Читать книгу: «Nach Verdun», страница 3

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«Ganz einfach: Mit der Hochbahn zum Kottbusser Tor und dort umsteigen in die 28.»

Karl Liebknecht war, nachdem er seine Doktorarbeit an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg mit einem magna cum laude abgeschlossen hatte, nach Berlin gekommen und hatte hier 1899 zusammen mit Oskar Cohn und seinem Bruder Theodor ein Anwaltsbureau eröffnet.

Als Kappe und Galgenberg dort eintraten und frohgemut nach Ernst Bergmann fragten, schlug ihnen dieselbe eisige Ablehnung entgegen wie schon bei Alfred Stiller. Ein Anwaltsgehilfe gab ihnen einen höhnischen Rat mit auf den Weg: «Kommen Sie doch am 1. Mai auf den Potsdamer Platz, da finden Sie ihn ganz bestimmt.»

Galgenberg lüftete seinen Hut. «Danke sehr, der Herr, machen wir.»

Der 1. Mai fiel im Jahre 1916 auf einen Montag, und Kappe nutzte den Sonntag davor, um auf andere Gedanken zu kommen. Das gelang ihm am besten, wenn er Fußball spielte. Schon lange war er ja Mitglied bei Viktoria 89. Vor dem Krieg hatte es bei ihm nie zur ersten Mannschaft gereicht, dazu erschien er den Übungsleitern doch zu ungelenk und schläfrig, aber nun, da die besten Kicker alle im Felde standen, war man froh, mit ihm die Mannschaft auffüllen zu können, und stellte ihn auf. Wenn auch nur als Linksaußen, weil er dort am wenigsten Schaden anrichten konnte.

Auf dem «Gelände an der einsamen Pappel» an der Schönholzer Allee, einem ehemaligen Exerzierplatz und darum im Volksmund «Exer» genannt, ging es gegen Alemannia 90, im selben Jahr wie Viktoria als «Jugendlust» gegründet.

Es dauerte eine Weile, bis sie herausbekamen, auf welchem der vielen Plätze sie heute spielen sollten. Als sie es erfahren hatten, bemerkten sie, dass im Vorspiel die Latte zerbrochen war. Nach einigen Mühen war aber ein Zimmermann gefunden, der das gute Stück reparierte.

Die beiden Mannschaften nahmen Aufstellung. Vor dem Torwart gab es den rechten und den linken Verteidiger, dann kamen die Läufer: rechter Läufer, Mittelläufer und linker Läufer, vor ihnen die Stürmer: der Halbrechte und der Halblinke sowie Rechtsaußen, Mittelstürmer und Linksaußen. Das größte Prestige hatten der Mittelläufer und der Mittelstürmer sowie der Spielmacher auf halbrechts oder halblinks, immer balltechnisch beschlagen und mit dem strategischen Überblick eines Feldherrn.

Anpfiff. Als der ertönte, musste Kappe unwillkürlich an Galgenberg denken, der sofort gerufen hätte: «Nicht doch, Anpfiffe kriege ick schon im Dienst jenuch!»

Es war schwer, einmal abzuschalten. Schon gar nicht gelang ihm dies, als ihr Mittelstürmer einen gewaltigen Schuss aufs Tor abgefeuert hatte.

«Mann, war det ’ne Granate!», rief einer der Zuschauer. Kappe zuckte zusammen, denn er hatte sofort wieder ihren Misserfolg bei der Ergreifung des Handgranatenmörders vor Augen.

Noch mehr erschrak er aber, als er Klara unter den Zuschauern erblickte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie trat an die Barriere und winkte ihn heran. Er ließ sich Zeit.

Neben ihm schrie ihr Halblinker auf. Er hatte einen Schuss in den Unterleib abbekommen und wand sich am Boden.

«Mach hier nicht den sterbenden Schwan!», kam es von den Rängen. «Wir sind nich vor Verdun!»

«Mann, hab da nich so!», schrie ein anderer. «Det war nur ’n Ball und keen Schrapnell!»

Ein Dritter gab sich als Sanitäter. «Reib dir den Sack, aber kräftig - und gleich pinkeln gehen, sonst kriegste keene Kinda mehr.» Kappe nutzte die Spielunterbrechung, um zu Klara zu gehen und sie mit einem kurzen Kuss auf die Wange zu begrüßen.

«Das ist ja lieb von dir, dass du dich mal sehen lässt, wenn ich spiele …»

«Wir müssen nachher unbedingt noch über unsere Hochzeit reden.»

Kappe überlegte lange, wie er dem entgehen konnte. Eine Gelegenheit dazu bot sich erst kurz vor dem Halbzeitpfiff. Da stieg er zu einem Kopfball hoch und stieß dabei so unglücklich mit einem Gegenspieler zusammen, dass seine Augenbraue aufplatzte. Das war nicht schlimm, er blutete aber, so sollte es der Schiedsrichter später im Spielbericht vermerken, wie ein angestochenes Schwein und musste ins Krankenhaus, um genäht zu werden.

Als das erledigt war, sah er den Arzt so treuherzig an, wie er eben konnte. «Ob Sie meiner Braut nicht sagen können, ich hätte eine Gehirnerschütterung und müsste noch zur Beobachtung hierbleiben? Sie möge aber bitte schon nach Hause gehen.»

«Muss Liebe schön sein», murmelte der Doktor und tat ihm den Gefallen.

Am nächsten Nachmittag war alles vergessen, nur ein dickes Pflaster klebte noch auf seiner rechten Augenbraue. Kappe hatte sich mit Theodor Trampe in der Waldemarstraße vor der Haustür getroffen, um mit ihm zur großen Maikundgebung auf dem Potsdamer Platz zu fahren. Galgenberg stieß am Kottbusser Tor zu ihnen.

«Wohl dem, der eine Gehirnerschütterung hat», sagte Galgenberg, als er von Kappes Malheur erfuhr. «Weeß man wenichstens, det da wat is, wat erschüttert werden kann. Bei manch eenem Zeitjenossen wär ick mir da nich so sicher.»

Während Trampe rein privat zum Potsdamer Platz fuhr, um Karl Liebknecht zu lauschen, waren Kappe und Galgenberg dienstlich unterwegs, wobei Kappe gern das Private mit dem Nützlichen verband, Galgenberg hingegen linke Sozis wie Karl Liebknecht nicht ausstehen konnte.

«Klar, die Welt muss vabessert werden, aba nich von Knallköppen, wie der eena is.»

«Na, hören Sie mal!», rief Trampe.

«Nee, kann ick nicht», entgegnete Galgenberg. «Ick bin ja schließlich nich mein Nachbar.»

«Was hat denn das mit Ihrem Nachbarn zu tun?», wollte Trampe wissen.

«Na, der heißt Völker und hört immer die Signale - die, von denen Sie imma singen.»

Theodor Trampe unterließ es, den Agitator zu spielen. Einem Mann wie Galgenberg konnte man nicht böse sein. Ohne Gemütsathleten wie ihn wäre das Leben kaum zu ertragen gewesen.

Obwohl Kappe eng mit Trampe befreundet war, hatte er ihm nicht verraten, was sein eigentlicher Grund war, zum Potsdamer Platz zu fahren, denn dass er darauf aus war, Ernst Bergmann zu verhaften, hätte Trampe gar nicht gefallen. Kappe konnte sich nicht entscheiden, was er hoffen sollte: dass sie Bergmann trafen oder dass sie Bergmann nicht trafen.

Wie er aussah, wussten er und Galgenberg ziemlich genau, denn bei der Politischen Polizei gab es ein paar Photos von ihm. Und da hatte die Röddelin gar nicht mal so unrecht, denn Bergmann sah wirklich aus wie ein Neandertaler. Aber dass ihnen dieser Neandertaler bei einer Massenkundgebung in die Arme lief, war praktisch ausgeschlossen, es sei denn, man vertraute Galgenbergs Welterkenntnis Nummer eins, die da lautete: «Haste Glück, machste dick.»

«Janz schön wat los hier», sagte Galgenberg, als sie am Potsdamer Platz aus der U-Bahn stiegen. «Wenn die mir alle ’ne Mark schenken würden, hätte ick für den Rest meines Lebens ausjesorgt.» Alles drängte in Richtung Rednertribüne. Man lief Ellenbogen an Ellenbogen, und teilweise war die Drängelei so groß wie auf dem Bahnsteig Alexanderplatz beim Entern eines gerade eingefahrenen Stadtbahnzuges. Unter den Arbeitern bemerkte Kappe auffällig viele Frauen und Jugendliche. Die ersten Scharmützel mit der Polizei ließen nicht lange auf sich warten. Einige Arbeiter hatten unten an ihren Spazierstöcken Nadeln angebracht, und pikte man mit denen in die breiten Hinterteile der Polizeipferde, bäumten die sich auf, gingen durch und verhinderten so eine befohlene Attacke.

Als es einer ausprobierte, ließ der Effekt nicht lange auf sich warten: Die Blauen und ihre Offiziere wurden nervös und fingen an, die Masse mit Fäusten hin und her zu stoßen.

Kappe hatte Mühe, nicht in Panik zu verfallen. Hier zerquetscht zu werden war auch kein schöner Tod. Wäre er doch bloß Wachtmeister in Wendisch Rietz und Storkow geblieben! Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, ausgerechnet hier nach dem Handgranatenmörder zu suchen?

Sie waren zu weit von der Rednertribüne entfernt, um sein Gesicht deutlich erkennen zu können, sie hörten aber deutlich die sonore Stimme Karl Liebknechts: «Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!»

«Bravo!», rief Trampe.

«Pfui!», schrie Galgenberg.

Kappe lag mit seiner Meinung irgendwo dazwischen und wusste nicht so recht, wie er seine Gefühle in Worte fassen sollte. Außerdem … Er rammte Galgenberg den Ellenbogen in die Seite.

«Mensch, da ist der Bergmann!»

Richtig, der Mann, der da etwa zehn Meter von ihnen entfernt an einem Laternenpfahl lehnte, musste es sein. Stichwort: Neandertaler.

Nun ging alles ganz schnell. In dem Moment, als sie sich durch die Menge drängeln wollten, um Ernst Bergmann zu verhaften, wurde Karl Liebknecht, der kurz zuvor festgenommen worden war, inmitten eines Knäuels von Polizisten zur Wache abgeführt.

«Hoch, Liebknecht!», rief Theodor Trampe.

Sofort waren zwei Polizisten zur Stelle, um auch ihn zu arretieren.

Kappe zögerte keinen Augenblick, den Freund herauszuhauen, und zückte seine Marke.

«Das ist meiner, den habe ich schon festgenommen, der hat mir eins aufs Auge gegeben.»

Da unter dem Pflaster auf der Augenbraue noch alles blau war, zog dieses Argument, und man ließ Trampe los.

Als sich Kappe wieder auf Bergmann konzentrieren wollte, war der verschwunden. Nein, Galgenberg war ihm noch dicht auf den Fersen …

Doch auch Galgenberg hatte keinen Erfolg, denn die Berittenen hatten inzwischen blankgezogen, und ein Hieb mit der flachen Seite eines Säbels warf ihn nieder.

FÜNF

DIE BACKSTEINERNEN GEBÄUDE der Firma «Klaucke & Kutzner, Telegraphenkabel & Zubehör» standen weit draußen im Norden der Stadt, auf einem öden Grundstück an der Flottenstraße. Immerhin in der Nähe des Bahnhofs Reinickendorf an der Vorortstrecke nach Velten, so dass Karl Nassmacher morgens vom Ringbahnhof Stralau-Rummelsburg kaum mehr als fünfzig Minuten bis hier hinaus benötigte. An die Eisenbahnfahrt 3. Klasse war er seit Jahren gewöhnt, und er wäre nie auf die Idee gekommen, sich etwa am nahen Wedding eine Behausung zu suchen. Als jung zugewanderter Werneuchener fühlte er sich ganz als eingeborener Berliner. Und ein Berliner blieb seinem Kiez treu, selbst wenn sein Quartier, genau betrachtet, knapp außerhalb der eigentlichen Stadtgrenze lag, in Boxhagen-Rummelsburg, das zur jungen Stadt Lichtenberg gehörte.

In der Gryphiusstraße bewohnte er ein möbliertes Zimmer bei der Gardeoffizierswitwe Knippenhain, die einerseits über ihn und den betagten Lehrer Mehlhase, den Mieter des zweiten Zimmers nach vorn raus, ihr strenges Regiment führte, ihn andererseits jedoch auch ein wenig bemutterte, als Ersatz für den als Leutnant im Felde stehenden Sohn. Seine Gedanken über den Sohn und den Krieg behielt Karl Nassmacher tunlichst für sich. Und dass er den Vorwärts las, schien die Witwe nicht zu erschüttern. Ihr Interesse an Geschriebenem beschränkte sich auf die unregelmäßig eintreffenden Briefe des Herrn Leutnant aus Belgien - eine Zeitung zu lesen hielt sie für unter ihrer Würde. Nur Mehlhase ließ sich gelegentlich auf hitzige Diskussionen mit dem radikalen Agitator ein, als den er Nassmacher ansah.

Ein weiterer Grund, die freundliche Gegend um den Boxhagener Platz nicht zu verlassen, existierte seit nunmehr gut einer Woche nicht mehr: die gemeinsame, meist wortlose Fahrt zur Arbeit mit Emil Wasikowsky, der mit seiner Minna in Alt-Boxhagen dem Friedhof gegenüber gewohnt hatte. Am vergangenen Freitag hatten sie den alten Meister zu Grabe getragen. Nassmacher hatte ihn in den dreizehn Jahren seiner eigenen Tätigkeit bei Klaucke & Kutzner mehr und mehr schätzen gelernt. Ohne Wasikowsky wäre in dieser Bude wahrscheinlich seit Jahren kein einziger Meter Telegraphenkabel mehr gefertigt worden. Die Firma, noch vor dem Krieg mit ihren überalterten Bottichen und Maschinen aus einer baufälligen Remise am Ostbahngelände hierher in die Flottenstraße umgesiedelt, bestand eigentlich nur aus dem nie gesehenen Teilhaber Klaucke, dem ebenso redseligen wie unfähigen Direktor Kutzner - und Emil Wasikowsky, dem Einzigen, dem es gelang, dass am Ende der musealen Fertigungsstrecke tatsächlich daumendicke schwarze Kabel auf Trommeln gewickelt und verkauft wurden. Mit zunehmend hohem Gewinn, so wusste Nassmacher von Wasikowsky - wie überhaupt nahezu alles, was er über den Betrieb wusste, von Wasikowsky stammte.

Neben mancher drohenden Gebärde und gelegentlichen schmerzhaften Rippenstößen erfuhr er von ihm die Grundbegriffe der Schlosserei und der Kabelfertigung sowie Kenntnisse aus einem guten halben Dutzend anderer Berufe. Er lernte, was Guttapercha war und wie man daraus unter Zusatz von Holzteer und Harz die Isoliermischung Chatterton-Compound herstellte, und er verbrachte Tage damit, das korrekte Verlöten der Kupferadern beim Verlängern zu üben.

Zu Wasikowskys Genugtuung erwies sich Karl Nassmacher als ein anstelliger Lehrling mit beinahe ebenso goldenen Händen wie der Alte selber. Nach vier Jahren hatte es jedenfalls zu einem Gesellenbrief gereicht. Schweren Herzens musste sich Kutzner zu einem Hungerlohn für den Vorarbeiter herablassen, als den sich Nassmacher trotz seines immer noch jugendlichen Alters nach weiteren drei Jahren bezeichnen durfte. Während Wasikowsky sich weiterhin um den von einer uralten englischen Dampfmaschine angetriebenen sogenannten Maschinenpark kümmerte, unterstanden Karl Nassmacher fortan die zwei Dutzend Arbeiter, was zwar seiner Eitelkeit schmeichelte, seinem nun einmal links schlagenden Herzen aber nicht guttat.

Noch schlechter erging es jedoch der Gesundheit. Immer wieder kam es vor, dass bei Klaucke & Kutzner Männer plötzlich umkippten, entweder an den Bleibottichen oder an den stinkenden Guttapercha-Pressen, aus denen die schwarze Masse an allen unerwünschten Stellen drang. Nachdem der Stabsarzt bei der Musterung fürs Militär Karls breiten Brustkorb mit kritischer Miene abgehorcht und anschließend dessen untere Augenlider weit heruntergezogen und misstrauisch beäugt hatte, bellte er: «Beruf?» und schüttelte auf Karl Nassmachers Antwort hin nur den Kopf und sagte: «Umgang mit Blei und Kupfer, wie?»

Karl bestätigte es und erfuhr zu seiner freudigen Überraschung, er sei ausgemustert. Das Beste für ihn sei, viel Milch zu trinken und sich an der frischen Luft zu bewegen. Karl verabscheute Milch, und von frischer Luft konnte allenfalls sonntags in der Laubenkolonie die Rede sein, wenn die Genossen sich nicht in irgendeinem verräucherten Saal versammelten oder sonst etwas Wichtiges für Partei oder Gewerkschaft anlag. Außerdem: Weshalb sollte ausgerechnet er etwas für seine Gesundheit tun, wenn sie ihn anschließend dafür zu den Preußen holten?

Er hustete morgens ein bisschen und abends vor dem Einschlafen auch, aber das konnte ebenso gut von den Zigaretten herrühren, von denen er täglich an die zwanzig, dreißig Stück rauchte. Er war ein kräftiger und, wie ihm die Mädchen immer wieder bestätigten, gutaussehender junger Kerl, nicht sehr groß geraten, der aber dennoch allemal mehr Mumm in den Knochen hatte als die übrigen bleichgesichtigen Gespenster in der Halle, deren Kraft zum Schluss nicht mal mehr zum Drehen der Kabeltrommeln reichte. Selbst von denen standen inzwischen ein paar im Felde vor Verdun oder wo auch immer. Ihre Plätze nahmen - unerhörtes Ereignis bei Klaucke & Kutzner - Frauen ein! Junge Frauen sogar, die ihre Arbeit nicht einmal schlecht und für weniger Geld taten. Man musste nur auf sie aufpassen, und das fiel Karl Nassmacher nicht immer leicht. Die Mädels hatten ganz andere Tricks drauf als die Altgedienten, um den wachsamen Vorarbeiter einzuwickeln oder von irgendwelchen Fehlern abzulenken. Tricks, die Karl Nassmacher mitunter erröten und sekundenlang wegblicken ließen, denen aber gelegentlich auch mal eine Handgreiflichkeit seinerseits folgte. Und siehe da: Das schien der einen oder anderen nicht einmal unangenehm zu sein.

Seit jedoch Betti Boretzki an der Litzenflechtmaschine arbeitete, war es vorbei mit solchen Vertraulichkeiten. «Entweder du fässt mir an und keine andere - oder du fässt alle andern an und mir nie wieder», hatte sie ihm an ihrem ersten gemeinsamen Abend im Treptower Eierhäusschen klipp und klar erklärt. Er hatte sich sofort entschieden und war mit einem kühnen Vorstoß seiner Hand sehr weit an ihrem Oberschenkel vorgedrungen. «Nur noch dich», hatte er gelobt und sich seitdem streng daran gehalten. Sie war ein ausnehmend hübsches Ding, und sie himmelte ihn an, wie er bald merkte. Und nicht nur er. Die flotte Betti wurde zum Gespött ihrer eifersüchtigen Kolleginnen, wusste sich jedoch mit ihrer Berliner Kodderschnauze gut zu wehren. «Man bloß nich so neidisch, ihr alten Eisenten», war noch das Mildeste, was sie denen entgegenschmetterte. «Wer hat, der hat!»

Ja, sie hatte ihn, und er war stolz darauf. Das Problem war nur, dass sie noch in der Kochstube bei ihren Eltern in der Marienburger Straße wohnte und er bei der gestrengen Frau Knippenhain. Jetzt, wo es wärmer wurde, konnte er vielleicht die halbfertige Laube zu einem gemütlichen Nest ausbauen, aber in der kalten Jahreszeit war ihnen nur gelegentlich das spärlich möblierte Zimmer von Bettis Freundin Lotte geblieben, deren Wirtin gegen ein geringes Entgelt männliche Besucher ihrer Untermieterinnen großzügig übersah. Charlotte Naujoks arbeitete seit kurzem ebenfalls bei Klaucke &

Kutzner, ein dralles, mitunter etwas grell angemaltes Mädchen mit einem bemerkenswerten Hinterteil und aufreizendem Wesen. Nett anzusehen, aber kein Vergleich mit Betti Boretzki.

Wie hübsch und aufreizend seine Betti auch auf andere Männer wirkte, hatte Karl Nassmacher vor gut sechs Wochen zu spüren bekommen, als der plattfüßige Kutzner eines Vormittags plötzlich mit einem Offizier an seiner Seite in den Niederungen der Kabelfertigung aufgetaucht und herumgeschlendert war. Der Oberleutnant - so weit kannte sich Karl in der militärischen Rangordnung aus - durchschritt die Halle, als wate er knietief in Exkrementen, und seine Miene verriet höchsten Widerwillen. Erst als er Bettis ansichtig wurde, hellte sich sein narbiges Gesicht ein wenig auf. Leutselig und von Karl aus einiger Entfernung misstrauisch beäugt, näherte er sich der jungen Frau und setzte zu einem Gespräch an.

Betti, als hätte sie ihn gar nicht wahrgenommen, fuhrwerkte gekonnt in dem Gesträuch der Kabellitzen herum und wandte sich ihm erst zu, als der Oberleutnant sie vertraulich an die Schulter fasste. Im nächsten Augenblick war es auch schon zu spät. Die Maschine gab stotternde Knurrlaute von sich, würgte noch einen Augenblick an den Drähten und blieb stehen. Schlappend lief der Treibriemen leer.

«Sie dürfen mir hier nich ablenken!», fuhr Betti den erschrockenen Offizier an. «Jetz ham wa den Kabelsalat!»

Höchste Zeit für Karl Nassmacher einzugreifen. Natürlich nicht ohne diesem dämlichen Oberleutnant einen verächtlichen Blick zu gönnen.

Damit hatte alles Unglück angefangen.

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Offizier um Kutzners leibhaftigen Schwiegersohn, mit einem Heimatschuss soeben siegreich aus dem Felde heimgekehrt und vom Herrn Direktor als sein unmittelbarer Vertreter inthronisiert, «um den ganzen Laden mal richtig auf Vordermann zu bringen!», wie der Herr von Zabelsdorff sich auszudrücken beliebte. Er verstand zwar nichts von Elektrizität, von Kabeln oder Guttapercha-Ersatzstoffen, aber er gedachte, die Firma gründlich umzukrempeln und die Kabelproduktion erheblich zu steigern.

«Sie haben ja keine Ahnung, wie wichtig diese Kabel und Drähte draußen im Felde sind!», pflegte er etwa dreimal stündlich zu behaupten, verknüpft mit einem unpassenden Beispiel aus dem Schützengraben, das jeder in der Halle bald mitsingen konnte, gipfelnd in der Bemerkung: «Unsere Munition - das sind diese Kabel!» Von denen von Zabelsdorff allerdings nie eines auch nur mit dem kleinen Finger berührte. Der teerige Ersatzstoff für die Isolation hinterließ bleibende Flecke.

Karl Nassmacher hielt sich auf Wasikowskys Rat hin zunächst einmal zurück im Umgang mit dem forschen Herrn von von Zabelsdorff. Aber der Alte geriet schnell genug selber mit ihm aneinander, als von Zabelsdorff versuchte, ihn über Stand und Zustand deutscher Technik zu belehren. Darauf reagierte der Alte empfindlich. Und ebenso empfindlich auf von Zabelsdorffs Befehl, das Tempo der Dampfmaschine und damit aller angeschlossenen Maschinen und Aggregate zu erhöhen. Gegen Wasikowskys ausdrücklichen Willen hatte Kutzner die übliche jährliche Inspektion des schnaufenden Ungeheuers aus Manchester im letzten Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr versäumen lassen, und nun, Ende April, begannen die ersten Lager zu schlagen, und eine Welle lief hörbar unrund.

Von Zabelsdorff gab dem alten Meister die Schuld. Er tönte von Unfähigkeit und Zersetzung an der Heimatfront, von alten Knackern, die nicht vom Siegeswillen angesteckt seien und nichts von Maschinen verstünden.

Wasikowsky blieb ihm nichts schuldig, und Karl Nassmacher fühlte sich verpflichtet, seinem so ungerecht beurteilten Förderer beizuspringen.

Das brachte von Zabelsdorff erst recht in Harnisch. Von sozialistischem Gesindel war da plötzlich die Rede, von Drückebergern und Simulanten, die sich dem heldischen Kampf einer ganzen Nation zu entziehen verstanden, was er, Oberleutnant Arndt von Zabelsdorff, nicht länger hinzunehmen geneigt sei. Und ebenso wenig die Gewerkschaftsumtriebe in einem Unternehmen von nationaler und möglicherweise kriegsentscheidender Bedeutung.

Da hatte also jemand geplaudert. Vor Kutzner hatten sie ihre Parteizugehörigkeit zwar nicht direkt geheim gehalten, aber der hatte sich um derlei nie geschert. Auf der gemeinsamen Heimfahrt hatten Nassmacher und der gar nicht zu beruhigende Wasikowsky zum ersten Mal seit langer Zeit mehr als zehn Worte miteinander gewechselt. Ein Ausweg, sich dieses Ekels von Zabelsdorff zu entledigen, war ihnen nicht eingefallen.

Als Wasikowsky am nächsten Morgen nicht wie gewohnt vor der Haustür wartete, war Karl im Hinterhaus bis in den dritten Stock gestiegen, wo er auf die weinende Minna Wasikowsky traf. Ihr Mann hatte sich die ganze Nacht über unruhig herumgequält und sich immer wieder im Bett aufgerichtet, um seinen linken Arm zu massieren. Gegen Morgen war er dann plötzlich mit einem lauten Stöhnen in die Kissen zurückgesunken. Vor einer Viertelstunde hatte der Arzt den Tod festgestellt. Erschüttert stand Karl neben der Leiche des Mannes, dem er so viel verdankte, und Wut stieg in ihm auf, als er an den Verursacher dieses Unglücks dachte. Der sollte ihn kennenlernen!

Von Zabelsdorff reagierte wie erwartet auf die Todesnachricht. In seinem gläsernen Kabuff, das er sich in erhöhter Position in der Hallenmitte hatte aufbauen lassen, nahm er Nassmachers grimmigen Rapport nahezu ungerührt entgegen. «An der Heimatfront gefallen», sagte er nüchtern. «Ich habe viele Männer sterben sehen, darunter bessere als ihn.»

Am liebsten hätte ihm Karl ins Gesicht geschlagen. Doch er bezwang sich und kehrte von Zabelsdorff wortlos den Rücken.

Der rief ihn zurück. «Ich habe ein Auge auf Sie, Nassmacher!», meinte er mit einem drohenden Unterton. «Und wenn Sie glauben, dass Sie jetzt den großen Maxen spielen können, dann irren Sie sich gewaltig. Hier bin ich der Befehlshaber. Und Sie sind allenfalls ein Armierungssoldat. Einer, den ich morgen an die Front schicken kann, wenn es mir beliebt. Daran sollten Sie immer denken! Es gibt Ärzte, die einen Simulanten mal etwas gründlicher untersuchen. Und es gibt Kräfte, die sich lebhaft für politische Unruhestifter in der kriegswichtigen Industrie interessieren. Das sollten Sie niemals vergessen, Nassmacher!»

Auch das hatte Karl schweigend über sich ergehen lassen. Nur als ihn von Zabelsdorff noch einmal zurückpfiff, um ihm mit einem maliziösen Lächeln mitzuteilen, dass er künftig keinerlei Vertraulichkeiten zwischen dem offiziell nie bestätigten Vorarbeiter und den Arbeiterinnen an den Maschinen dulden würde, entgegnete Karl mit vor Wut trockener Kehle: «Fräulein Boretzki ist meine Verlobte!»

Von Zabelsdorff grinste verkniffen. «So? Das haben Sie aber bisher geheim gehalten, wie? Und Ringe tragen Sie auch nicht.»

«Bei der Arbeit an Maschinen trägt man keine Ringe», sagte Karl kalt. «Außerdem sollten doch gerade Sie den Spruch kennen: Gold gab ich für Eisen.»

Vergeblich versuchte von Zabelsdorff, seine Linke mit dem klobigen goldenen Siegelring unter der Schreibtischplatte verschwinden zu lassen. «Kümmern Sie sich um die Bleischmelze!», sagte er wütend. «Da gibt es angeblich Schwierigkeiten.»

Als er Betti in der Mittagspause von der Auseinandersetzung erzählte, wollte Karl ihr den Teil mit der Verlobung eigentlich verschweigen. Dann siegte sein gutes Herz. Betti sah ihn ungläubig an.

«Meinste det ernst?», fragte sie zweifelnd.

Karl griente. Zum ersten Mal an diesem traurigen Tag. «Gesagt ist gesagt», meinte er.

Betti fiel ihm um den Hals. «Wenn et so is, denn komm ick am 1. Mai sojar mit zu deine Dämonstruierung oder wie det heißt.»

Das war mehr, als Karl erwartet hatte.

«Eine Frau jehört an der Seite ihres Mannes», verkündete Betti hoheitsvoll.

Karl widersprach ihr nicht.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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9783955520038
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