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Читать книгу: «Berliner Filz», страница 3

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Auch jemanden, der bereit war, gefälschte Pässe nach Leipzig zu bringen, suchte Koch noch, ebenso Leute für die sogenannten Skandinavien-Touren, mit denen man Menschen, die aus der DDR rauswollten, mit gefälschten Pässen die Flucht nach Dänemark ermöglichte.

Arys und Pandelwitz meldeten sich erst, als es darum ging, Löcher in die Mauer zu sprengen. Das versprach, ein echtes Abenteuer zu werden.

«Gut. Sucht euch einen Ort, wo ihr niemanden auf unserer Seite gefährdet. Wenn ihr eine geeignete Stelle gefunden habt, bekommt ihr den Sprengstoff und könnt loslegen.»

So machten sie sich in den folgenden Tagen auf und suchten nach einer geeigneten Stelle. Dabei erlebten sie so einiges. Sie befanden sich an der Bernauer Straße, als ihr Erkundungsspaziergang an der Mauer entlang eine dramatische Wendung zu nehmen schien.

«Du, Rainer, guck mal! Die beiden Grenzsoldaten da, die wollen fliehen!»

Richtig, gerade warfen zwei Grenzer ihre Maschinenpistolen weg und winkten in den Westen hinüber. Feuerwehrleute und Polizisten rannten zur Mauer, um ihnen herüberzuhelfen, bevor ihre Kameraden auf sie schießen würden. Da erscholl höhnisches Gelächter von drüben. Man hatte die West-Berliner zum Narren gehalten.

An der Ecke Ruppiner/​Bernauer Straße gab es dann einen weiteren denkwürdigen Zwischenfall. Eine Besuchergruppe, die sich eindeutig auf West-Berliner Gebiet befand, hatte östliche Grenzsoldaten mit ihren spöttischen Bemerkungen offenbar so gereizt, dass diese zwei Tränengaskörper über die Mauer warfen. Einen davon schleuderte ein West-Berliner Polizist zurück, worauf einer der Grenzer aus seiner MP2 gezielte Feuerstöße auf den Beamten abgab. In wilder Panik flohen die Besucher ins westliche Hinterland, mit ihnen auch Arys und Pandelwitz.

«Deutsche, schießt nicht auf Deutsche!», schrie jemand, «Ihr Schweine, ihr!» ein anderer. Tote gab es zum Glück keine.

Immer wieder gab es Versuche von DDR-Bürgern, die Mauer mit schwerbeladenen Lastkraftwagen zu durchbrechen. Beispielsweise am 9. April an der Boyenstraße zwischen den Bezirken Wedding und Mitte, als ein mit Zement beladener Lkw in der Mauer stecken blieb. Die beiden männlichen Insassen konnten nach West-Berlin entkommen, obwohl die Grenzpolizei noch auf sie schoss.

Am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße erlebten Arys und Pandelwitz aus der Nähe, wie ein mit Kies beladener Lkw die Schlagbäume durchbrach. Man schoss auf die Fliehenden. Der Fahrer wurde tödlich getroffen, und das Fahrzeug krachte auf West-Berliner Gebiet gegen eine Hauswand. Die beiden anderen Insassen überlebten mit leichten Verletzungen.

Zwischen ihren Erkundungstouren hatten Arys und Pandelwitz noch Zeit, dem Sozialdemokratischen Hochschulbund gelegentliche Besuche abzustatten. Der SHB war vor zwei Jahren als Konkurrenz zum Sozialistischen Hochschulbund, dem SDS, gegründet worden, der sich immer stärker marxistischen Positionen angenähert hatte und der DDR eine nicht unerhebliche Sympathie entgegenbrachte. Schon deshalb tendierten die beiden Studenten zum SHB. Die Mitgliedschaft bei ihm versprach aber auch gewisse Karrierechancen – in West-Berlin begann sich immer stärker ein Netzwerk herauszubilden, das später unter dem Begriff «Berliner Filz» bundesweit bekannt werden sollte. Der SHB hatte sein Domizil in der Sven-Hedin-Straße, ein paar Hundert Meter vom U-Bahnhof Krumme Lanke entfernt. Das war zwar von Hermsdorf aus eine weite Fahrt, aber sie hofften beide, ihre sporadischen Besuche würden sich irgendwann auszahlen.

An diesem Abend hatte sich zu einem Referat mit anschließender Diskussion ein Mann angesagt, der als Hoffnungsträger der Sozialdemokraten gehandelt wurde, der Baustadtrat Ralf-Werner Wolla. Der Kommilitone, der ihn eingeladen hatte, stellte ihn vor.

«Unser Genosse Ra We Wo ist 41 Jahre alt und geborener Neuköllner, einer vom Hinterhof in der Fuldastraße, der in der Rütlistraße zur Schule gegangen ist. Machen wir es kurz: Schulabschluss 1930, Maurerlehre, Soldat, französische Kriegsgefangenschaft, Heimkehr 1947, Eintritt in unsere Partei. Angefangen hat er als Kassierer, dann spezialisierte er sich darauf, älteren Jubilaren den obligatorischen Blumenstrauß vorbeizubringen und an Beerdigungen teilzunehmen.»

Wolla lachte dröhnend. «Der berühmte Kranzabwurf – ja Mensch, Kinder, ihr solltet eure Parteikarriere auch als ‹Leichenbeisitzer› im Abteilungsvorstand beginnen, das lohnt sich wirklich!»

«So bringt ihr es vielleicht auch zu einer Villa in Hermsdorf!», rief einer, der Wolla nicht leiden konnte.

«Zu einem Einfamilienhaus im nicht gerade feudalen Hermsdorf, das ich auch noch eigenhändig mit hochgemauert habe! Das ist weniger ein Palast denn eine Hütte.»

«Wie auch immer, der Genosse Wolla wird uns heute etwas zu den anstehenden Großbauprojekten in Berlin erzählen.»

«Für 1962 sind drei Großbauvorhaben geplant», begann Wolla seinen Vortrag. «Erstens das Falkenhagener Feld, Grundsteinlegung am 4. Mai. Zweitens die Gropiusstadt, Grundsteinlegung am 7. November. Und drittens die Paul-Hertz-Siedlung in Charlottenburg-Nord, Richtfest am 29. November.»

Je länger er redete, desto mehr fühlten sich Arys und Pandelwitz an die ironische Steigerung «Feind, Todfeind, Parteifreund» erinnert. Wolla wirkte wie ein eitler Pfau. Hinzu kam, dass Arys und Pandelwitz in Hermsdorf aufgewachsen waren und der gehobenen Mittelschicht angehörten. Der Vater von Arys war Werksleiter bei Siemens und die Mutter Grundschullehrerin. Pandelwitz’ Eltern waren Chefarzt und Übersetzerin. Wolla dagegen kam vom Neuköllner Hinterhof, gehörte also zu den Schmuddelkindern, mit denen man nicht spielte. So sozialistisch sich Arys und Pandelwitz auch gaben, diese Vorurteile hatten sie übernommen. Dazu kam das anarchistische Element: Sie hassten jede Art von Herrschaft. Wer sich als Anführer gerierte wie Wolla, war ihnen sogleich suspekt. Wolla geriet also sofort auf ihre Abschussliste. Für den Augenblick hieß das nicht viel, es sollte aber im Laufe des Jahres noch bedeutsam werden.

Am 21. Mai, einem Montag, war es dann so weit: Arys und Pandelwitz liehen sich in Hermsdorf von einem Freund einen Wagen aus und fuhren kurz vor Mitternacht nach Neukölln, um an der Ecke Heidelberger/​Treptower Straße ihren Sprengkörper abzulegen, die Lunte zu zünden und dann das Weite zu suchen.

Am 26. Mai sprach der Regierende Bürgermeister Willy Brandt in der SFB-Reihe Wo uns der Schuh drückt über das Thema Anschläge auf die Mauer und sagte unter anderem:

Meine Hörerinnen und Hörer, es hat einige Sprengstoffanschläge gegen dieses Schandmal in unserer Stadt gegeben, ich weiß nicht, wer die Urheber waren, und ich kann nur wiederholen, dass wir gegen Gewalt sind. Die Löcher, die wir uns in der Mauer wünschen, sind von anderer Art. Sprengstoff ist kein gutes Argument. Aber ich möchte doch wiederholen, was aus anderem Anlass im vorigen Jahr gesagt werden musste. Deutsche Polizei ist nicht dazu da, die Schandmauer zu schützen.

VIER

HARTMUT KAPPE war froh darüber, dass man nun endlich den Schutzwall gegen den Faschismus errichtet hatte. 43 Kilometer maß die Grenze zwischen Ost und West. Vorher hatte es 81 Straßenübergänge gegeben, dazu 13 bei U- und S-Bahn-Stationen. Da hatte man nicht immer alles kontrollieren können. Immer wieder waren hochwertige Erzeugnisse der DDR, insbesondere optische Geräte, nach West-Berlin verschoben worden. Auch anderes hatte unterbunden werden müssen, so der Abstrom wertvoller Fachkräfte vom Arzt bis zum Feinmechaniker in den Westen. Die wurden mit viel Geld und Energie in der DDR ausgebildet – und stellten sich dann in den Dienst des Klassenfeinds. Ein unmöglicher Zustand war das gewesen! Endlich hatte man normale Verhältnisse geschaffen. Außerdem war die Angst vor einem dritten Weltkrieg geschwunden. Der Westen hatte alles ohne großes Gezeter hingenommen.

Fahrten in die Westsektoren hatten schon immer gegen interne Dienstvorschriften verstoßen, sodass seine Besuche bei den Eltern stets mit einem nicht unerheblichen Risiko behaftet gewesen waren. Dass er beide nun nicht mehr sehen konnte, war zwar schmerzlich für ihn, aber nicht zu ändern. Die große Sache ging vor, der Aufbau des Sozialismus. Der Hund seines Nachbarn hatte die eigene Mutter auch nicht mehr erkannt, als er ihr nach zwei Jahren wiederbegegnet war. Und der Mensch war auch nur ein Tier. Die Abnabelung von den Eltern war eine ganz natürliche Sache.

Am Sonntagmorgen saß Hartmut Kappe mit seiner Frau beim Frühstück. Ingeborg berichtete von ihren Erfahrungen als Straßenbahnführerin. 1950, noch kurz vor der Geburt des gemeinsamen Kindes, hatte sie die Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin erfolgreich absolviert. Sie war auf einem Z-Triebwagen eingesetzt, auf denen es keine Schaffner mehr gab. Die einsteigenden Fahrgäste mussten Ingeborg deshalb ihre Zeitkarten vorzeigen.

«Gestern hab ick wieda eenen awischt, der hatte die Karte jefälscht.»

In letzter Zeit neigte Ingeborg dazu, ins Berlinerische zu fallen. Sie berlinerte so sehr, dass Hartmut Kappe unwillkürlich zusammenzuckte. Er wünschte sich zwar nicht unbedingt eine Lehrerin zur Frau, aber ein bisschen mehr Niveau wäre ihm schon recht gewesen.

Ingeborg plauderte ungerührt weiter und erzählte, dass sie auf der 71, Charlottenstraße—Weißensee, noch an der Kurbel eines uralten T 24 stünde, die BVG aber bald genügend Rekowagen hätte. «Da kann ick mir wenijstens ’n bisschen vabessern.»

Hartmut Kappe kannte die Situation bei der Straßenbahn in der Hauptstadt der DDR. Der Fahrzeugpark war total überaltert, und man musste an allen Ecken und Enden improvisieren. Nach 1950 hatte man begonnen, neue Wagenkästen auf noch vorhandene alte Fahrgestelle zu setzen. Das waren die «Wiederaufbauwagen» gewesen, dann waren die «Schweinebuchten» gekommen, kantige Wagen, die ebenfalls nach dem Motto «Aus Alt mach Neu» entstanden waren, und schließlich hatte es die Gotha- und die Rekowagen gegeben, die auch keine komfortableren Fahreigenschaften aufwiesen.

«Det is allet nüscht Halbet und nüscht Janzet», stellte seine Frau dann auch fest.

«In West-Berlin werden sie die Straßenbahn ganz abschaffen», sagte Hartmut Kappe im Ton eines Politoffiziers. «Bei uns aber wird es bald moderne Fahrzeuge geben, die Freunde in der ČSSR arbeiten mit Hochdruck daran.»

«No v pohod!», rief Ingeborg, die ein paar Brocken Tschechisch konnte. «Na prima!»

Hartmut Kappe genoss das Privileg, seinen Dienstwagen, einen EMW 340 aus Eisenach, auch privat nutzen zu dürfen, und so hatten sie für diesen Sonntag, Ende Mai, auch einen Ausflug zu seinem Onkel Albert nach Wendisch Rietz eingeplant. Sie wollten gleich nach dem Frühstück starten. Doch das Schicksal wollte es anders mit Hartmut Kappe, denn kaum hatte er den letzten Bissen zerkaut, klingelte das Telefon. Es war sein Vorgesetzter.

«Ja, Genosse Hauptmann, ich höre.»

«In der Sredzkistraße 48 ist ein Mann in einer Wohnung im vierten Stock erschlagen aufgefunden worden, ein gewisser Günther Krüger. Der arbeitete als Geheimer Informator für die Staatssicherheit und sollte ein Auge auf die haben, die Akte der Republikflucht unterstützen könnten. Sie verstehen?»

«Ja …»

Nach dem Geschäftsverteilungsplan fielen Morduntersuchungen in die Kompetenz der Kommissariate K 1. Wenn man aber einen politischen Hintergrund vermutete, wurden die Fälle vom Kommissariat K5 bearbeitet, also seinem.

Hartmut Kappe sagte Ingeborg Bescheid, dass es mit ihrer Fahrt nach Wendisch Rietz wohl erst am Nachmittag etwas würde, dann rief er Dieter Drechsler an, seinen neuen Kriminalanwärter.

«Halten Sie sich bereit!»

«Immer bereit!», schmetterte der wie beim Fahnenappell der Thälmann-Pioniere.

«Gut. Dann warten Sie vor Ihrem Hauseingang! In zehn Minuten bin ich da und hole Sie ab.»

Hartmut Kappe fuhr durch sein Berlin, durch die Hauptstadt der DDR. Die Regierung der BRD saß nur in einem Provinznest, in Bonn. Hier waren die Werktätigen überall beim Subbotnik zu beobachten. Das freute ihn. Wir packen es, wir schaffen es gemeinsam, ein besseres Deutschland aufzubauen … Auferstanden aus Ruinen / ​und der Zukunft zugewandt … Es fällt nicht schwer, so brummt der Bär, / ​drum halte Schritt und baue mit. Vom letzten Winter lagen verschiedentlich noch Berge von Braunkohle herum. Das ärgerte ihn.

Drechsler stand bereit und stieg zu ihm in den Wagen. «Guten Morgen, Genosse Leutnant!»

Sie unterhielten sich über Fußball, das war das unverfänglichste Thema. Der DDR-Meister hieß in dieser Saison wieder einmal ASK Vorwärts Berlin. Der SC Motor Jena, für den Drechsler ganz besonders schwärmte, hatte nur den vierten Platz belegt, war aber Pokalsieger geworden.

«Was die BRD mit Fritz und Ottmar Walter hatte, das haben wir jetzt mit Peter und Roland Ducke.»

In der Sredzkistraße angekommen, fanden sie die Trassologen schon eifrig bemüht. Dass es sich bei dem Toten um den 42-jährigen Günther Krüger handelte, stand zweifelsfrei fest. Er war Lkw-Fahrer und verdingte sich, wie der Genosse Hauptmann schon gesagt hatte, nebenbei als GI. Zuletzt hatte er den Auftrag gehabt, auf Friedhöfen an der Grenze zu West-Berlin etwaige Fluchthelfer auszuspähen. Seitdem es Ende September letzten Jahres auf einem grenznahen Pankower Friedhof eine spektakuläre Republikflucht gegeben hatte, rechnete man mit weiteren Vorhaben dieser Art. Abends gegen halb sieben war damals eine kleine Trauergemeinde erschienen: drei Männer mit Zylinder, zwei schwarzverschleierte Frauen. Sie hatten zwei Kränze auf einem Grab nahe der westlichen Friedhofsmauer niedergelegt, dabei wurden sie argwöhnisch von einer Patrouille der Volkspolizei beobachtet, aber als harmlos eingeschätzt. Plötzlich aber hatte sich aus einem der angrenzenden Urnengräber eine Hand in die Höhe gereckt. «Los!», war das Kommando aus der Tiefe gekommen. Und dann war die Trauergesellschaft spurlos verschwunden gewesen. Später hatte man einen Fluchttunnel von gerade einmal 25 Metern Länge gefunden. So etwas sollte in Zukunft verhindert werden, mithilfe von Männern wie Günther Krüger. Nun lag der tot in seinem Wohnzimmer.

«Stumpfe Gewalt mit einem schweren Gegenstand gegen den Kopf», stellte der Kriminalanwärter Drechsler sogleich fest.

Hartmut Kappe nickte. «Ja, das dürfen wir als sicher annehmen.»

Naheliegend war, dass man Krüger erschlagen hatte, weil er dabei gewesen war, eine geplante Republikflucht auffliegen zu lassen. Sie mussten sich unter Krügers Arbeitskameraden umhören, aber das ging nicht vor morgen. Also konnte Leutnant Kappe doch noch nach Wendisch Rietz fahren.

Rudolf Orkusch war ganz in seinem Element. Das große Osterturnier von Rixdorf United hatte Vereine aus allen Partnerstädten Neuköllns in das eingemauerte West-Berlin gelockt: aus dem belgischen Anderlecht, dem französischen Boulogne-Billancourt, den Londoner Gemeinden Hammersmith und Fulham, aus Zaanstad bei Amsterdam und dem hessischen Wetzlar. Die Kosten trugen zum größten Teil Orkusch und seine Firma, die Südost Bau Neukölln (SBN), die Organisation lag in den Händen von Karl-Heinz Kappe.

«So, der Spielplan steht», sagte der zu Orkusch. «Leider können Sie wegen der alliierten Vorbehalte nicht vor dem Anpfiff des ersten Spiels mit dem Fallschirm über dem Stadion abspringen und im Mittelkreis landen.» Das war eine Anspielung darauf, dass Orkusch bei jeder sich bietenden Gelegenheit von seinen Kriegserlebnissen als Fallschirmspringer erzählte. «Bleiben Sie denn nach dem Eröffnungsspiel noch in Berlin, oder fahren Sie gleich los nach Vietze?», fragte er.

«Meine Frau möchte so schnell wie möglich ins Wendland.»

Vietze lag in Niedersachsen, gleich hinter der Sektorengrenze. Bald nach dem Mauerbau hatten viele West-Berliner begonnen, sich Wochenendhäuser im Wendland oder in Franken zuzulegen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit raus aus der Inselstadt, hieß die Devise. Schon gab es die Befürchtung, West-Berlin würde sich zum Altersheim Westdeutschlands entwickeln: Kommt nach West-Berlin zum Altern und zum Sterben! Tatsächlich siedelten aber auch viele junge Männer nach ihrem Abitur hierher um, denn in West-Berlin gab es keine Wehrpflicht, und sie mussten nicht zum «Bund».

«Noch etwas …» Karl-Heinz Kappe warf einen Blick in seine Papiere. «In der B-Jugend gibt es zwei Jungs, die in ihren Winterstiefeln spielen, weil die Eltern kein Geld für ein Paar Töppen haben.»

Orkusch zog einen Fünfzigmarkschein aus seinem Portemonnaie. «Hier, sollen sie sich schleunigst welche kaufen!»

Wer in Not war, kam zu Orkusch, und mit einiger Sicherheit wurde ihm geholfen. In der Geschäftsstelle von Rixdorf United standen die Hilfsbedürftigen zeitweilig Schlange, und es gab schon Bestrebungen, den Bauunternehmer wegen seiner Verdienste um das Allgemeinwohl für das Bundesverdienstkreuz vorzuschlagen.

Rudolf Orkusch hörte sich gerne reden, und so ließ er es sich nicht nehmen, vor dem Eröffnungsspiel seines Osterturniers – Rixdorf United spielte gegen den FC Fulham –«ein paar passende Worte» an die Gäste und die rund zweihundert Zuschauer zu richten.

«Dear sportfriends, are welcome in our beautiful Neukölln and the SBN Stadium. The name of our club shows all of our deep connection with England. But now I will proceed in German, because my English is very bad. Also … United bedeutet ja ‹vereint›. Wir Deutschen aber sind durch diese verdammte Mauer ganz besonders schmerzlich getrennt, und da freuen wir uns natürlich riesig über unsere Vereinigung mit dem freien Europa und darüber, dass wir unsere Freunde aus England, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und dem deutschen Bundesland Bayern bei uns empfangen können.»

«Hessen, Herr Orkusch!», flüsterte Karl-Heinz Kappe ihm zu.

«Wie?»

«Wetzlar liegt in Hessen.»

Orkusch klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. «Ja, fast hätte ich die Hessen vergessen. Und das, obwohl ich jede Folge der Familie Hesselbach und vom Blauen Bock gesehen habe. Ein Hurra für unsere Freunde aus Wetzlar!»

Der Beifall galt ihm, und strahlend legte er das Megafon wieder aus der Hand.

Mit der Wirtschaft West-Berlins stand es nicht zum Besten. Die großen Konzerne hatten sich langsam, aber sicher aus der Frontstadt verabschiedet. Zum einen war West-Berlin nicht mehr die Hauptstadt, und zum anderen fürchtete man, die Sowjets würden West-Berlin eines Tages doch noch schlucken. Nicht zuletzt aber war es ungemein kostenaufwendig, dass man alles, was man an Spree und Havel produzierte und in der Welt verkaufen wollte, vorher durch die DDR schaffen musste. Man hatte zig Warenbegleitscheine auszufüllen und musste ständig befürchten, dass Waren beschlagnahmt wurden.

Vor diesem Hintergrund war West-Berlins neueste Errungenschaft geradezu sensationell: Am 24. Mai 1962 wurde am Tegeler See ein «Amphicar» sozusagen zu Wasser gelassen. Zu diesem feierlichen Akt hatte sich ein beträchtlicher Teil der West-Berliner Prominenz eingefunden, darunter der Bausenator Arnulf Klaffenbach, der von dem Baustadtrat Wolla begleitet wurde. Um sie herum scharwenzelte natürlich auch Karl-Heinz Kappe. Eingeladen hatte die Deutsche Waggon- und Maschinenfabrik, die in Borsigwalde zu Hause war und das Amphicar produzierte. Hans Trippel, der Konstrukteur, gab einige technische Daten zum Besten.

«Das Viersitzer-Cabriolet, das Sie vor sich sehen, ist quasi ein Geländewagen, der auf dem Land wie auf dem Wasser gleichermaßen zu Hause ist. Es hat eine durch einen Rohrrahmen und Längsträger verstärkte selbsttragende Ganzstahlkarosserie und wird von einem 1,2-Liter-Ottomotor angetrieben. Das Leergewicht beträgt 1050 Kilo.»

«Sehr schön», brummte Klaffenbach. «Aber das Ding soll über zehntausend Mark kosten, mehr, als man für zwei Käfer ausgeben muss. Wer soll das denn kaufen?»

«Na, Sie!», lachte Wolla. «Als Senator werden Sie doch Möglichkeiten haben …»

«Ich bin bekanntlich unbestechlich.»

Klaffenbach ließ sich nach Ende der Feierlichkeiten in seinem Dienstwagen zum Fehrbelliner Platz zurückfahren, wo der Senator für Bau- und Wohnungswesen seinen Dienstsitz hatte. Der Geschäftsführer einer der städtischen Wohnungsbaugesellschaften wartete schon auf ihn.

Otto Kappe wohnte am Horstweg in Charlottenburg und hatte es damit nicht weit zur U-Bahn. In fünf Minuten war er am Bahnhof Sophie-Charlotte-Platz. Im Büro angekommen, studierte er erst einmal die Morgenzeitung, die er unterwegs gekauft hatte. Im Lokalteil wurde dem jüngsten Zwischenfall an der Mauer naturgemäß die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Das Opfer der Vopo ringt mit dem Tod lautete die Überschrift. Helle Empörung bei Westberliner Augenzeugen lautete der Untertitel. Im Text hieß es dann: Die niederträchtige Menschenjagd der Vopos auf einen 15jährigen Schüler ist von vielen in der Nähe wohnenden Westberlinern beobachtet worden. Ihre übereinstimmende Meinung: «Es war grausam. Wir mußten tatenlos zusehen, wie der arme Junge als Zielscheibe diente.» Geschehen war das am Spandauer Schifffahrtskanal in der Nähe des Grenzübergangs Invalidenstraße. Die anderen Meldungen auf der Berlin-Seite nahmen sich dagegen banal aus. Polio-Impfung war doch ein Erfolg … Liebhaber fensterlte am falschen Haus … Feuer an der Philharmonie. Da war nur ein Bauschuppen in Brand geraten. Ernst Lemmer, der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, war zur Einweihung der neuen Kathedrale nach Coventry geflogen. Otto Kappe blätterte weiter. Zum Morden gezwungen lautete die nächste Überschrift, die ihm ins Auge stach. Es ging um erschütternde Aussagen in einem Prozess gegen ehemalige SS-Leute. Das zu lesen war schwer erträglich. Manchmal erschienen Mauerbau und deutsche Teilung Otto Kappe als gerechte Strafe des Himmels für all die Verbrechen, die Deutsche begangen hatten. Rasch las er weiter. Am Britzer Damm war ein Bauarbeiter von einer herabfallenden Bohle erschlagen worden. Erquicklich waren eigentlich nur die Zeichnungen des Hauses Hertie, die junge Damen abbildeten, die Blusen für nicht mehr als zehn Mark anboten. Praktisch und aktuell ist diese Nylon-Bluse, bügelfrei, weiß und farbig.

Hans-Gert Galgenberg traf mit gehöriger Verspätung ein und brachte als Entschuldigung vor, er habe sich wegen eines Durchfalls nicht eher getraut, die häusliche Toilette zu verlassen. «Habe ich schon etwas versäumt?»

«Nicht viel, aber vorhin hat eine Dame angerufen, die von dem Fall Habedank in der Zeitung gelesen hat, und uns verraten, dass es in Hermsdorf noch einen zweiten Mann dieses Namens gibt, also nicht nur den Lehrer, auf den man geschossen hat, den Hans-Peter Habedank, sondern auch noch einen Bauunternehmer namens Konrad Habedank.»

«Du meinst allen Ernstes, dass jemand die beiden Habedanks verwechselt hat?», fragte Galgenberg.

«Möglich ist alles.»

Galgenberg lachte. «Gib doch zu, dass du nur wieder einen kleinen Ausflug ins Grüne machen möchtest!»

Otto Kappe blieb sachlich. «Der Konrad Habedank hat seinen Bauplatz in der Flottenstraße, in Hermsdorf wohnt er nur. Kurz vor dem Mauerbau hat der aus der Ostzone rübergemacht.»

«Ein interessanter Aspekt …», brummte Galgenberg.

Eine Stunde später saßen sie Konrad Habedank in seinem Büro in Reinickendorf gegenüber. Es gab eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Lehrer, der denselben Nachnamen trug: Beide waren untersetzt bis füllig zu nennen. Doch als Konrad Habedank zu reden begann, wurde der Unterschied zwischen ihnen sofort deutlich. Hatte Otto Kappe den Lehrer recht sympathisch gefunden, so verspürte er dem Bauunternehmer gegenüber vom ersten Augenblick an einen ziemlichen Widerwillen.

«Können Sie sich vorstellen, dass Ihnen jemand nach dem Leben trachtet?», lautete Otto Kappes erste Frage.

Konrad Habedank überlegte nicht lange. «Nein.»

«Auch nicht, wenn Sie an Ihre Zeit in der Zone denken?», fragte Galgenberg. Es ging das Gerücht, dass man die Stasi-Männer, die der DDR gefährlich werden konnten, bis nach Westdeutschland verfolgte und sie mit Gewalt zurückzuholen versuchte, ja bisweilen sogar umbrachte. Die Entführung Walter Linses lag nun schon fast zehn Jahre zurück, hatte sich aber im kollektiven Gedächtnis der West-Berliner tief eingegraben. Ob man Konrad Habedank aus irgendwelchen Gründen liquidieren wollte? «Könnte die DDR ein Interesse daran haben, Sie aus dem Verkehr zu ziehen?»

«Nicht, dass ich wüsste. Ich war nur ein kleiner Maurer dort …»

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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9783955520267
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