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2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen AlltagAlltag

Das ErzählverfahrenErzählverfahren, das alles, was im Leben der Figuren eigentlich ungewöhnlich erscheinen sollte, als alltäglich beschreibt, prägt die hier besprochenen Schilderungen. Sie thematisieren Kritik der gesellschaftlichen Verfassung und zugleich AnpassungAnpassung an die Situation, Unzufriedenheit, Unbehagen im prosaischen AlltagAlltag, Gefühllosigkeit, Orientierungsverlust und das immer wieder anklingende Bestreben einer möglichen Selbstentwicklung. Die allumfassenden Anliegen charakterisieren alltägliche Geschichten aus der DDR, der BRD, dem vereinten Deutschland, Österreichs und der Schweiz. Die Ereignisse, die Bernd Willenbrock in Christoph HeinsHein, Christoph Willenbrock (2000) direkt betreffen, charakterisieren nicht nur seinen Ausschnitt aus einem scheinbar durchschnittlichen Lebenslauf, sondern erwecken zugleich den Eindruck einer zeitnahen Bestandsaufnahme. Willenbrock passt sich erfolgreich an die veränderten politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse an; er verspürt keine Nostalgie und verlangt keine Abrechnung mit ehemaligen SED-Mitgliedern oder Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes, selbst wenn diese, wie er jetzt weiß, ihm seine Arbeit erschwerten und Reisen ins Ausland verhinderten. Er betrachtet ironisch und distanziert das jüngste Zeitgeschehen. Er handelt mit Gebrauchtwagen, das Einkommen steigt ständig, das Unternehmen wird vergrößert, Bernd und sein Bekanntenkreis bejahen den Kapitalismus. Seine Ehe befriedigt ihn. Er findet jedoch, er müsse seinem Stand entsprechend auch erotische Erlebnisse haben. Seine Affären mit einer Angestellten, einer Hausfrau und einer Studentin hinterlassen in ihm das Gefühl, er habe ein von ihm erwartetes Soll erfüllt. Diese Schilderung unterstreicht den Eindruck der Anpassung an eine Konsumgesellschaft, in der alle vor sich hinleben. Heins Roman charakterisiert jedoch zugleich in scharfen Vignetten (Diebstähle im Autohof, Einbruch im Sommerhaus, interesselose Polizei und Steuerbehörde, teilnahmslose Krankenschwestern, jeder soll sich wie der Taxifahrer eine Waffe kaufen, Ausschnitte aus dem Leben des polnischen Mechanikers Jurek) die Entgleisungen der Gesellschaft.

Die Darstellung der AnpassungAnpassung an die Umstände und zugleich Kritik der unhaltbaren Zustände in HeinHein, Christophs Willenbrock vermittelt den Gesamteindruck einer überzeugenden Kritik der Gesellschaft und des Orientierungsverlusts der Personen, die sich mit den Umständen abgefunden haben. Die Beschreibung der Beerdigung von Bernds Schwiegermutter ist sowohl für sein Verhalten als auch für das anderer in der Gesellschaft aufschlussreich. Der Schwager lobt seine Frau für die Pflege der alten Mutter und ist zugleich froh, dass nun die Dachwohnung für die Tochter frei geworden ist. Sie „war bereits ausgeräumt und sollte in den nächsten Tagen tapeziert werden“.1 Die Skizze des Essens nach der Beerdigung vertieft die Charakterisierung Willenbrocks als Experte eines Lebensstils ohne ethische Verpflichtung. Als die Kellnerin Bier an den Tisch bringt, fragt Bernd seinen Schwager sofort, ob er „ein Verhältnis“ mit dem Mädchen habe. Die peinliche, unpassende und dem Augenblick völlig unangemessene Frage entspricht Willenbrocks Erfahrungs- und Erwartungshorizont: Kontaktlosigkeit wird durch Augenblickserfahrungen überwunden. Die Lösung der Misere entzieht sich dem Einblick der Figuren. Deshalb stellt der Erzähler nur nüchtern fest: In Berlin beginnt „Sibirien neuerdings vor unserer Haustür“. (211)

Willenbrock gehört in die lange Reihe von Figuren, deren Handeln und Unterlassungen allumfassende menschliche und gesellschaftliche Defizite beleuchten. Die Figuren stellen Fragen, die jeden Leser berühren, aber finden keine Antwort. Die Texte verdeutlichen: Das Schweigen ist kein Verschweigen. Es ist der Tatbestand eines Leidens an einer verspürten Öde des Daseins. Jurek Becker Becker, Jurekschildert in Aller Welt Freund (1982), wie dieses Befinden schließlich in einem Selbstmordversuch mündet. Kilian, dessen Beobachtungen und Erfahrungen einen Überblick des Zeitgeschehens vermitteln, ist Journalist, der Tagesnachrichten berichtet und kommentiert. Alle Nachrichten sind bedrückend und Kilian „leidet“ besonders an den „Zuständen, die dahintersteckten“.2 Die Zustände bleiben stets dieselben: Borniertheit der Politiker, kriminelle Übeltaten, Hunger, Demonstrationen, staatliche Auseinandersetzungen, die die Furcht vor Kriegen schüren, Epidemien, nie endende Leiden der Menschen und ein AlltagAlltag, der von „lächerlichen Kleinigkeiten“ (Einkaufen, Trinken, Kino, Wochenende, Verdruss im Beruf) bestimmt ist. Das Resultat ist ein Symptom der frühen Vergreisung nicht nur in Kilian, sondern auch in zahlreichen Personen in seiner Umgebung. Ein Angestellter der Behörde, der Bruder Manfred, Kilians Freundin Sarah, der Arzt, der Pfarrer, die Mutter und Zimmervermieterin haben ein „Abwehrsystem“ eingebaut, um sich anpassen zu können. Die eingehenden Vorbereitungen auf den SelbstmordSelbstmord, der durch die zufällige Rückkehr der Vermieterin verhindert wird, enden schließlich in dem Entschluss, sich wie alle anderen an die bestehenden Gegebenheiten anzupassen. Kilian wird in Zukunft ohne die quälende Ermittlung einer möglichen sinnvollen Selbstentwicklung leben.

Die Erfahrung, dass man es ohne gesellschaftskritische Auseinandersetzungen schaffen kann, berufliche Erfolge hat und mit dem AlltagAlltag zufrieden ist, wird in Erzählungen aufgegriffen, die sich nicht auf die thematisierte EinkreisungEinkreisung konzentrieren. Die erstaunliche Sensibilität für Alltagssorgen ist nicht auf deutsche Autoren und Autorinnen begrenzt, sondern gehört zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur. Trotz markanter Unterschiede im Lokalkolorit Österreichs und der Schweiz bestehen deutliche Übereinstimmungen in der Gestaltung der geschilderten Lebensläufe. Da die Einkreisung, Orientierungssuche und Überwindung der Krise in den folgenden Kapiteln eingehend untersucht wird, verweise ich hier nur auf einige kennzeichnende Texte. BeckerBecker, Jurek beschreibt in Irreführung der Behörden (1973) die Konjunktur des Romanciers Gregor, dessen Romane verfilmt werden und der sein ursprüngliches Unbehagen am Alltag als vorübergehende Erscheinung ablehnt. In Robert MenassesMenasse, Robert Erzählungen entsteht aus einer kaum merkbaren Verknüpfung von EntwicklungsthematikEntwicklungsthematik und Kulturkritik mit wechselnden Erzählperspektiven ein Gesamtbild unserer Tage. Menasse schildert die Lebensfahrt Roman Gilanians als Rückschau, kritische Sichtung der VergangenheitVergangenheit und Bejahung widersprüchlicher Tendenzen in der GegenwartGegenwart. Die Trilogie setzt ein mit Sinnliche Gewißheit (1988), einem Roman, in dem die Reflexion, das grüblerisch Nachdenkende überwiegt. In Selige Zeiten, brüchige Welt (1991) gelingt der Kunstgriff, die traditionelle Erzählperspektive des 19. Jahrhunderts zu beleben. Die Erzählperspektive wird dadurch ein wesentliches Element der Ortung der Vergangenheit. Sie fängt sowohl die Freude am Plaudern als auch die Vorstellung einer heilen Welt ein und verbindet sie mit der Sehnsucht nach einer Zeit, der permanente Identitätskrisen fremd waren. Schubumkehr (1995) verdeutlicht bereits in der diskontinuierlichen Formgeste, dass das Anlehnungsbedürfnis an die Vergangenheit verständlich ist, aber keine Lösung für die Ansprüche der Gegenwart bietet. Schubumkehr ist eine Zeitenwende in der Geschichte, im Tageslauf einer Dorfgemeinschaft und im Leben der Figur Roman Gilanian. Aber Roman, von der Mutter „Romy“ genannt, der das Leben der Einwohner der kleinen Gemeinde Komprechts im Schicksalsjahr 1989 und damit gewissermaßen im Kleinen den Aufbruch zur neuen Zeit auf einer Videokassette festhält, stellt zu seiner Enttäuschung fest, dass sie leer ist.

Komprechts, ein österreichischer Ort an der tschechoslowakischen Grenze, benötigt dringend wirtschaftliche Fördergelder, da die beiden wichtigsten Unternehmen, eine veraltete Glasfabrik und ein unrentabler Steinbruch, nicht mehr konkurrenzfähig sind. Der rührige Bürgermeister leitet die gesamte Umstrukturierung, die Schubumkehr, ein. Die Unternehmen, die Natur und die Menschen werden verändert, modernisiert und in die Neuzeit überführt. Der Vorgang ist begleitet von Ereignissen, Mord, Vergiftung, Ausländerhass, Unterdrückung, inzestuösen Neigungen, Magersucht, Leiden und Vernichtung sensibler Menschen. In den spannend geschriebenen Romanen entsteht ein thematischer Querschnitt durch die Zeit. Bei aller Sozialkritik sind sie letztlich lebensbejahend. Die allgemeine Umstrukturierung ist zugleich ein Aufruf, sich tätig dem Dasein zuzuwenden.

Die phantastischen Geschichten aus dem alltäglichen dörflichen Leben in Polen in Radek KnappsKnapp, Radek Franio (1994) ähneln der Schilderung in Schubumkehr. Durch die nahtlose Verbindung von konkretem Detail, Traumvisionen und schweifender Phantasie entstehen kleine Meisterwerke des magischen RealismusRealismus. Knapp, der seit 23 Jahren in Österreich lebt, gewinnt dem Leben auf dem Lande das ab, was weder die traditionellen Heimatromane noch die desillusionierende Anti-HeimatHeimat-Literatur bieten: Skurrile Bahnbeamte, weltfremde Grübler, in der Sonne träumende Kinder und selbst ein real wahrgenommener Teufel wirken belebt von einer nahezu greifbaren, plastischen WirklichkeitWirklichkeit des Seins. Die Figuren, Herr Trombka, der Bäcker Mostek, Schwager Wilhelm und Franio, sind belebt, nicht gedacht. Der Horizont ist offen, die Welt wirkt versöhnlich und der Erzähler führt seine Leser in Dörfer und „Städtchen, wo sogar die Wolken anders sind als überall sonst“.3

Der thematisierte AlltagAlltag in Schilderungen der Selbstentwicklung in den Werken von Silvio BlatterBlatter, Silvio, Urs Faes, Perikles MonioudisMonioudis, Perikles und Adolf Muschg entspricht weitgehend den Erkundungen einer Gruppe von Schweizer Autoren und Autorinnen, die sich halbjährlich seit Anfang der 90er Jahre trafen und unter dem Namen NETZ bekannt wurden. In den Texten von Urs Richle, Ruth Schweikert, Perikles Monioudis und Peter Weber stehen Figuren, die Adolf Muschg als „Projektionsfiguren“ bezeichnet, im Schnittpunkt der Handlung. Sie vermitteln den Eindruck, in ihrer HeimatHeimat heimatlos zu sein; sie fallen aus der Gesellschaft und ihre Symptome berühren sich mit den Eigenschaften der Figuren in der österreichischen und deutschen Gegenwartsliteratur. In Silvio Blatters Roman Das blaue Haus (1990) versinnbildlicht das Haus die heile Heimat, einen sicheren Hafen für flüchtende Künstler während des Zweiten Weltkriegs und den Ort der Liebe zu Kindern. Das Haus wird am Ende enteignet, da ein Staudamm gebaut wird, der das ganze Land unter Wasser setzt. Der Ausklang entspricht dem Dasein Heinrich Zinns, dessen ganzes Leben unter dem Zeichen eines aussichtslosen Kampfes gegen die Inhumanität seiner Umwelt steht. Die eingeschobenen Kommentare zum Zeitgeschehen und Vignetten von Lebensläufen in absteigender Linie beleuchten den verzweifelten Widerstand Einzelner gegen eine historische Entwicklung, die sich ihrem Einfluss entzieht.

Adolf Muschgs Besuch in der Schweiz (1978) stellt im Rahmen einer möglichen unmöglichen Liebesgeschichte zwei unvereinbare Welt- und Lebensanschauungen gegenüber. Franziska lernt Heinz auf einem Kliniker-Ball kennen; sie korrespondieren und der in der Schweiz lebende Heinz sendet ihr einen Verlobungsantrag. Sie besucht ihn, lernt seine Mutter kennen, die Franziskas Charakter und Benehmen als typisch deutsche „Nachkriegsmentalität“ beurteilt.4 Die Mutter und Heinz halten an einer altväterlichen Welt „wahrer“, auf Ikonen festgehaltener Werte fest und können Franziskas Einstellung zum Leben nicht verstehen. Der Gegensatz von Heiligenbildern und Freude am Tanzen lässt keine Lösung zu. Franziska und Heinz erkennen, dass die angestrebte Verlobung ein Missverständnis war. Sie reist ab und er hält an den tradierten Werten fest, die, wie die eingeschobenen Beobachtungen festhalten, im gegenwärtigen Leben in der Schweiz unzeitgemäß wirken.

Erzählungen und Kurzgeschichten von Perikles MonioudisMonioudis, Perikles veranschaulichen in der Sammlung Die Forstarbeiter, die Lichtung (1996) die Beobachtungen eines Spaziergängers. Ausschnitte aus den Erlebnissen Einzelner beschreiben, wie sich alle mit den täglichen Ereignissen abfinden. Die Ereignisse – jemand schneidet sich Daumen und Zeigefinger mit dem Brotschneideapparat ab, ein Pfarrer begeht SelbstmordSelbstmord, weil Eltern über seinen Religionsunterricht entrüstet waren,5 ein Mann hat einen unerwarteten Wutanfall, weil ihn ein Junge nicht gegrüßt hat, ein junger Baumgärtner leiht sich ständig Bücher und weigert sich, diese zur Bibliothek zurückzubringen, da er sie mit seinen Notizen gefüllt hat, ohne die er nicht existieren kann (36-38), ein Bäcker beobachtet die Welt, aber vergisst alles – regen zum Nachdenken an. Überall schlummern Probleme, aber der AlltagAlltag entzieht sich der Analyse. Der Spaziergang durch die Schweiz mündet letztlich in eine KreisbewegungKreisbewegung, in der sich der Alltag wiederholt.

Herta MüllersMüller, Herta Reisende auf einem Bein (1989) beschreibt die durchaus vergleichbare Situation in Deutschland. Die Erzählung schildert Ausschnitte aus dem Leben einer jungen Frau. Irene lebt in Deutschland, fährt ruhelos umher, erinnert sich an den Grenzübertritt aus Rumänien, das Übergangsheim, kahle Zimmer und unbestimmt unklare Stationen ihres Lebens. Sie versucht eine feste Bindung, einmal mit Thomas, einmal mit Franz, herzustellen. Ihr Gesuch, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, wird genehmigt. Dass sie außer der Tatsache, dass sie sich irgendwo in Deutschland befindet, aber keine erkennbare Beziehung zu dem Land hat, unterstreicht die eigentümliche Gestaltung der Figur. Irene ist eine Fremde im Leben und steht der alten und neuen HeimatHeimat ebenso fremd gegenüber wie allen Menschen, denen sie begegnet. Ihr Fremdsein ist ihre existenzielle Verfassung. Ihr Sehen erfasst nicht das Wesen der Dinge. Müller schreibt: „So lebte Irene nicht in den Dingen, sondern in ihren Folgen.“6 Die Folgen sind assoziativ verknüpfte, sich ständig entziehende Vorstellungen von Möglichkeiten. Versucht man sie zusammenzusetzen, so entsteht weder ein Erzählzusammenhang noch ein erkennbares Bild der Gesellschaft und des Landes. Was sich ergibt, ist eine aus Elementen zusammengesetzte Atmosphäre des Dauerzustandes alltäglicher Leiden in einer sinnentleerten Welt. Die Leere im Herzen, im Magen und im Blick kennzeichnet die Situation. Müller versucht, durch Auslassungen, kurze Sätze, vorübergleitende Wörter und die allgemein reduzierten Sprachfügungen den dementsprechend reduzierten Bewusstseinszustand der Figur zu deuten. Darüber hinaus wirkt sich die geistige Verfassung auf den physischen Zustand aus. Irene leidet. Sie ist nur vorübergehend am Leben, nur vorübergehend in einer Stadt am fremden Fluss gestrandet. Sie ist eine Bewohnerin „mit Handgepäck“, ständig aufbruchsbereit. Eine Erlösung aus dem Ennui bietet wahrscheinlich nur der Tod.

Zum AlltagAlltag gehören heute Probleme des Alterns, der Sozialfürsorge und des Herausfallens aus der Gesellschaft. Alltagserzählungen schildern oft die Bedrohung der Menschen von innen, die Gefährdung, die von einem unkontrollierbaren körperlichen Verfall ausgeht oder auch die Verletzung des allgemein Menschlichen durch den Alltag, der keine Rücksicht auf Alte oder Kranke nimmt. Beispielsweise verleiht Gabriele WohmannWohmann, Gabriele in Bitte nicht sterben (1993) der Erzählerin der jüngsten Generation einen unschuldigen, manchmal staunenden, wenn auch leicht kritischen Blick, der die unmittelbare Sicht auf das tägliche Leben von drei Schwestern mildert. Louisa, Bertine und Marie Rosa leben bescheiden, führen ein genaues Haushaltsbuch, genießen Kleinigkeiten, helfen sich gegenseitig, teilen ihre Sorgen und haben sich mit der unabänderlichen Tatsache des Alterns und des einsetzenden, langsam fortschreitenden körperlichen Verfalls abgefunden. Sie wissen um Krankheit und Tod, aber der Tod beherrscht nicht ihren Gesichtskreis. Trotzdem schildert die Erzählung kein Glück im kleinen Kreis und verzichtet auf jede Verklärung des Alterns. Was fehlt ist die Überzeugung, die Gewissheit, für andere von Bedeutung zu sein. Alle verlangen Liebe in einer eintönigen Welt. Da alle zu beschäftigt sind, fehlt dazu die Zeit. Die Erzählerin bemerkt mehrmals ganz nüchtern, dass die täglichen Anforderungen keine Zeit für das lassen, was alte Menschen im Stillen suchen: „In Gedanken war ich schon beim Aufbruch … Stirb nicht, Marie Rosa. Es paßt nicht in meinen Zeitplan. Verdammt alt, die Leute, die ich liebe.“7 Die Beobachtungen wiederholen sich ständig: „Wenn man sich so selten sieht, ist es anstrengend, sich überhaupt noch zu sehen. Am besten, man gibts gleich ganz auf.“ (25) „Wenn ihre Mutter bloß ahnte, wie mißmutig und ohne jede Anhänglichkeit, Diskretion, Erbarmen ihre Tochter zu ziemlich fremden Leuten über sie spricht.“ (32) „Kommt bald wieder, rief Bertine uns nach, und ich wußte, wie dringend sie das wünschte und wie gelassen sie es gleichzeitig in Kauf nahm, als selbstverständlich nahm wie ihr übriges Leben, daß bald vielleicht erst in einem Monat oder noch später wäre.“ (45) „Sie … rief uns kommt bald wieder nach.“ (60) „Vielen Dank für euren schönen Besuch, sagt meine Mutter, die das Lachen vorerst verlernt hat, vorerst. Aber nicht ihre Liebe. Sie bedankt sich für die paar Minuten an ihrem Bett.“ (347) Am Ende wird die Erzählung unversehens eine Schilderung der LiebesbereitschaftLiebesbereitschaft und der Lebenswürde alter Menschen.

Der Überblick zeigt: Darstellungen von Lebensläufen im AlltagAlltag erfassen kritische Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft, Orientierungssuche, AnpassungAnpassung, Versuche, aus der EinkreisungEinkreisung auszubrechen, Ansätze zur SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung, SelbsterkenntnisSelbsterkenntnis und Bewusstwerden der historischen Voraussetzungen der Zeit.

3. Die existenzielle Situationexistenzielle Situation: Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung

Die traditionelle realistische Darstellung der Raumerfahrung einzelner Figuren konzentriert sich auf Haus, Garten, Land und Begegnung mit anderen, die die Vorstellung des ‚Behaust-seins‘ erweckt. Die Tradition konkreter Raumdarstellungen besteht in der GegenwartGegenwart fort in Kriegsgeschichten, der Heimatliteratur und zahlreichen Erzählungen, in denen individuelle Krisen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Die Erzählungen von Walter KempowskiKempowski, Walter, Christoph RansmayrRansmayr, Christoph, Herbert RosendorferRosendorfer, Herbert und Jens SparschuhSparschuh, Jens sind aufschlussreich für diese Entwicklung. In der Nachkriegsliteratur und besonders in der Literatur seit den siebziger Jahren beleuchten Schilderungen des RaumsRaum zunehmend den Verlust der Orientierung. Deutlich ersichtlich ist die Verengung der Raumperspektive. Die offene Landschaft wird verdrängt von Innenräumen; die konkrete Erfahrung der Natur wird ersetzt durch vorüberfliegende Bilder im Fernsehen oder auf den Bildschirmen der Computer. Einzelne Figuren verlieren sich in den Fernsehlandschaften, andere verlieren jede Orientierung in fiktiven Mosaiken.

In Schilderungen existenzieller Konstellationenexistenzielle Situation zeichnen sich zwei deutlich ausgeprägte Gestaltungen des RaumsRaum ab. Sie sind beeinflusst von der Erfahrung und Auseinandersetzung mit den beschriebenen Zuständen der Umwelt. Einzelne Texte entwerfen die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins im Dialog mit der Welt. Der Raum öffnet sich. Im Gegensatz dazu sezieren zahlreiche Texte die überwältigende Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Medien, soziale Missstände, Identitätskrisen, menschliche Defizite, brüchige zwischenmenschliche Beziehungen, einengende Konventionen, den Verlust ordnungsstiftender Normen, besonders den Liebesverlust, die zunehmende AggressionAggression und die Unfähigkeit, historische Entwicklungen zu verstehen. Die Darstellungen bevorzugen Begrenzungsmotive: Zellen, einheitliche Zimmer, Bergwerke, Höhlen, Schächte, Gänge unter der Erde. Die Wohnraumatmosphäre ist trügerisch; die Zimmer bieten keinen Schutz, denn die Bedrohung dringt von außen durch die Medien ein; darüber hinaus ist sie im Gedächtnis der Figuren und deren zwanghaft grübelnden Reflexionen ständig gegenwärtig. Die Figuren fliehen in die Welt trügerischer Fernsehbilder; sie erfahren fantastische Rekorde in imaginären Quiz-Shows oder verlieren sich in Traumvisionen, die wiederholt von traditionellen Vorstellungen der Antike und des Paradieses beeinflusst sind.

Darstellungen, in denen die Erfahrung der WirklichkeitWirklichkeit zugleich die Horizonterweiterung der Beobachter veranschaulicht, erwecken selbst wenn das Geschehen wie in Siegfried LenzLenz, Siegfried‘ Das VorbildVorbild (1999) auf ein Zimmer konzentriert ist die Vorstellung des offenen RaumsRaum. Christoph RansmayrRansmayr, Christoph entfaltet in Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) die Illusion eines Expeditionsberichts, der scheinbar an Abenteuerliteratur anschließt. Der Bericht enthält Illustrationen, Zitate aus Tagebüchern und authentischen Aussagen, die im Kursivdruck zusammen mit den Überlegungen des Erzählers den Eindruck eines kritischen Kommentars erwecken. Die gesamte Schilderung konzentriert sich auf einen Ausnahmezustand, der jedoch von allen Figuren als selbstverständlich beschrieben wird. Die Wirklichkeit einer Expedition in die unentdeckte Fremde, dann Kaiser-Franz-Joseph-Land genannt, wird sachlich und ruhig geschildert. Hinter den Feststellungen von Carl Weyprecht, Julius Payer und Otto Krisch lauert jedoch das Grauen des existenziellen Ausgesetztseins. Ransmayr verzichtet auf Selbstanalysen und eingehende Charakterisierungen der Figuren. Stattdessen deutet ihr Handeln in der Einmaligkeit der Situation ihr Wesen und ihre Einstellung zur Welt. Die Zeitalter 1981, 1872, 1874 überschneiden sich; die Sachlage besteht fort: Mazzini verschwindet auf den Spuren arktischer Forscher „im Winter des Jahres 1981 in den Gletscherlandschaften Spitzbergens“.1 Weyprecht erfährt 1872 die absolute Verlassenheit im Eis; alle erleben Skorbut, Schwindsucht, Reißen, Hungern und Tod. Indem der Erzähler versucht, das Unmessbare messbar zu machen und das völlig Neue zu erkunden, entsteht eine SpiraltendenzSpiraltendenz in die Richtung der Erfahrung der GegenwartGegenwart und der SelbsterkenntnisSelbsterkenntnis. Ransmayr glaubt, jede Geschichte habe ihre Zeit und lebe in der Gegenwart: „Ich habe meiner Meinung nach nie etwas anderes als die Gegenwart beschrieben, selbst wenn es, wie in der Letzten Welt, um einen verbannten Dichter der Antike ging oder in einem anderen Roman – Morbus Kitahara – um ein verwüstetes, zur Erinnerung und Sühne verurteiltes Kaff in einem Nachkriegseuropa, das es nie gegeben hat.“2

RansmayrsRansmayr, Christoph Roman Die letzte Welt (1988) erweckt die Illusion einer Wirklichkeitserfahrung in der Antike. Die Handlung schildert die Suche des Römers Cotta nach seinem Freund Ovid und einer Abschrift von dessen MetamorphosenMetamorphose, um sie für die eigene Zeit und die Nachwelt zu bewahren. Cotta reist nach Tomi am Schwarzen Meer, dem Ende der zivilisierten Welt, wo sich der von Kaiser Augustus verbannte Ovid aufhält. Cotta verfolgt Spuren, findet Anhaltspunkte in seiner vom Erzähler in detaillierten Beschreibungen veranschaulichten Umwelt, entdeckt Ovids alten Diener Pythagoras, lauscht auf das Stammeln Fremder, die scheinbar Geschichten aus den Metamorphosen kennen, wird mit den Bewohnern Tomis vertraut und durchforscht die Gebirgswelt. Überfallen von schweifender Unruhe, beobachtet Cotta seltsame Szenen, ins Fremdartige entstellte Personen und fragmentarische Inschriften. Er erlebt Gewalttaten, Plünderungen, Überfälle. Er sucht Halt in seiner Erinnerung an das Leben in Rom, überdenkt politische Ereignisse und versucht die politischen und persönlichen Intrigen zu verstehen, die Ovid in die Verbannung trieben. Zugleich schafft seine Einbildungskraft Visionen, in denen die Realität Tomis, seine Träume und die Welt der Metamorphosen verschmelzen. Seine Einbildungskraft wird schließlich sehend: Er erlebt Metamorphosen und tritt ein in die vorhistorische Welt. Er selbst verwandelt sich, entdeckt die Märchenwelt in seinem Inneren, ruft Ovids Namen in die Wildnis und lauscht auf das Echo, das seinen eigenen Namen zurückträgt. Cotta findet sich, indem er sein Selbst aufgibt. Seine Erfahrung des RaumsRaum wirkt realistisch und erweckt den Eindruck, die VergangenheitVergangenheit sei GegenwartGegenwart. „Jeder Leser steht für eine andere, für seine Version meiner Geschichte und auch der Erzähler ist am Ende mit seiner Lesart nur einer unter vielen Weitererzählern, unterschieden von den vielen anderen nur durch die Tatsache, daß er den Urtext dieses Überlieferungs- und Verwandlungsspiels verfaßt hat.“3

Morbus Kitahara (1995) veranschaulicht eine zunehmende Verfinsterung der Welt im Rahmen eines Nachkriegszeitgeschehens, in dem das Leben aller nach dem ‚Frieden von Oranienburg‘ von den Auswirkungen des ‚Stellamour-Plans‘, eine Anspielung auf den Morgenthau-Plan, bestimmt wird. Der Plan wirft die Bevölkerung des besetzten Landes in eine vor-zivilisierte Steinzeit zurück, die zugleich die jüngste VergangenheitVergangenheit symbolisiert. Die Erfahrung der WirklichkeitWirklichkeit in einer von der Außenwelt völlig abgeschnittenen Ortschaft, in der alle „Arbeitsfähigen“ gezwungen sind, in einem Steinbruch zu arbeiten, wird beeinflusst von bildlich konkret erfassten Details der Kleidung, der scharrenden Hühner, der „tierischen Laute“4 eines Rudels wilder Hunde und der langsamen Erblindung des Protagonisten Bering. Sie wird jedoch weitgehend bestimmt von Schreckensbildern im Gegenüber von Besatzungstruppen, organisierten Banden und kahlköpfigen Schlägern und Guerillas, die die Welt verunsichern. Die Auswirkung auf die Menschen sind Lagerpsychosen, die die Welt weiter entstellen. Das Blickfeld ist verengt. Alle leben in einer unfassbaren Verbannung und werden für ihr eigenes Verhalten, ihr Nicht-Handeln oder die Taten ihrer Väter bestraft.

Das VorbildVorbild (1973) von Siegfried LenzLenz, Siegfried ist eine künstlerisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Frage, welche Vorbilder für die Jugend unserer Tage angemessen sind.5 Valentin Pundt, Rektor aus Lüneburg, Rita Süßfeldt, freie Lektorin und Herausgeberin von Lesebüchern, und Janpeter Heller, Studienrat am Diepholzer Gymnasium, treffen sich zu gemeinsamer Arbeit am dritten Kapitel eines Lesebuchs für den Deutschunterricht im achten Schuljahr. Das Buch entsteht im Auftrag eines Arbeitskreises der Kultusministerkonferenz und enthält unter anderem ein Kapitel „Lebensbilder und VorbilderVorbild“. Auf der Suche nach geeigneten Geschichten zu diesem Thema stoßen die drei Experten auf Widersprüche und grundlegende Fragen: Welches Verhalten ist überhaupt aus welchen Gründen als „vorbildlich“ zu bewerten? Bieten Vorbilder die Voraussetzung zur menschlichen Entwicklung? Sind sie Orientierungshilfen oder Angstmacher? Die ganz unterschiedlichen Lebensläufe und Erfahrungen der Protagonisten begründen ihre unterschiedliche Einstellung zu diesen Fragen.

Die Gegenüberstellung von Geschichten über Vorbilder, die von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe als geeignet angesehen werden, und wesentlichen Ereignissen aus ihrem eigenen Leben verdeutlicht die nahezu unüberbrückbare Kluft zwischen fiktiv gestalteten Denkformen und Widersprüchen des Daseins. Die Erzählung problematisiert drei Generationen. Pundt nahm am Weltkrieg teil, sein Sohn Harald engagiert sich bei den Studentenprotesten. Pundt hält sich für einen guten Erzieher, ist in der Beziehung zu seinem Sohn jedoch offensichtlich gescheitert, denn Harald hat sich das LebeSelbstmordn genommen, nachdem er dem Wunsch des Vaters entsprechend, ein ausgezeichnetes Examen abgelegt hat, in dem er keinen Sinn sieht. Pundt muss feststellen, dass er weder für die Bedürfnisse seiner Schüler noch für seinen Sohn jemals wirklich zugänglich war, und bricht schließlich seine Mitarbeit im Projekt „Vorbildsgeschichte“ ab. Der Roman beleuchtet die Konflikte und kommentiert zugleich das Bedürfnis nach Vorbildern, die der eigenen Zeit entsprechen und der persönlichen Entwicklung Raum und Ziel geben. Die Darstellung der Figuren weckt Teilnahme, ruft Kritik hervor und fordert durch Handeln und Unterlassungen die Leser zur Bestimmung ihres eigenen Standorts auf.

Auch Heller begeistert sich für die Studentenproteste. Er lehnt grundsätzlich jede Konvention und jeden Autoritätsanspruch ab und ist jederzeit bereit, sich zu empören, kann seinen eigenen Anspruch aber nicht einlösen, in dem er sich etwa einer offenen Diskussion mit einem Schüler stellen würde. Über die grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen hat er die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld aus dem Blick verloren. Seine Frau hat ihn verlassen, zu seiner Tochter kann er keine Beziehung aufbauen. Rita gehört ebenfalls zur Nachkriegsgeneration, ist jedoch anders als Heller zu Kompromissen bereit. Das Chaos in ihrer Wohnung entspricht dem Chaos ihrer Gedanken. Sie hält sich selbst nicht für ein VorbildVorbild zu sein, ist aber überzeugt, eine vorbildliche Handlung deuten oder schreiben zu können. Deutlich wird, dass ihre festen Überzeugungen die Mitglieder der Arbeitsgruppe daran hindern, sich zu einer gemeinsamen Lösung zusammenzufinden, die zwar nicht dem Ideal entspricht, aber zwischenmenschliche Beziehungen fördern könnte. Demgegenüber gibt Das VorbildVorbild die Antwort, dass Vorbilder die Forderung stellen, die Widersprüche anzuerkennen.

Deutlich ersichtlich ist, dass selbst Erzählungen von Walter KempowskiKempowski, Walter, Herbert RosendorferRosendorfer, Herbert und Peter RoseiRosei, Peter, die traditionell vorgeprägte und passende Erzählsituationen oder Perspektiven übernehmen, wie auch die Prosatexte von Thorsten BeckerBecker, Jurek, Thomas BernhardBernhard, Thomas, Jochen BeyseBeyse, Jochen, Hubert FichteFichte, Johann Gottlob, Ulla HahnHahn, Ulla und Elfriede JelinekJelinek, Elfriede, in denen realistische Details den Verlust menschlicher Entscheidungsfreiheit in der historisch bedingten Sphäre zunehmender Verdinglichung und Standardisierung von Beziehungen hervorheben, eine Übereinstimmung in der RaumRaumdarstellung aufweisen: Die WirklichkeitWirklichkeit ist widerspruchsvoll, selbst wandelbar und lässt unterschiedliche Perspektiven zu. Jede sinnvolle Gestaltung verbietet einen Oberflächenrealismus. Unverkennbar ist jedoch der Sachverhalt, dass in der thematisierten EinkreisungEinkreisung der Figuren trotz realistischer Einzelheiten feste Ort- und Zeitbestimmungen verschwimmen. Kempowski stützt sich in seinen Erzählungen jedoch auf die Annahme, dass die Wirklichkeit erkennbar ist. Die von ihm geschilderten Erinnerungen dokumentieren eine historisch authentische, aber begrenzte Sphäre.

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9783772001109
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