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Читать книгу: «Kappe und die verkohlte Leiche», страница 3

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VIER
Freitag, 23. September 1910

HERMANN KAPPE hatte Feierabend und überlegte, ob er vom Polizeipräsidium nach Hause laufen oder sich eine Fahrt mit der Straßenbahn gönnen sollte. Vom Alexander zum Mariannenplatz waren es keine drei Kilometer, also von der Entfernung her ein Klacks für ihn, doch Pflastertreten war mühsam. Er beschloss, das Problem durch eine Art Gottesurteil zu lösen: Kam gerade eine 22 oder 46 die Alexanderstraße entlang, wenn er die Haltestelle passierte, wollte er einsteigen, kam keine, würde er zu Fuß nach Hause laufen. Die 46, unterwegs nach Rixdorf, kam herangerumpelt, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als einzusteigen. Er wählte die vordere Plattform, denn wie ein kleiner Junge liebte er es, dem Mann an der Kurbel beim Fahren über die Schulter zu schauen. Schon wurde abgeklingelt. Der Fahrer löste die Bremse und schaltete die Motoren hoch. Bald aber musste er schon wieder anhalten, um nach links in die Kaiserstraße abzubiegen. Kappe war schon so oft mit der 46 gefahren, dass er die Strecke ganz genau kannte: Alexanderstraße - Kaiserstraße - Große Frankfurter Straße - Andreasstraße - Schillingbrücke - Köpenicker Straße - Adalbertstraße - Waldemarstraße.

«Noch jemand ohne Fahrschein?» Hinter ihm klimperte der Schaffner ebenso fordernd wie ungeduldig mit dem «Galoppwechsler», den er auf der Brust hängen hatte.

«Moment. ..» Kappe griff in seine Brusttasche - und erbleichte. Da steckte keine Brieftasche. Gott, die hatte er in seiner Schreibtischschublade liegenlassen. Als würde er sich nun selber einer Leibesvisitation unterziehen, klopfte er sich mit beiden Händen alle Taschen ab. Nichts. Wie peinlich. Wenn der Schaffner jetzt halten ließ, um einen Schutzmann zu rufen, dann war er blamiert bis in alle Ewigkeit. Entweder sie spotteten über ihn als Dorfdeppen, der nicht wusste, dass man in Berlin für eine Straßenbahnfahrt zu bezahlen hatte, oder sie unterstellten ihm, er habe die Straßenbahngesellschaft um das Fahrgeld prellen wollen. «Ich will zur Waldemarstraße. .. Bis dahin werde ich schon noch zwei Groschen in meinen Taschen gefunden haben.»

«Hoffen und Harren macht manchen zum Narren», erwiderte der Schaffner.

Kappe war verzweifelt. Da hörte er eine Frauenstimme aus dem Innern des Wagens. «Kommen Sie, Herr Schaffner, ich zahle schon für meinen Mann.»

Er fuhr herum - und stand da wie vom Schlag getroffen. Wenn er sich nicht täuschte, war das Klara Göritz aus Wendisch Rietz. Sie war etwas jünger als er, und bevor sie nach Berlin gegangen war, hatte er sie angebetet. Bei jedem Fest hatten sie miteinander getanzt, und er hatte immer damit geprahlt, sie sei seine Braut, aber der Funke war nie so richtig übergesprungen, und sogar gegen einen flüchtigen Kuss hatte sie sich gewehrt.

«Du hier. ..?!» Er starrte sie an, gebannt von dem Gedanken, dass es nur die Macht des Schicksal sein konnte, die sie hier zusammenführte.

«Ja, ich hier.» Sie löste den Fahrschein für ihn.

«Danke. Wie kann ich das wiedergutmachen, das heißt, dir das Geld. .. das du. ..» Kappe begann zu stottern und hatte das Gefühl, mächtig rot zu werden. Seine Erfahrungen im Umgang mit dem anderen Geschlecht waren nicht so groß, dass er den Lebemann spielen konnte. «Darf ich dich nachher zu einer Tasse Kaffee einladen?»

Klara Göritz blickte in ihr Portemonnaie. «Ja, das können wir uns noch leisten.»

«Dann fahren wir zum Görlitzer Bahnhof und setzen uns da in ein Restaurant?»

Sie zögerte einen Augenblick. «Ich muss nach Hause, ich bin schon. ..»

«Dein Bräutigam?», fragte er. Es war ihm so herausgerutscht. Sie gab sich sibyllinisch. «Vielleicht. Nein, ein andermal.» Kappe wusste nicht genau, worauf sich dieses Nein bezog, wollte aber die ihm verbleibende Zeit unbedingt nutzen, sich fest mit ihr zu verabreden. Er musste sie wiedersehen! «Erzähl doch mal schnell, was du jetzt so machst und wo du wohnst.»

«Wo ich wohne?» Wieder zögerte sie. «In Rixdorf, in der Pannierstraße. Ich bin Verkäuferin bei Rudolf Hertzog.»

Manchmal ist es ein einziger Satz, leichtfertig dahingesagt, der das Leben eines Menschen entscheidend lenkt. Bei Klara Göritz war es so, als ihr der Pfarrer im Konfirmationsunterricht verraten hatte, dass sich ihr Vorname aus dem Lateinischen herleite. «Da heißt nämlich clarus, -a, -um so viel wie hell, glänzend, berühmt.» Von da ab wollte sie nur noch glänzen. Da das in Wendisch Rietz als Tochter eines Holzarbeiters nur schwer möglich war, hatte sie alsbald ihren Koffer gepackt, um in Berlin in Stellung zu gehen. Nach einigem Hin und Her war sie bei einem Abteilungsleiter des Kaufhauses Rudolph Hertzog untergekommen und durch dessen Fürsprache dort später als Verkäuferin eingestellt worden.

«Bei Rudolph Hertzog», wiederholte Kappe. «Nicht schlecht. Ich bin Kriminalwachtmeister und wohne auch in Rixdorf.»

Sie lachte. «Du lügst, du willst mich nur nach Hause bringen.»

«Ich gestehe alles. Wann sehen wir uns denn nun wirklich?» Klara zuckte mit den Schultern. «Wenn der Zufall es wieder einmal will.»

«Das dauert mir zu lange. Dann besuche ich dich eben bei Rudolph Hertzog.»

«Danke für die Warnung. Aber ich arbeite in der Abteilung für Damenwäsche.»

«Macht nichts, ich werde mich verkleiden. Als Kriminaler lernt man das.»

«Waldemarstraße. .. Du bist da, nun steig mal aus.» Huldvoll hielt sie ihm die rechte Hand hin.

Kappe war verwirrt. Sollte er die nun nehmen und sie drücken - oder sollte er einen Handkuss auf den Seidenhandschuh hauchen? Er entschied sich für die schnelle Flucht und sprang vom Wagen, bevor der gehalten hatte. Dann winkte er ihr hinterher, während die 46 in Richtung Lausitzer Platz entschwand.

Die Welt war ein Irrenhaus. Da streifte er durch Berlin, um seinen Mörder zu finden - und traf seine große Liebe.

Gedankenverloren lief er die Waldemarstraße entlang und merkte gar nicht, dass einer seiner Nachbarn gerade aus einem Kolonialwarenladen trat.

«Hallo, Herr Kappe! Sie hier und gar nicht in Moabit?» Kappe fuhr herum. «Ach, Sie. .. Was soll ich in Moabit?»

«Na, die Streikbrecher schützen.» Theodor Trampe, zehn Jahre älter als Kappe, wohnte mit seiner Frau und den drei Kindern auf derselben Etage, sodass Kappe ihm mehrmals in der Woche über den Weg lief. So ganz lieb war ihm das nicht, denn im ganzen Kiez war bekannt, dass Trampe Funktionär bei den Sozialdemokraten war, zwar nur kleiner Kassierer, aber dennoch. Kappe wusste, dass seine Vorgesetzten es nicht gerne sahen, wenn Polizeibeamte Umgang mit den Sozis hatten. Er hatte sich auch schon vorsichtig nach Trampe erkundigt, und es hieß, der habe das Zeug zu einem Reichstagsabgeordneten. Gefährlich sei er auch deswegen, weil er dafür war, die Monarchie abzuschaffen und das Deutsche Reich zu einer Republik zu machen. Von Beruf war er Elektroinstallateur und verdiente, da immer mehr Berliner Häuser an das Stromnetz angeschlossen wurden, gutes Geld. Immer, wenn er Leitungen verlegte oder zerstörte Kabel reparierte, agitierte er und suchte den Leuten nahezubringen, was die SPD in ihrem Programm stehen hatte.

«Ich habe mich nicht um die Streik-, sondern um die Einbrecher zu kümmern», erklärte Kappe dem Nachbarn.

«Warum werden denn Menschen zu Einbrechern?», fragte Trampe, um die Antwort gleich selber zu geben. «Weil die Bourgeoisie ihnen nicht das gibt, was nötig ist, um ein glückliches Leben führen zu können.»

«Und darum schießen sie, wenn man sie stört, auf einfache Schutzleute wie mich», entgegnete Kappe.

«Für den Mann, der auf sie geschossen hat, war es sozusagen Notwehr gewesen - er hatte nicht ins Zuchthaus wandern wollen.»

Kappe winkte ab. «Es gibt Grenzen, Trampe, feste Grenzen. Wie heißt es? Du sollst nicht töten. Das gilt auch dann, wenn man bei einem Einbruch erwischt wird.»

«Man kann die Menschen auch ganz anders töten: mit Hungerlöhnen, einer elenden Wohnung, damit, dass man ihnen keine Arbeit gibt. .. Das sind die großen Verbrechen.»

«Ich bin nur für die kleinen Verbrechen zuständig», sagte Kappe.

Damit waren sie vor dem Mietshaus Waldemarstraße 73 angekommen, das etwa zwischen Mariannen- und Lausitzer Platz gelegen war. Kappe mochte die Gegend. In ein paar Minuten war er am Görlitzer Bahnhof und an der Hochbahnstation Oranienstraße. Wurde man krank, lag die Diakonissen-Anstalt Bethanien gleich um die Ecke. Wollte man sich die Füße vertreten, konnte man am Ufer des Luisenstädtischen Kanals und des Engelbeckens lustwandeln. Auch Läden und Kneipen gab es in Hülle und Fülle. Hochnäsig war keiner, der hier wohnte, aber auch richtige Proleten gab es nur wenige.

Natürlich konnte er sich keine eigene Wohnung leisten, sondern war nur Untermieter. Eine Zimmervermittlung am Schlesischen Bahnhof hatte ihn zu Pauline Mucke geschickt. Die hätte es als Witwe eines Verwaltungssekretärs an sich nicht nötig gehabt, eines ihrer beiden Zimmer zu vermieten, doch sie liebte es, einen jungen Herrn zu bemuttern, seit ihre eigenen Söhne ausgezogen waren. «Wenn de Untamieta hast», erklärte sie ihrem Kaffeekränzchen des Öfteren, «denn musste nich erst in’t Theata jehn, da erlebste ooch so jenuch.» Sie war extrem neugierig und schnüffelte gern in den Sachen ihrer Mieter herum. Natürlich nur, um sie an möglichen Torheiten zu hindern. Da sie stundenlang im Hausflur, in den Geschäften und am Straßenrand stand und tratschte, wusste sie über alles Bescheid, was in der Gegend um den Mariannenplatz von Bedeutung war.

«Hamse schon jehört?» Damit eröffnete Pauline Mucke jedes Gespräch. «Hamse schon jehört, Herr Kappe, det die Cholera ausgebrochen is?»

«Wo? Hier am Mariannenplatz?»

«Nee, in Ostpreußen oben.»

«Eher in Westpreußen», korrigierte sie Kappe. In Kalthof am linken Ufer der Nogat, Marienburg gegenüber, hatte es verdächtige Erkrankungen gegeben, aber die Seuchengefahr war inzwischen gebannt. «Darf ich bitte in mein Zimmer. ..» Da ihr Gesprächsbedarf bei weitem noch nicht gedeckt war, verstellte sie ihm den Weg.

«Und das Wetter erst! Im Harz und im Thüringer Wald ham se mächtiget Hochwasser.»

«Na, ehe hier die Waldemarstraße unter Wasser steht, werden noch ein paar Tage vergehen. Außerdem wohnen wir im dritten Stock.» Kappe hatte es endlich geschafft, bis zu seiner Zimmertür vorzudringen. Er drückte sie auf und nickte der Vermieterin noch einmal zu. «Ich darf mich dann empfehlen. ..»

«Jehn Se ma nich zu früh zu Bett, der Herr Trampe sagt, det et in Moabit bald krachen tut - und dann müssen sicha alle Schutzmänna hin.»

Friedrich Schwina litt seit einiger Zeit an einer geheimnisvollen Kehlkopferkrankung und konnte nur noch ganz leise sprechen. So war es kein Wunder, dass ihn in seinen Kreisen wie bei der Polizei alle unter dem Namen Flüster-Fritze kannten. Eigentlich kam er aus dem Wedding, da er aber die meiste Zeit seines Lebens im Moabiter Zellengefängnis verbracht hatte, fühlte er sich eigentlich als Moabiter. Spezialisiert war er auf Diebstähle und Einbrüche, hatte aber auch schon einige Vorstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung aufzuweisen, denn je mehr er getrunken hatte, desto rabiater wurde er. Auch schlug er blindlings zu, wenn er bei einem Einbruch überrascht wurde. Er wohnte in einer Laube zwischen Sickingenstraße und Bahndamm und galt als Sonderling, dem man lieber aus dem Weg ging. Wer an seinem windschiefen Zaun vorbeikam, wurde von einem Schäferhund fürchterlich verbellt. Er hatte dem Tier den Namen Mistvieh gegeben, doch es war das einzige Wesen, das er liebte.

«Mach’s gut, Mistvieh.» Er kraulte und tätschelte das Tier noch einmal, ehe er seine Behausung verließ und sich auf den Weg zur Chausseestraße machte. «Und wünsch mir viel Glück.» Der Hund bellte wie verrückt, und Schwina nahm es als gutes Omen. Er hatte sich da einen Trick ausgedacht, der viel Geld versprach. Leider brauchte er einen Komplizen dazu, denn wegen seiner auffälligen Stimme konnte er bestimmte Sachen nicht mehr selber machen, die Kriminalbeamten hätten ihn sonst gleich erkannt. Das Dumme an einem Komplizen war, dass man mit ihm teilen musste. Andererseits war Alfons für ihn auch mehr als nur ein Komplize. Wie auch immer, Alfons hatte gestern nach einem Kohlen- oder Gemüsehändler suchen müssen, von dem auch kleine Fuhren angenommen wurden, und war in der Lüneburger Straße fündig geworden. «Kommen Sie bitte zum Haus Chausseestraße 98, dort wartet Herr Baurat von Ferbitz auf Sie. Es sind ein paar wertvolle Möbelstücke zu seiner Schwiegermutter zu bringen.»

Aber wer dort wartete, war Friedrich Schwina, hinter einer Litfaßsäule in Deckung gegangen. Pünktlich war der Fuhrwerksbesitzer zur Stelle. Zuerst harrte er der Dinge, die da kommen würden, und hielt oben von seinem Bock Ausschau nach dem Baurat. Die Minuten vergingen. Als ihm die Zeit zu lang geworden war, sprang er auf die Straße hinunter, um sich auf die Suche nach dem Baurat zu begeben. Wahrscheinlich musste der erst herausgeklingelt werden.

Schwina wartete, bis der Fuhrwerksbesitzer einen aus dem Haus kommenden Mieter angesprochen hatte und ihm den Rücken zukehrte, dann kam er hinter der Litfaßsäule hervor und schwang sich auf den Kutschbock. In Sekundenschnelle hatte er sich die Zügel gegriffen. «Hüh!» Mit Pferden umzugehen hatte er schon als Kind gelernt, und der Braune vor dem Wagen setzte sich sofort in Trab. Es ging die Chausseestraße hinunter, als wollte er zum Oranienburger Tor. Aber das war nur eine Finte, um den Fuhrwerksbesitzer zu täuschen, wenn der die Verfolgung aufnahm. Schon an der nächsten Querstraße bog Schwina scharf nach rechts ab, um am Naturhistorischen Museum vorbei zur Scharnhorststraße zu gelangen und den ganzen Komplex von Kasernen und Krankenhäusern zu umfahren. Über die Boyenstraße kam er wieder auf den Straßenzug Chaussee- und Müllerstraße zurück und konnte diesen nun, vor jeder Verfolgung ziemlich sicher, in entgegengesetzter Richtung entlangfahren. Oben an der Müllerstraße hatten Zigeuner ihr Lager, und denen verkaufte er für gutes Geld Pferd und Wagen.

Es war ein guter Tag für Friedrich Schwina, denn wenig später sah er ein Fahrrad, nur so an einen Baum gelehnt, und damit war er bald wieder in seiner Laube zurück. Er küsste das Mistvieh auf die Schnauze. Das brachte immer Glück.

Keine halbe Stunde später stand ein nobel gekleideter junger Mann vor seinem Gartenzaun und begehrte Einlass. «Ich bin’s, Alfons.»

Alfons Weißagk kam aus einer ehrbaren Familie. Sein Vater war Mitinhaber einer kleinen Privatbank und seine Mutter sogar eine «von». Nach fünf Knaben hatte er eigentlich ein Mädchen werden sollen, und von seiner liebenden Mutter war er auch lange Zeit als solches gekleidet und behandelt worden. «Ist er nicht süß - wie ein Mädchen.» Schauspieler und Sänger hatte er werden wollen - und nicht Bankier. Mit siebzehn Jahren war er dann mit einem älteren Mimen durchgebrannt und prompt vom Elternhaus verstoßen worden. Alles, was er nun tat, begriff er als Rache. Eines Tages war es ihm gelungen, ein Blatt aus dem Verbrecheralbum herauszureißen, das Blatt mit seiner Photographie und seiner Vita, und das hatte er seinem Vater zum fünfzigsten Geburtstag nach Hause geschickt. «Mit herzlichen Glückwünschen - zu diesem Sohn.» Die meisten Strafen hatte er als Hochstapler aufgebrummt bekommen, aber auch Trickbetrügereien und Heiratsschwindel gehörten zu seinem Repertoire. Sozusagen geerbt hatte er die Nähe zu den höheren Kreisen, und so war es ihm ein Leichtes, die Rolle des ergebenen Dieners stilecht auszufüllen und sich das Vertrauen seiner Herren zu erschleichen. So erfuhr er viele Dinge, die es ihm und seinem Komplizen leicht machten, an reiche Beute zu gelangen. Sie hatten schon ein kleines Vermögen angehäuft und sicher versteckt. Dass Schwina in einer Laube lebte und er nur Diener war, gehörte zur Tarnung. Spätestens im Sommer des nächsten Jahres wollten sie alles nehmen und nach Amerika gehen. Er selber träumte immer nur von Buenos Aires, Friedrich dagegen hätte lieber in den Vereinigten Staaten gelebt.

Friedrich Schwina holte seinen teuersten Kognak aus dem Versteck. Sie stießen auf den gelungenen Coup mit dem Pferdefuhrwerk an.

«Mehr als dreimal dürfen wir das nicht machen», sagte Weißagk. «Dann sind alle kleinen Fuhrunternehmen gewarnt und rufen den nächsten Blauen herbei, wenn ich auftauche.»

Schwina rechnete im Kopf. «Uns fehlen noch mehr als zehntausend Mark.»

«Keine Sorge, ich bin ja jetzt bei Kockanz.»

«Verdient der denn mit seinen beiden Kohlenplätzen so viel?» Schwina war da etwas skeptisch.

«Nein, aber er hat einen reichen Onkel in Koblenz. Leder en gros und en detail. Außerdem gibt es Bares, das der Onkel nicht auf seinem Konto haben durfte. Ich weiß bloß noch nicht, wo Kockanz das versteckt hat. Aber das werde ich schon noch herausbekommen, muss mich nur beeilen, denn er will sich ein Grundstück kaufen, oben in Frohnau.»

Am Montag war der Streik bei Kupfer & Co. ausgerufen worden, aber erstaunlicherweise war es die ganze Woche über in Moabit vergleichsweise ruhig geblieben. Der Zorn der Streikenden und ihrer Sympathisanten auf die Streikbrecher und die Schutzleute, die ihre Kohlenwagen eskortierten, hatte sich lediglich in Schimpfkanonaden entladen, und überall war es bei Drohgebärden geblieben. Die organisierten Arbeiter waren ohnehin diszipliniert, und die Radaubrüder, die Gelegenheiten wie diese gern nutzen, um sich gehörig auszutoben, hatten zwar das Straßenpflaster aufgerissen, nutzten die Steine aber noch nicht, um die Schutzleute damit zu bewerfen. Diese wiederum zogen die Säbel zwar blank, attackierten aber noch niemanden. Die Staatsmacht hielt sich zurück und nahm es ohne große Reaktionen hin, dass die Streikenden Kaufhäuser und kleine Läden zwangen, Plakate ins Schaufenster zu hängen, auf denen groß zu lesen war, dass sie Streikbrecher weder mit Lebensmitteln noch mit Schlafdecken beliefern würden. Der Polizeimajor Klein hatte vorsichtshalber eine Verstärkung des zuständigen und des Nachbarreviers angeordnet, um für alle Fälle Mannschaften zur Stelle zu haben, doch seine Beamten verbrachten ruhige Tage.

Die Lunte mochte glimmen, aber es sah lange Zeit nicht danach aus, dass sie das Pulverfass erreichen würde.

Am Freitag aber spürte jeder, dass etwas in der Luft lag. Es war schwer zu sagen, was die Stimmung der Leute immer mehr anheizte. Bei den organisierten Arbeitern um Gustav Dlugy war es die Ohnmacht dem Kapital gegenüber, die sie immer aggressiver werden ließ. Die Gegenseite zeigte sich so wenig verhandlungs- und kompromissbereit wie am ersten Tag. Was die Arbeiter besonders reizte, war das Gerücht, dass Hugo Stinnes nicht nur Streikbrecher aus Hamburg nach Berlin gebracht, sondern auch beim preußischen Innenministerium interveniert und den Einsatz von tausend Schutzmännern gefordert haben sollte. Aber die Menge, die sich in der Sickingenstraße angesammelt hatte, bestand nicht nur aus sozialdemokratischen Arbeitern und anderen ansonsten sehr gesetzestreuen Bürgern, die nur ihrer Schaulust frönen wollten, sondern auch aus Menschen, die man viele Jahrzehnte später Autonome, Anarchos, Desperados oder Outlaws nennen sollte. In den Zeitungen des Jahres 1910 wurden sie als «Ausständige», als

«Tumultuanten» oder als «Mob» bezeichnet, aber auch mit einem veralteten Begriff als «Janhagel», als Pöbel also, oder schließlich als

«Exzedenten», mithin Menschen, die etwas überschreiten. Dazu kamen einige wirklich Kriminelle. Ob sie alle instinktiv fühlten, dass die alte Ordnung immer morscher wurde und man viel mehr riskieren konnte als noch zwanzig Jahre zuvor, war fraglich, aber es genügte ein kleiner Funke, um den ersten ernsthaften Zusammenstoß zwischen Polizei und Menge auszulösen und dafür zu sorgen, dass die «Moabiter Unruhen» - so sollten sie in die Geschichtsbücher eingehen - begannen.

Ein Milchwagen kam vorüber, und jemand schrie: «Habta schon jehört, det Bolle mit seine Pferde den Stinnes unterstützen tut? Los, wir spannen dem ma die Jäule aus und jagen se uff de Weide!»

«Wat heißt uff de Weide?! Wir machen Hackfleisch aus sie und essen se uff.»

Daraufhin schlug der Kutscher mit seiner Peitsche derart kräftig auf seine beiden Braunen, dass die durchgingen und das Mädchen hinten vom heftig anruckenden Wagen stürzte. Die einen johlten, die anderen hatten Mitleid mit dem armen Ding.

«Det is die Frieda», rief einer und half ihr wieder auf die Beine. «Wat kann die dafür?»

«Is det etwa deine Braut?»

«Nee, aber. .. die is schon jestraft jenuch damit, wie se aussieht.»

Das bezog sich darauf, dass das blau-weiße Kleid des Bollemädchens zerrissen war und sie sich das Gesicht ziemlich aufgeschrammt hatte. Aus Mund und Nase blutete sie. So ließ man sie zum Wagen humpeln und wieder aufsteigen.

Die Menge suchte nach neuer Beute. Sie war wie ein Tier, das plötzlich Blut geleckt hatte. Jeder Einzelne für sich hätte anders gehandelt, nun aber hatte er seine Individualität verloren und war mit den anderen zu einem Ganzen verschmolzen, einem archaischen Wesen, das alle Lust daraus bezog, das vernichten zu wollen, was feindlich, was anders war: die da oben - alle Fürsten und Beamten, alle Konzernherrn und Magnaten, die das Volk kujonierten und aussaugten, und alle ihre Knechte und Lakaien, vom Streikbrecher bis zum Schutzmann.

Und so kam, was kommen musste: Am frühen Abend attackierte man einen Kohlenwagen von Kupfer & Co., um die beiden Streikbrecher vom Kutschbock zu zerren und zu lynchen.

«Schlagt sie tot, die Schweine!»

Doch sofort waren die berittenen Schutzleute dazwischen und zogen blank. Zugleich sah man die Streikbrecher Pistolen hervorholen. Wütend schrie die Menge auf und wich zurück. Für heute schien das reißende Tier gebändigt.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
231 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783955520007
Издатель:
Правообладатель:
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