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Читать книгу: «Dalmatinische Reise», страница 3

Bahr Hermann
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Ich erwache vom Geräusch des Stoppens. Ich kann doch kaum eine Stunde geschlafen haben, wir werden in Spalato sein. Aber durchs Fenster dringt es hell, dies weckt mich völlig auf. Ich habe neun Stunden geschlafen, wir sind in Gravosa. Noch klebt mir überall der Schlaf an. Solchen traumlosen, tief erstarrten, alles entseelenden Schlaf, aus dem man gleichsam erst wieder neu geboren werden muß, gibt mir nur das Meer. Und ich erwache dann mit einem wunderlichen Gefühl, wie nach einer moralischen Entfettungskur, als ob ich alle Vergangenheit ausgeschwitzt hätte und nun so leicht wäre, daß ich gleich auffliegen könnte, und über mich selbst hinweg.

Gravosa im Regen. So habe ich die Bucht noch nie gesehen. Es ist mir, wie wenn man eine frohe Frau, die man nur von Festen kennt, plötzlich in Trauer sieht. Denn wenn hier die Sonne scheint, ist es, als wäre der Sonnenschein Eigentum der Bucht. Nichts Linderes, Leiseres, Lieberes läßt sich denken als die heitere Zärtlichkeit, in der sie sich lächelnd wiegt. Zypressen und Pappeln schwärzen das Ufer, Villen blinzeln durch, stille Wege winken, der Wald steht auf dem Hügel, alles ruht. Von einer ganz eigenen Heiterkeit ist's, einer Heiterkeit im Winkel, die sich geborgen weiß, einer Heiterkeit, die zuweilen plötzlich warnend den Finger zu heben scheint, weil sie weiß, daß ganz nahe, gleich über dem grünen Hügel dort, das große Meer ist, in dem lauernd der Sturm liegt. Und in anderen Jahren, wenn ich hier an hellen Tagen in der stillen Sonne stand, war es mir immer ein Bild der Heiterkeit, die jetzt unser Geist sucht. Einer Heiterkeit, die zwischen Inseln geschützt liegt, rings ruht alles, sie dehnt sich im leisen Wind, aber der Hauch einer Angst schwebt über ihrem Glück, weil sie weiß, daß ganz nahe, hinter den grünen Inseln, der Tumult von Stürmen ist; und man sieht es ihrem Lächeln an.

Langsam fahren wir aus dem Hafen. Links die waldige Stille der Halbinsel Lapad, rechts die tiefe Bucht der breiten Ombla, unter kahlen Felsen. Wir drehen, immer dicht an der Küste von Lapad, erst nördlich, bald westlich von ihr, zwischen ihren dunklen Kiefern und den nackten, jähen, gelben Riffen der Pettini durch. Plötzlich ist die alte Stadt Ragusa vor uns da, mit ihren Felsen und ihren Wällen in das schäumende Meer tretend; und man weiß nicht, was Fels, was Wall ist, was gewachsen und was geschaffen, was von Ewigkeit und was das Werk der Zeiten ist; so wunderbar haben sich hier das Land und der Mensch die Hände gereicht. Das gibt dieser einzigen Stadt ihre Hoheit, die doch auf der ganzen Erde keine mehr hat. Lakroma erscheint; hier sieht es nur wie ein stiller Hain aus, man ahnt die Wunder seiner verwilderten Gärten nicht. Jetzt aber tritt alles zurück, die Stadt scheint sich in den Berg zu schieben, nur ein paar rote Dächer brennen noch aus seinem grauen Stein. Über San Giacomo schreit die Straße weiß; sie teilt sich, hier nach Trebinje steigend, dort ins Tal von Breno ziehend. Die Küste biegt sich ein, Sturm springt das Schiff an, es stößt, bäumt sich, sinkt, scheint bald zu schweben, bald zu stürzen und tanzt klatschend, zwischen den steilen Mauern der Wellen, die, bald vor ihm lauernd, bald aufbrechend, aus braunen Schlünden weiße Schäume schießen. Und mit ungeheuren Sprüngen setzt das Wasser manchmal plötzlich über uns, lacht noch schrill und ist schon zerstiebend wieder versunken.

Unseren armen Offizieren geht es übel. Bleich lehnen sie. Es ist gar nicht schön von mir, daß ich ihnen zusehe. Sonst bin ich nicht boshaft, aber es reizt mich, weil sie sich so schämen. Selbst auf hoher See noch, während das Schiff ächzt, das Wasser rast, der Sturm dröhnt, lassen sie den angelernten Begriff eines falschen Heldentums wider die Natur nicht fahren und weigern sich einzugestehen, daß sie doch auch Menschen sind. Da muß ich ihnen die Beschämung gönnen. Achill hat sich sicher nicht geschämt, in den Armen des Patroklos zu speien.

Zu ihrem Trost biegen wir schon zwischen der vorgeschobenen Punta d'Ostro, mit den steilen gelben Wänden, und dem Fort Mamola durch; oben glänzt ein einsamer Soldat auf Wache. Vor uns verengt es sich, Castelnuovo taucht aus dem Regen. Die großen Wellen verschlagen sich, sie können nicht mehr nach. Der stille weite See der glatten Bocche nimmt uns auf.

Uralte Mauern. In die Wogen hinein stand das Castello di mare, im Lande drin das Castello di terra. Dazwischen sind, in Gärten, jetzt die Häuser der hellen Stadt. Und hinten oben noch vier Türme; das ist das Fort spagnol. Jede Vergangenheit hat hier gehaust, jede hat ihr Zeichen gelassen. Venezianer, Spanier, Türken, wieder Venezianer, Malteser, bis dann wir gekommen sind. Und vor achtunddreißig Jahren fuhr ein vergessener österreichischer Dichter hier vorbei, mein Alexander von Warsberg, sah dies mit ahnungsvollen Augen an und schrieb, jener alten Abenteuer eingedenk, in sein Buch: »Man kann diese Schicksale nicht bedenken und das Schloß nicht sehen, ohne sich zu sagen, daß diesem Erdenflecke noch manches Ähnliche bevorstehe.«

Wir fahren, an Savina vorbei, einem uralten Kloster, das jetzt eine Art von serbischem Ober Sankt Veit ist, die Sommerresidenz des orthodoxen Bischofs von Cattaro, durch die Enge von Kombur in die behaglich ausgedehnte Bai von Tivat. Schon zeigt sich der Lovcen, der Berg von Montenegro. Vor uns aber sieht eine große Straße her, die sich langsam in die Berge windet, oben von zwei Forts bewacht, das ist der Weg in die Krivosije, zu den wilden Hirten mit den Opanken, den kurzen Hosen und dem braunen Tuch über dem rauhen Hemd, die, der Tracht und dem Sinn nach, unsere Schotten sind. Und, an Perasto vorüber, wo man sich, vor dem schlanken Campanile und gebräunten, in Verfall prunkenden Palästen, wirklich im Canal grande glaubt, sind wir in den Golf von Cattaro gelangt. Immer enger wird der See, immer häuslicher das Ufer, mit Dörfern überall, an grünen Höhen, vor uns aber droht die steile Wüste des montenegrinischen Gebirgs, mit dem verwegen in steilen Zacken zum Schnee klimmenden Weg.

Während wir landen, drängen sich die Träger heulend auf dem Kai, wie Räuber. Ich winke dem, der es am wildesten treibt. Er schreit wutentbrannt, schlägt sich in einem fort mit der Faust an die Brust, wie Alexander Strakosch, wenn er die Goneril verflucht, und springt kreischend, indem er zuweilen plötzlich den Zeigefinger spreizt, mit ihm auf das Schiff zielt und ihn dann in sein Herz stößt. Als er aber mein Zeichen erblickt hat, ist er sofort ganz still, läßt mich mit seinen guten braunen Augen nicht mehr los und nickt mir, während die Brücke gelegt wird, immer wieder zu, nur unbesorgt zu sein und Geduld zu haben. Und schon, bevor ich noch recht begreife, wie er durch das Gewühl gekommen sein kann, ist er mit einem Katzensprung bei mir, hat meine Sachen und indem vor seinen Fäusten alles auseinanderstiebt, bin ich schon mit ihm durchs Tor in die Stadt getreten. Seit er spricht, hat er gar nichts Wildes mehr, der Räuber ist ein frohes Kind. Ich sage, daß ich nach Montenegro will, nach Cetinje. Da bleibt er stehen, schlägt meinen Koffer an seine Brust und sagt, mit einem Freudenschrei: Ich bin aus Cetinje! Lachend sagt er das und sein Gesicht glänzt. Dreimal wiederholt er es: Ich bin aus Cetinje! Und dabei zeigt er immer nach den Bergen hin, in seiner Hand meinen Koffer reckend, empor zu den wilden Steinen. Jetzt sind wir die besten Freunde. Er erzählt mir von seinem Bruder, der Kutscher bei der Post nach Cetinje ist; er wird mich ihm empfehlen. Und dann stellt er sich mir vor und nennt sich: Milo Milosevič aus Cetinje! Er könnte nicht feierlicher sagen: Josef Kainz!

Er führt mich in einen schmierigen Raum, wo ein österreichisches Subjekt in Flöhen, mit irgendeiner Uniform, nach der es mir ein Finanzer scheint, meinen Paß verlangt. Und der genügt ihm noch nicht, sondern es versucht, mich auszufragen. Ich erinnere mich aber noch im rechten Augenblick, daß unser Otto Lecher immer sagt: In Östreich hilft nur schreien! Und ich schreie. Und siehe, der Otto Lecher hat immer recht, es hilft auch hier, der Flohmensch wird höflich. Weil doch in Österreich eine Amtsperson nie weiß, ob der Untertan nicht vielleicht einen Hofrat zum Onkel hat, wodurch er ja dann eben aufhört, ein Untertan zu sein. Danke, lieber Otto Lecher!

Und nun schultert Milo Milosevič meine Koffer wieder, wir eilen zur Post. Aber die Post geht nicht, der Weg ist verschneit, sie kann nicht über den Paß. Ich will es gar nicht glauben: Die Post geht nicht, wirklich nicht? Nein, schon seit drei Tagen nicht! Ich sehe Milo Milosevič an. Es ist zu hübsch, wie er den Erstaunten spielt. Sprachlos, wie gelähmt, fassungslos steht er da, schnappt mit Lippen und Augen und Händen und kanns nicht begreifen. Ich frage: Schon gestern ist sie nicht gegangen? Er sagt: Nein, gestern nicht! Ich frage: Und vorgestern auch nicht? Er sagt: Vorgestern auch nicht! Ich: Schon die ganzen Tage nicht? Er: Schon die ganzen Tage nicht! Plötzlich aber tritt er ganz dicht an mich heran, zeigt in die Berge, nickt geheimnisvoll, und als hätte er die größte Entdeckung gemacht, die er keinem Menschen auf der Welt als mir anvertrauen wollte, sagt er: Weil nämlich der Paß verschneit ist! Ich muß lachen und frage nur noch: Und du hast nicht gewußt, daß sie auch heute nicht geht? Er sieht mir in die Augen und sagt: Man kann nie wissen, Exzellenz! Als ob er der Bernard Shaw wäre, so rätselhaft schicksalsvoll sagt er das.

Wir haben gerade noch Zeit, das Schiff zu erreichen. Ich will nach Ragusa zurück, um dort abzuwarten, bis man wieder über den Paß können wird. In Cattaro mag ich nicht bleiben, als Zivilist muß man hier zu bescheiden sein. (Ich könnte mich ja freilich von Milo Milosevič in die besseren Kreise einführen lassen.) So gehen wir wieder durch die Gäßchen, wo bald ein alter Balkon, bald in einem verlassenen Hof eine wunderlich barocke Figur Erinnerungen bewahrt, an dem Uhrturm mit seinem römischen Altar vorbei, durch das Tor, auf dem der venezianische Löwe unter dem österreichischen Adler sitzt. Vor dem Schiffe bleibe ich stehen, um meinen Freund feierlich anzusprechen: Milo Milosevič, was bin ich schuldig? Er antwortet geschwind, gar nicht feierlich: Drei Kronen! Er sagt es lässig. Wie man eine selbstverständliche Wahrheit ausspricht. Wie man sagt: Zwei mal zwei ist vier. Gleichgültig, verächtlich und fast ein bißchen ärgerlich, von einer solchen Bagatelle zu reden. Aber seine Augen schielen und das Gesicht wäre bereit, mit sich handeln zu lassen. Ich erwidere, hart: Nein! Er schrickt zusammen und wiederholt, tief erstaunt fragend: Drei Kronen, Herr Baron? Und noch einmal klingt sein Staunen klagend in den stillen Regen: Herr Baron? Ich wiederhole: Nein! Er sieht mich mit seinen braunen Augen schwermütig an, läßt den Koffer von der Schulter fallen und setzt sich darauf. Da sitzt er jetzt vor mir, stumm in seinem Schicksal. Er bleibt aber nicht stumm, sondern mit einer unbeschreiblich rapiden Beredsamkeit erzählt er mir sein Leben; und wie heuer gar keine Fremden kommen und Krieg droht und Not ist. Und immer wieder fragt er mich, klagend: Herr Baron? Ich gehe zur Brücke. Er nimmt wieder meinen Koffer und kommt mir gehorsam nach. Er tippt mich auf die Schulter und schlägt mir vor, ihm bloß zwei Kronen zu zahlen, aber noch eine zu schenken, weil er ja mein Freund ist, amico. Ich drehe mich um und sage wieder: Nein! Er sticht mit dem Finger in sein Herz und sagt: Amico. Ich sage: Nein, es geht wirklich nicht, drei Kronen, nein! Er wiederholt, klagend: Herr Baron, drei Kronen? Ich wiederhole: Drei Kronen, nein, es geht nicht, drei Kronen ist zu wenig! Er duckt sich und steht horchend, die braunen Augen fallen zu. Ich sage noch einmal: Drei Kronen, nein! Er steht, wie wenn ein Erdbeben gewesen wäre. Und ich sage noch, mit meinem bösesten Gesicht und wie man ein letztes Angebot macht: Vier Kronen, meinetwegen! Milo Milosevič spricht kein Wort. Ich überreiche ihm fünf Kronen und sage, zornig: Und jetzt marsch, va via! Da fängt er, in jeder Hand einen meiner Koffer, auf der Brücke zu tanzen an und dreht sich rund herum und lacht. Ich bin schon auf dem Schiff, er tritt zu mir und streichelt leise meinen Arm und lacht. Und lachend sagt er nur immer: Herr Graf, Herr Graf! Plötzlich aber zeigt er, mit den Händen ausstoßend, zu den wilden Bergen hinauf und sagt: Ich bin aus Cetinje! Als ob er mir sagen wollte: Du hast recht getan, du hast mich erkannt, ich bin einer, der es verdient! Und er zwingt mich, mir seinen Namen aufzuschreiben, er buchstabiert mir ihn vor, und ich soll nie vergessen, daß ich jetzt einen Freund in Cattaro habe! Ganz still geht er dann ans Land zurück und steht dort noch und seine Augen bleiben noch die ganze Zeit bei mir.

Ich bin oben, beim Kapitän, der Abfahrt zuzusehen. Einer unserer Matrosen fällt mir auf, der noch auf dem Kai steht, bei einer armen alten Frau und einem armen alten Mann. Er hält ihre Hände, lacht sie an und küßt sie ab, bald den Mann und bald die Frau. Der Kapitän sagt: »Der kann sich wieder nicht trennen! Das ist die einzige Freude, die er hat, diese Stunde in Cattaro, zweimal die Woche. Da warten sein Vater und seine Mutter auf ihn und er bringt ihnen seinen Lohn mit!«

Seinen letzten Schrei stößt das Schiff aus, der Matrose reißt sich los, die Brücke fällt. Langsam wälzt es sich zurück und wendet sich langsam, stoßend und stöhnend. Seltsam ist es, wie die Bestie von Schiff anfangs immer nicht gehorchen will und sich zu wehren scheint. Und oben steht der Kapitän, nur ein kleiner schwarzer Punkt; und der kleine schwarze Punkt bändigt das ungeheure Tier. Oder eigentlich nicht der kleine schwarze Punkt, nicht der Kapitän, sondern Menschen an der Maschine, von denen wir gar nichts sehen und nur manchmal einer aus der Tiefe steigt, um seinen Eltern den Lohn zu bringen und ihre alten Hände zu küssen, zweimal die Woche.

Während wir kreisen, steht immer noch mein neuer Freund am Ufer, und seine guten braunen Augen sind bei mir, und manchmal ruft er, auf sich zeigend: Milo Milosevič! Und dann sticht er seinen Finger in das Herz und ruft: Amico! Ich zweifle nicht. Um eine Krone kann man hier wirklich einen Freund haben. Bei uns kostet es mehr. Und dann weiß man doch erst nicht.

Wir sind, kreisend, fast bis zum anderen Ufer gelangt, dort blicken wir zurück, und nun tut sich erst die ganze Macht der felsigen Öden über der Stadt auf. Wie mich diese Straße lockt, die Straße nach den schwarzen Bergen! Wie's mich zu diesen Menschen zieht, den Menschen in den schwarzen Bergen! Ich kenne nur wenige. In Ragusa war ich einmal mit einigen zusammen. Ich kann kaum sagen, was sie mir so lieb macht. Ich muß immer an die Welt des Wilhelm Tell denken. Oder auch an die Tiroler von 1809. Wenn Reinhardt einmal den Cymbelin machen wird, muß er her: hier sind Guiderius und Arviragus auf allen Wegen. Wenn Belarius den Jungen schildert:

 
– Sitz' ich auf meinem Schemel und erzähle
Von Kampf und Sieg, gleich fliegt sein Feuergeist
Mir in die Rede… da strömt
Sein fürstlich Blut ihm in die Wang', er schwitzt,
Spannt jeden jungen Nerv, spielt in Geberden
Die Worte nach –,
 

das ist mir wirklich immer wie ein montenegrinisches Porträt, so sind sie hier, so flammen sie von tapferen Worten auf! Und indessen haut in Mariahilf bei der Birn, zur Zehnerjausen, der dicke Selcher auf den Tisch und brüllt, schwitzend von kriegerischem Furor: Der verfluchte Serb hat ja ka Kultur!

Vielleicht wird es notwendig sein, dieser Nation jetzt unsere Waffen zu zeigen. Wir sind bereit. Es geht mir aber nicht ein, warum wir dazu den Feind erst schmähen, verleumden und schlecht machen sollen. In allen Reden des Perikles gegen die Lakedämonier ist kein häßliches Wort über sie. Nicht sie zu höhnen, sondern sein eigenes Volk zu befestigen war sein Sinn. Denn, hat er gesagt, ich fürchte weit mehr unsere eigenen Fehler als die Pläne der Gegner. – Übrigens macht es ja der einzelne bei uns nicht anders. Keiner scheint fähig, ruhig seinen Willen zu behaupten, sondern jeder scheint dazu vor sich selbst gleichsam erst einer moralischen Entschuldigung zu bedürfen, der Gegner muß immer ein schlechter Kerl sein und die Lust am Gegner, den doch jeder braucht, um so sich selbst erst zu bejahen und erfüllen, ist hier unbekannt.

Ich tröste mich mit Warsberg. Der hat auch die Schönheit dieser Menschen gefühlt, die rauh und doch von der höchsten Anmut sind. Und er hat sie mit seiner unvergleichlichen stillen Kraft dargestellt: »Es ist, wenn man, wie ich, an einem Nachmittage den Zickzacksteig nach Montenegro hinaufklimmt und also die Sonne im Rücken, aber auf den Gesichtern der von oben herabsteigenden und glutvoll beschienenen Gestalten hat, als sei irgendeines unserer europäischen Museen lebendig geworden und alle die Statuen des Vatikans oder Louvre von dort flüchtig hierher ausgewandert, und als hätten sie sich nur etwas mehr bekleidet, vielleicht der Flucht wegen nur verkleidet oder wärmer angetan, und die Männer mehr bebartet um des rauhen Klima willen und der steinigen Pfade wegen. Nirgends kann man einen Begriff bekommen wie hier von dem, was lebendige Schönheit des Altertums gewesen sein müsse. Man lebt in Montenegro förmlich die Zeiten des Homeros und Phidias wieder, wenigstens was die Menschen betrifft und wie sie unsere Phantasie uns glauben läßt. Ich sah die Steine und Öde kaum und das ganze großartige Traurige und Tote der dortigen Landschaft vor diesen aus dem weißen Marmor zum warmen und bunten Leben erweckten antiken Statuenbildern. Und weil es hoch ist und feine Lüfte dort wehen, ich auch nur so kurz blieb, daß nichts der anderen Realität mich derb anfassen konnte, glaubte ich mich unter Göttern wandelnd.«

Aber wer kennt dies Buch? Wer unter uns kennt Warsberg noch? Wir schwärmen für Walter Pater, aber daß wir einen hatten, der seines Geistes auf unsere Art war, weiß keiner. In Österreich wird der Lebende nicht angehört, der Tote wird vergessen. Wir leben und sterben inkognito. Und so steht jede Jugend wieder einsam da und muß, mit ratloser Sehnsucht, die Welt noch einmal beginnen. Keiner kann keinem helfen, keiner wirkt, seine Tat sinkt mit jedem ins Grab, und wir bleiben verlassen.

Ich kann es kaum erwarten, in Gravosa zu sein. Denn nun weiß ich, es kommt wieder diese Fahrt im weißen Regen der blühenden Mandeln, links der graue Karst mit dem gelben Fort und rechts der schwarze Wald, Agaven beugen sich, Gärten glühen, unten glänzt das schwellende Meer! Ich weiß, das wird jetzt wieder sein! Ich weiß, ich werde das jetzt wieder haben! Und meine Hände strecken sich aus, und mich fiebert vor Ungeduld und lechzender Erwartung.

Ich muß rennen, ich muß reden, um mir nur die Zeit zu betäuben. Der Innsbrucker Gemeinderat ist noch da, der fährt gleich wieder nach Triest zurück, er will nur drei Tage seine Nerven einmal von der Stadt auslüften. Ich hänge mich an ihn, mit Reden und Fragen, um mich nur über die Zeit zu betrügen, bis ich wieder auf dem weißen Weg sein werde, zwischen den fahlen Felsen und dem grün an sanften Höhen hängenden Hain! Es ist ein redlicher, verständiger, städtischer Mann, und ich höre gern zu, wie sich seine Heimat jetzt aus dem Kleinen überall ins Weite regt. Jede Sorge, die draußen in der Welt die Menschen bewegt, schlägt auch ins Wesen seiner geschäftigen Stadt herein, wenn manche auch freilich, bis sie dort ankommt, zuweilen ein recht wunderliches Aussehen hat, und es macht mir Spaß, anzuhören, wie rasch Gedanken heute wandern; von Berlin nach Innsbruck ist es jetzt geistig gar nicht mehr so weit. Ich kann nur an diesen Menschen die Furcht um ihr Deutschtum nie verstehen. Der brave Mann hier, der sogar über die Sozialdemokraten vernünftig spricht, macht auch auf einmal ein erschrecktes Gesicht, indem er sagt: Ja, wenn nur aber die Sozialdemokraten national verläßlich wären! Ich frage: Was soll denn dem Deutschtum der deutschen Stadt Innsbruck geschehen? Er aber, mit finsteren Augenbraunen: Es besteht doch die nationale Gefahr! Ich: Wo, wie, wann? Da kommt's heraus, daß auch dieser ruhige Bürger gleich in Angst gerät, wenn auf der Gasse italienisch gesprochen wird. Sind wir wirklich so schwach? Ist wirklich das Deutschtum gleich bedroht, wenn unsere Kinder eine fremde Sprache hören? Trauen wir unserer eigenen Kraft so wenig zu? Und geht es denn immer bloß um die Sprache, geht es nicht vielmehr um den deutschen Sinn und unsere alte deutsche Stammesart? Ist es nicht wichtiger, diese südlichen und östlichen Völker einzuhauchen? Lassen wir doch in der weiten Welt die deutsche Seele für uns werben! In welcher Sprache sie dann wirkt, was kümmerts uns, wenn nur deutsches Wesen obenan in der Menschheit steht!

Endlich sind wir in Gravosa, endlich bin ich im Wagen. Und ich weiß: jetzt kommts, gleich werden wir jetzt auf der Höhe sein, links der kahle Berg und rechts der dunkle Wald und unter den nackten Agaven die gäschende Flut, gleich wird es wieder sein, gleich wird der Traum zur Wirklichkeit, und Frühling wird sein, denn hier ist immer Frühling, und ich werde mitten im Frühling sein, während aus glühenden Gärten die weißen Mandeln winken! Wie langsam sind meiner Ungeduld die gemächlichen Gäule! Ich kann es nicht mehr erwarten! Ewigkeit wird's mir, bis wir, an der gelben Kaserne mit den exerzierenden Soldaten vorbei, doch endlich, endlich, endlich auf der Höhe sind! Auf der Höhe, zwischen dem grellen Berg und dem dunklen Wald, über dem glitzernden Meer! Und ich kanns noch immer gar nicht glauben, daß ich das jetzt wieder haben soll! Aber da ist es, alles ist noch da, Berg und Wald und Meer und die schiefen Agaven über dem Abgrund und in den Gärten die schimmernden Mandeln und der ganze Frühling! Ich aber sitze ganz still und kann es nicht begreifen. Und ich sage mir die ganze Zeit: Was hast du denn, sei nicht so dumm, du hast es doch gewußt, warum denn heulen, du hast es doch gewußt! Aber nein, nein, ich habe nichts gewußt! Alles ist noch, wie es damals war, und doch ist mir alles, als wär's zum erstenmal!

Nun bin ich wieder auf dem Platz vor der Porta Pile, unter den Platanen und Maulbeerbäumen. Über den Häusern links droht, ganz oben, aus dem grauen, karg angegrünten Stein des Monte Sergio das breite, gelblich weiße Fort Imperial. Vor mir die Stadtmauer, nordwärts ansteigend zum Mincetaturm, während sie sich südwärts zur Seebastion Bokar auf jähen Klippen senkt. Bald ist sie ganz regengrau, bald von weißlichen Schimmern, hier rostig gefleckt, dort schwarz genäßt, mit gelben Heiligen in verwetterten Nischen; und aus dem wuchernden Graben ragen silbrige Pappeln, grüne Kiefern und dunkler Lorbeer auf. Von der Terrasse zwischen der Scuola Nautica und dem kleinen Café all' arciduca Federigo sieht man ins Meer hinab. Links die Mauer und die Bastion Bokar, rechts auf steilem Riff das Fort Lorenzo und in der Bucht noch ein ganz enger jäher Fels und daneben eine breite niedrige Bank; und über alle diese grauen und gelben und braunen Zinken und Zacken und Zulpen wirft sich das brandende, brausende, brodelnde Meer her.

Über die Brücke, durchs Tor in der Mauer. Man tritt in einen Zwinger, der sich, unter steilen Wänden, im leichten Bogen zu einem zweiten Tor senkt. Seltsam wirken die schwarzgelben Türen in dieser großen heroischen Impression; und seltsam ist es, wenn das Meer brüllt und plötzlich ein Trompeter ein Signal bläst. Nun aber, aus dem zweiten Tor tretend, hemmt man vor Entzücken den Schritt und steht und schaut: eine gerade, mäßig breite, trotzige Straße von stämmigen, wehrhaften und entschlossenen Häusern; und jedes dieser bräunlich glänzenden, gelb gescheckten, aus Steinwürfeln gefügten, streitbaren und bewaffneten Häuser steht hoffärtig für sich allein, jedes etwa drei Schritte vom nächsten weg, so daß überall enge Gassen entstehen, die sich dann, links und rechts, über Stiegen, den Berg hinauf fortsetzen. Das ist, von der Porta Pile zur Porta Ploce, Ragusas große Straße: der Stradone. Kein Trottoir. Mit großen Platten gepflastert. Man hat das Gefühl, durch einen langen schmalen Saal zu schreiten. Und irgendwie muß man immer an den Markusplatz denken. Ein enger, bedrängter Markusplatz scheints. Ein Gefahren abgerungener Markusplatz, der immer noch die Waffen in der Hand hält. Tanzsaal und Fechtsaal zugleich. So festlich als kriegerisch bereit. Das Leben jauchzt, aber an jeder Ecke steht der Tod.

Die Häuser sind niedrig. Anderthalb Stöcke. Unten meist vier runde Bogen mit Gewölben; darüber vier Fenster mit weiß oder grün gestrichenen Jalousien; und die Fenster im nächsten Stock sind kaum ein Drittel so groß. Alles sehr alt; aber ganz jung geblieben. Alles hell und rein. Alles froh und stark. Mit verbundenen Augen in diese Straße geführt, müßte man noch ihren Glanz fühlen. Und ein Fremder, hier aus einem verschlagenen Ballon gefallen, fragte sicher: In welcher Republik, bitte, bin ich hier?

Und unerklärlich bleibt mir, warum man sich denn hier immer in einer großen Stadt glaubt! Die steilen Gäßchen, links und rechts, den Berg hinauf und südwärts, sind in ihrer Enge, mit den bunten Fetzen, aus irgendeinem italienischen Dorf. Aber auf dem Stradone fühlt man sich in einer großen Stadt. Hier weht die Luft der weiten Welt herein. So stark ist die Vergangenheit hier hängen geblieben, daß man immer noch überall den Hauch der Geschichte spürt; und griechische und byzantinische und venezianische Herrlichkeit spricht mit königlichen Stimmen aus allen Steinen. Nach den Bergen und über das Meer hat diese Stadt einst ihre Waren in die weite Welt geschickt, der fünfte Karl war ihr so gnädig als Cromwell, der Pabst gab ihr seine Gunst wie der Sultan. Dies alles ist verweht, aber die Stadt Ragusa steht.

Heute ist die Republik Ragusa eine von den dreizehn Bezirkshauptmannschaften Dalmatiens, dem k. k. Statthalter in Zara untertan, mit einem Kreisgericht, einem Bezirksgericht und einer Finanzbezirksdirektion. Einst hatte die Stadt vierzigtausend Bewohner, jetzt hat sie, mit den Vorstädten, kaum achttausend. Aber es sind die alten Ragusäer, und ihre Geschichte lebt.

Und ich stehe noch immer, im zweiten Tor, und schaue nur, den Stradone hin, und schaue. Dann aber sagt es plötzlich in mir: Siehst du, in der Getreidegasse, wenn das zittrige Glockenspiel herüberklingt, und in den bunten Goldmacherhäuseln des Hradschin und vor dem Tuchhaus in Krakau, wo der Mickiewicz steht, und auf dem Platz in Trient, wo der Dante seine Hand zum Norden hebt, und in Bozen auf dem Platz des Vogelweiders und hier im Abglanz der Komnenen fühlst du dich zu Haus, dies alles ist dein Heim, dies alles zusammen erst bist du, siehst du jetzt, was ein Österreicher ist? Und ich stehe noch immer im zweiten Tor, über den Stradone schauend, die kleinen, festen, breiten Burgen entlang, und uralte Zeit ergreift mich im Sonnenschein, und ich bin froh.

Warsberg ist auch einst hier gestanden. Da hat er sich einen Geschichtsschreiber der glorreichen Stadt gewünscht. »Die Stadt, schrieb er, erscheint wie der Siegelabdruck ihrer Geschichte. So ganz die Vergangenheit verratend stellt sich vielleicht nur noch Venedig dar. Wie dort, hatte sich auch hier nichts neues beigemischt, und man sieht ein treues Bild dessen, was ehemals war. Eben deshalb, weil man immer wahre und zeitgemäße Bilder zur Illustration des Erzählten zur Hand hätte und dieses also beinahe ganz aus dem noch vorhandenen Leben selbst schöpfen könnte, dünkt mir die Geschichte Ragusas zu schreiben eine der bestechendsten und interessantesten Aufgaben. Ich meine eine Geschichte, die Fleisch und Blut, das Leben selbst, eine körperliche Darstellung, nicht eine langweilige, dunstige, bloße Aufzählung der Fakten wäre. Solche Monographien, gut geschrieben, sind heute das Eigentliche, was den Historikern noch erübrigt und daher aufliegt. Sie haben vor den früher üblichen Weltgeschichten das voraus, daß sie mehr individuelle Spannung und Teilnahme, einen festen Knochenbau und auch eine leidenschaftlichere Seele, mehr bunte Färbung und auch mehr Rücksicht für die Landschaft und den städtischen Hintergrund mit sich bringen und bedingen. Der Welthistoriker ist mehr Philosoph; der, welcher eine solche Einzelhistorie versucht, muß Maler und Künstler, auch Dichter und Romantiker sein. Dabei hätte die Monographie der Republik Ragusa noch das besondere Interesse, immer das Branden der Weltgeschichte mithören zu lassen; denn das Schicksal Ragusas war, ganz wie sein Stadtbild, nicht reich und großmächtig, aber wohlhabend und ansehnlich, und wie das Meer um seine Flanken liegt, so spülen hier alle großen Ereignisse unseres Mittelalters an.« Warsbergs Wunsch ist jetzt erfüllt. Der Graf Vojnovič erzählt die Geschichte seiner Vaterstadt.

Im Gehen fällt mir dann noch ein: dies allein, sich in solchen Extremen daheim zu fühlen, macht noch nicht den ganzen Österreicher aus, sondern dazu gehört noch, daß er sich in seinem Land überall immer mißhandelt und doch sonst nirgends wohl fühlt. Deshalb kann uns auch »draußen« keiner je verstehen. Was weiß man denn von uns in Europa? Jetzt reist einer herum, der unsere Landschaften draußen bekannt machen will. Schön. Aber es sollte dann auch einmal einer reisen, der Europa mit unserer Menschenart bekannt macht. Warum halten wir sie versteckt? Warum verstellen wir uns? Warum sind wir alle so bös, wenn einer sie verrät?

Abend wird's, der Korso beginnt. Die scharfen, beweglichen, gern ein wenig spöttischen Mienen eilig äugelnder Italienerinnen, die weichen, scheuen, gesenkten der zögernden slawischen Mädchen. Männer in weiten bauschigen Hosen, mit dem Turban, Messer in den breiten blauen oder tiefgrünen oder roten Binden. Blaue Mäntel, rote Mäntel. Bäuerinnen mit Kopftüchern, Brusttüchern, Schürzen in allen Farben, möglichst bunt, möglichst grell. Und dann wieder welche ganz weiß. Priester unter breiten schwarzen Hüten. Ein bärtiger Pope. Junge Serben mit sanften braunen Augen. Schlanker Albanesen ungeduldiger Schritt und das Säbelklirren gravitätisch schlendernder Kadetten. Langsam, zu dritt, Soldaten im gleichen Schritt, stumm und mit dumpf verwunderten Blicken.

Und dann sitzt man abends in diesem friedlichen Hotel Imperial an der Table d'hôte. Narzissen duften durch den hellen Saal. Eine alte Dame mit einem stillen, ganz weißen Gesicht hat Blüten mitgebracht, legt sie neben sich und streichelt sie. Und ganz glücklich sagt sie: Alles blüht schon! Ein Wiener gegenüber sagt: No ja, das schon, aber die Butter müssens aus Schärding bringen lassen, aus Schärding in Oberösterreich, ich bitt' Sie! Die alte Dame mit dem lieben feinen Gesicht erschrickt und sieht die weißen Blüten ganz ängstlich an, als wären sie schuld. Und rings am Tisch verstummen alle. Die Narzissen duften, das Licht glänzt an den Gläsern. Bis plötzlich eine junge Stimme schmetternd sagt: Wollen Sie wetten, daß in acht Tagen Krieg ist? Alle horchen auf und sehen hin, die Nachbarin des schmetternden Leutnants wird verlegen, er aber lacht und noch einmal schallt's über den Tisch: In acht Tagen ist Krieg! An einem Tischchen in der Ecke sitzt ein hagerer Herr im Frack, mit einem kahlen zerknitterten gelben Gesicht und einer exotischen, sehr geschmückten Dame. Jetzt sehen sie her, horchend; dann sehen sie sich an und lächeln. Der schmetternde Held aber, der spürt, daß ihm jetzt alle zuhören, hebt sein Glas zur errötenden Nachbarin und wieder hallt der stille Saal von Krieg.

Возрастное ограничение:
12+
Дата выхода на Литрес:
30 июня 2017
Объем:
160 стр. 1 иллюстрация
Правообладатель:
Public Domain

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