dazu, dass Ideen sich in der Wirklichkeit entfalten können. Deswegen werden insbesondere ethische Ideen sozial determiniert. Die Gefühle der Vaterliebe, Mutterliebe und Kinderliebe etwa sind nicht nur das Ergebnis von Überlegung, sondern vor allem Frucht der Gewohnheit. Deswegen, folgert Helvétius, sind alle Gedanken und Begriffe der Menschen über die Vermittlung anderer erworben worden. Wie Holbach behauptet er sogar, dass unsere Arten zu denken von den Bedingungen unserer Existenz vollständig determiniert würden, weil das Denken und Handeln von den Interessen bestimmt werde, die sozial bedingt seien. Gegen die herkömmliche Auffassung der Philosophie, die diesen Einfluss übersehen hätte, setzten Helvétius und d’Holbach ein »soziologisches« Verständnis der Ideen, die Menschen in ihrem Verhalten leiten. Die für die Wissenssoziologie charakteristische Analyse des Einflusses der Gesellschaft auf die Ideen bildet damit einen zentralen Gegenstand ihrer Überlegungen.

Die Annahme einer sozialen Determination der Ideen führte auch zu einer folgenreichen aufklärerischen »Wissenspolitik«, die bis heute fortwirkt: »L’éducation peut [30]tout« – durch Erziehung vermag man alles zu ändern. Eine Voraussetzung für diese »Politik« bildet die Annahme, dass der Mensch und sein Erkenntnisvermögen eine passive Instanz ist, die man von außen her verändern könnte und sollte, um das Allgemeinwohl – also das Glück der größten Zahl – zu verbessern. Die Veränderung der Menschen könnte durch das Bewusstsein erfolgen. Zu diesem Zwecke müsste man sie nur richtig erziehen. Zwar sei alles Wissen interessenbezogen. Doch könnte die Veränderung der sozialen Umwelt eine Veränderung der Menschen bewirken. Denn, wie Hélvetius zeigt, stehen unterschiedliche Arten der Erziehung in einem Zusammenhang mit verschiedenen Arten der Regierung. Eine demokratische erziehe gute Menschen, eine despotische dagegen erziehe böse Menschen ohne Geist. Die Verbesserung der Erziehung führe deswegen zu politischem Fortschritt. Unter einem aufklärerischen Regiment könne, so die Hoffnung, auf diese Weise ein Menschentyp entstehen, der aufrecht sei, mutig, offen und loyal. Eine weitere Folge der aufklärerischen Philosophie für die »Wissenspolitik« war der Kampf gegen die Vorurteile. Er wurde zu einem wichtigen politischen Anliegen, ging man doch davon aus, dass Staat und Kirche an der Erhaltung der Vorurteile interessiert waren.

Aufgrund dieses wissenspolitischen Veränderungswillens verwundert es nicht, dass der Versuch der Ideologen, eine »Wissenschaft der Ideen« zu begründen, auf den erbitterten Widerstand der Herrschenden stieß, in diesem Falle besonders Napoleons. Napoleon nämlich war es, der für die Verunglimpfung des Begriffes »Ideologie« war. In einer scharfen Polemik bezeichnete er die »Ideologen« als unrealistische und närrische Idealisten – eine Assoziation, die dem Begriff der Ideologie noch heute anhaftet. Es ist bezeichnend, dass dieser Begriff selbst in einer ideologischen Debatte geprägt wurde. Denn mit dem Versuch der Ideologen, eine Veränderung der Welt durch Bildung zu bewirken, kamen sie Napoleon und seiner imperialistischen Machtpolitik in die Quere. Der Konflikt hat noch breitere soziologische Gründe, ist er doch mit dem Aufkommen des europäischen Bürgertums verbunden. Mit dem Zerfall der mittelalterlichen Ständegesellschaft kam es zu einem Austausch von Ideen, der parallel zur Entwicklung der kapitalistischen Geldwirtschaft stand. Bildung, die bisher ein Privileg der Priester und Mönche gewesen war, wurde säkularisiert und ging auf eine neue humanistische Gelehrtenschicht über. Das Ideologieproblem ist damit auch Ausdruck der Emanzipation des europäischen Bürgertums, das sich nun gegen die traditionellen Gelehrten religiöser Provenienz richtete – und gegen diejenigen, die das von den religiösen Lehren legitimierte politische System vertraten.

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