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Die Folgen dieser Illusion sind zahllos.2) Unsere Schätzung der Menschen und Ereignisse ist vollständig durchtränkt von dem Glauben an den retrospektiven Wert des wahren Urteils und an die rückläufige Bewegung, die die einmal gesetzte Wahrheit automatisch in der Zeit ausführen würde. Allein durch ihren Vollzug projiziert die Wirklichkeit hinter sich ihren Schatten bis in die unbestimmte Weite der Vergangenheit. Sie scheint so unter der Form des bloß Möglichen vor ihrer eigentlichen Verwirklichung existiert zu haben. Daher rührt der Irrtum, der unsere Auffassung von der Vergangenheit so verdirbt, sowie unsere Anmaßung, bei jeder Gelegenheit die Zukunft vorwegnehmen zu wollen. Wir fragen uns z. B.: was wird aus der Kunst, der Zivilisation von morgen? Wir stellen uns so im Groben die Entwicklungskurve der Gesellschaft vor; ja, wir gehen so weit, daß wir die Einzelheiten der Ereignisse vorhersagen. Sicher werden wir immer die Wirklichkeit, wenn sie eingetreten ist, mit den Ereignissen, die ihr vorausgegangen sind, und den Umständen, unter denen sie hervorgetreten sind, verbinden können, aber auch eine ganz verschiedenartige Wirklichkeit, natürlich nicht irgend eine beliebige, hätte sich ebensogut mit denselben Umständen und Ereignissen, nur unter einem anderen Gesichtswinkel aufgefaßt, verbinden lassen. Wird man daraufhin sagen, daß man unter Berücksichtigung aller Seiten des gegenwärtigen Zustandes und deren Verlängerung nach allen Richtungen hin schon jetzt alle Möglichkeiten in der Hand hätte, zwischen denen die Zukunft wählen wird, vorausgesetzt, daß sie überhaupt wählt? Aber zunächst einmal können diese Verlängerungen selbst ganz neu hinzutretende Qualitäten sein, die als Ganzes absolut unvorhersehbar entstünden, und dann existiert eine „Seite“ der Sache als „Seite“ nur, insoweit unsere Aufmerksamkeit sie herausgehoben hat als Ausschnitte von einer bestimmten Form aus dem Ganzen der gegenwärtigen Umstände: wie sollten danach also „alle Seiten“ des gegenwärtigen Zustandes existieren, bevor durch die nachfolgenden Ereignisse die originellen Formen der Ausschnitte, die die Aufmerksamkeit vornimmt, geschaffen worden wären? Diese Seiten gehören also nur retrospektiv zu der ehemaligen Gegenwart, d. h. zur Vergangenheit, und sie hatten in dieser Gegenwart, als sie noch wirklich gegenwärtig war, nicht mehr Realität, als in unserer augenblicklichen Gegenwart die Symphonien der zukünftigen Musiker haben. Um ein einfaches Beispiel anzuführen: nichts hindert uns heute daran, die Romantik des 19. Jahrhunderts mit dem zu verknüpfen, was bei den Klassikern bereits romantisch war. Aber der romantische Aspekt des Klassizismus hat sich erst klar abgehoben durch die retroaktive Wirkung der Romantik, nachdem sie einmal in Erscheinung getreten war. Wenn es nicht einen Rousseau, einen Chateaubriand, einen Vigny, einen Viktor Hugo gegeben hätte, dann hätte man nicht allein niemals etwas von Romantik bei den ehemaligen Klassikern wahrgenommen, sondern es hätte auch wirklich keine Romantik bei den ehemaligen Klassikern gegeben, denn diese Romantik der Klassiker tritt erst dadurch heraus, daß man in ihrem Werk einen gewissen Aspekt heraushebt, und dieser Ausschnitt existierte in seiner besonderen Form in der klassischen Literatur vor dem Auftreten der Romantik ebensowenig, wie in der vorübereilenden Wolke die amüsante Zeichnung existierte, die ein Künstler darin wahrnimmt, indem er die amorphe Masse nach dem Belieben seiner Fantasie organisiert. Die Romantik hat also retroaktiv auf den Klassizismus gewirkt, so wie die Zeichnung des Künstlers auf jene Wolke. Retroaktiv hat sie ihre eigene Gestaltung der Vergangenheit eingebildet und eine Erklärung ihrer selbst durch die vorausgehenden Umstände erst geschaffen.

Es bedarf eines glücklichen Zufalls, wenn wir in unserer jetzigen Gegenwart gerade das bemerken, was für den zukünftigen Historiker von besonderem Interesse ist. Wenn dieser Historiker unsere Gegenwart betrachten will, dann sucht er darin besonders die Erklärung seiner Gegenwart und vor allem die Erklärung dessen, was diese Gegenwart an Neuem enthält. Von diesem Neuen können wir heute noch keine Vorstellung haben, wenn es eine wirkliche Neuschöpfung ist. Wie könnten wir also heute schon uns nach ihr ausrichten, um unter den Tatsachen gerade die auszuwählen, die man hervorheben, oder vielmehr erst fabrizieren muß, indem man die gegenwärtige Wirklichkeit im Hinblick auf jene Zukunft zurechtschneiden würde? Die grundlegende Tatsache der modernen Zeit ist die fortschreitende Entwicklung der Demokratie. Daß wir in der Vergangenheit, wie sie von den Zeitgenossen beschrieben wurde, auf diese Entwicklung hinweisende Anzeichen finden, ist unbestreitbar, aber die vielleicht interessantesten Hinweise würden von ihnen nur dann hervorgehoben worden sein, wenn sie gewußt hätten, daß die Menschheit in dieser Richtung marschiere; nun trat aber diese Entwicklungsrichtung damals nicht deutlicher hervor, als irgend eine andere, oder vielmehr, sie existierte noch gar nicht, da sie erst durch die Entwicklung selber geschaffen wurde, ich möchte sagen durch das Fortschreiten der Männer, die nacheinander den Begriff Demokratie erfaßt und verwirklicht haben. Die vorausdeutenden Hinweise sind also in unseren Augen nur deswegen Anzeichen, weil wir heute die Entwicklungsbahn kennen, weil diese Entwicklung inzwischen vollzogen worden ist. Weder diese Bahn, noch ihre Richtung, noch auch infolgedessen ihr Zielpunkt waren also gegeben, als diese Geschehnisse sich vollzogen: also waren jene Tatsachen noch keine Anzeichen. Gehen wir noch weiter. Wir sagten, daß die wichtigsten diesbezüglichen Tatsachen von den Zeitgenossen vernachlässigt werden könnten. Aber in Wahrheit existierten eben die meisten Tatsachen als Tatsachen zu jener Zeit noch gar nicht, sie würden retrospektiv für uns existieren, wenn wir jetzt jene Zeit in ihrer Ganzheit wieder aufleben lassen könnten, um auf das ungeteilte Ganze der Wirklichkeit von damals den besonderen Lichtschein fallen zu lassen, den wir die demokratische Idee nennen; die so beleuchteten Teile, die in dem Ganzen nach den ebenso originellen wie unvorhersehbaren Umrissen der Zeichnung eines großen Meisters herausgeschnitten wären, würden die vorbereitenden geschichtlichen Tatsachen der Demokratie sein. Kurz, um unseren Nachkommen die Erklärung der für sie wesentlichen Ereignisse aus der Vergangenheit her zu überliefern, müßten wir uns dieses zukünftige Ereignis schon jetzt vorstellen können, und es dürfte infolgedessen keine wahre Dauer geben. Wir überliefern den nachfolgenden Generationen, was uns interessiert, was unsere Aufmerksamkeit im Lichte unserer vergangenen Entwicklung betrachtet und formt, aber nicht das, was die Zukunft für jene interessant machen wird durch die Entstehung eines neuen Interesses, durch eine neue Richtung, der ihre Aufmerksamkeit sich zuwendet. Mit andern Worten, die historischen Ursprünge der Gegenwart können in ihrer eigentlichen Bedeutung nicht vollständig aufgehellt werden, denn man könnte sie in ihrer Ganzheit nur wieder überschauen, wenn die Vergangenheit von den Zeitgenossen als eine Funktion einer noch unbestimmten Zukunft ausgedrückt werden könnte, einer Zukunft, die aber gerade deshalb unvorhersehbar wäre.

Nehmen wir eine Farbe wie Orange.3) Da wir außerdem noch Rot und Gelb kennen, können wir Orange in einem Sinn als gelb, im anderen als rot auffassen und sagen, daß es eine Zusammensetzung von Gelb und Rot ist. Aber nehmen wir einmal an, daß nur die Farbe Orange existierte, wie sie ist, und Gelb und Rot wären noch nicht in der Welt bekannt, — würde dann wohl Orange als aus jenen beiden Farben zusammengesetzt erscheinen? Offenbar nicht. Die Empfindung rot und die Empfindung gelb, die einen ganzen Mechanismus in den Nerven und im Gehirn in sich einschließen und zugleich ganz besondere Dispositionen des Bewußtseins, sind Schöpfungen des Lebens, die entstanden sind, aber die auch nicht hätten entstehen können — und wenn es weder auf unserem Planeten, noch auf irgend einem anderen Wesen gegeben hätte, die diese beiden Empfindungen gehabt hätten, dann wäre die Empfindung des Orange eine einfache unteilbare Empfindung gewesen; niemals wären in ihr als Komponenten oder als Aspekte die Empfindungen des Gelb und des Rot vorgestellt worden. Ich erkenne an, daß unsere gewöhnliche Logik protestiert. Diese sagt: „Da nun einmal die Empfindungen gelb und rot heute als Zusammensetzung in die des Orange eingehen, gingen sie immer darin ein, selbst wenn es eine Zeit gegeben hat, wo keine der beiden wirklich existierte, sie waren dann virtuell darin vorhanden.“ Aber das zeigt eben, daß unsere gewöhnliche Logik eine retrospektive Logik ist. Sie kann es nicht lassen, in die Vergangenheit als sog. Möglichkeiten oder Virtualitäten die gegenwärtigen Wirklichkeiten zurückzuprojizieren, so daß dasjenige, was jetzt in ihren Augen zusammengesetzt ist, es auch immer gewesen sein soll. Sie gibt nicht zu, daß ein einfacher unteilbarer Zustand, wenn auch sich selbst gleichbleibend, ein zusammengesetzter Zustand werden kann und zwar allein dadurch, daß die Entwicklung neue Gesichtspunkte schafft, in die man ihn geistig auflösen kann. Sie will nicht glauben, daß, wenn diese Elemente nicht als Wirklichkeiten aufgetaucht wären, sie auch nicht vorher als Möglichkeiten existiert hätten, da die Möglichkeit einer Sache nur immer die Spiegelung der einmal aufgetauchten Wirklichkeit in eine unbestimmte Vergangenheit bedeutet (außer dem Fall, wo diese Sache nur eine ganz mechanische Gruppierung präexistierender Elemente ist). Wenn sie unter der Form des Möglichen alles, was in der Gegenwart an Wirklichkeit auftaucht, in die Vergangenheit zurückschiebt, so liegt das daran, daß sie nicht zugeben will, daß irgend etwas neu auftaucht, daß irgend etwas geschaffen wird, daß die Zeit eine wirksame Kraft ist. In einer neuen Form oder einer neuen Qualität sieht sie nur eine Neugruppierung alter Elemente, niemals etwas absolut Neues. Jede Vielheit löst sich für sie in eine bestimmte Anzahl von Einheiten auf. Sie erkennt nicht die Idee einer unbestimmten Vielheit oder gar einer ungeteilten Vielheit an, die rein intensiver oder qualitativer Art ist, die eine unbegrenzt wachsende Zahl von Elementen in sich einschließt in demselben Maße, wie in der Welt die neuen Gesichtspunkte auftauchen, von denen aus man sie betrachten kann, Es kommt sicherlich nicht in Frage, auf diese Logik zu verzichten, noch auch sich gegen sie zu empören, aber man muß sie erweitern, geschmeidiger machen und einer Dauer anpassen, in der das Neue unaufhörlich hervorsprudelt, und die Entwicklung eine schöpferische ist.

Das war vorzüglich die Richtung, die wir einschlugen. Viele andere eröffneten sich vor uns und um uns herum von dem Zentrum aus, in dem wir unseren Standpunkt genommen hatten, um die reine Dauer wieder zu erfassen. Aber wir schlugen diese Richtung vorzugsweise ein, weil wir, um unsere Methode zu erproben, als erstes das Problem der Freiheit gewählt hatten. Gerade dadurch versetzten wir uns ganz in den Fluß des inneren Lebens, von dem die Philosophie uns zu oft bloß die erstarrte Oberfläche festzuhalten schien. Waren der Romanschreiber und der Moralist in dieser Richtung nicht viel weiter vorgedrungen als der Philosoph? Vielleicht — aber nur gelegentlich unter dem Druck der Not hatten jene das Hindernis genommen. Keinem war es noch eingefallen, methodisch „auf die Suche nach der verlorenen Zeit“ zu gehen. Wie dem auch sei, wir gaben in dieser Hinsicht in unserem ersten Buch nur Andeutungen, und wir beschränkten uns im zweiten noch auf Anspielungen, als wir den Plan de l’action — in dem die Vergangenheit sich in der Gegenwart zusammenzieht — verglichen mit dem Plan du rêve, in dem sich die Totalität der Vergangenheit unteilbar und unzerstörbar entfaltet. Aber wenn auch das Studium der Seele in concreto an individuellen Beispielen Sache der Literatur ist, so schien uns doch die Aufgabe der Philosophie zu sein, hier die allgemeinen Bedingungen der direkten unmittelbaren Selbstbeobachtung festzustellen. Diese innere Beobachtung wird durch die Denkgewohnheiten, die wir angenommen haben, verfälscht. Die hauptsächlichste Entstellung ist ohne Zweifel diejenige, die das Problem der Freiheit geschaffen hat, ein Pseudoproblem, das aus einer Verwechslung der wahren Dauer mit dem Raum entstanden ist. Aber es gibt noch andere, die denselben Ursprung zu haben scheinen: unsere Seelenzustände scheinen uns zählbar, diese oder jene unter ihnen sollen, in dieser Weise dissoziiert, eine meßbare Intensität haben, jedem von ihnen glauben wir die Worte substituieren zu können, die sie bezeichnen, und die sie dann überdecken, wir schreiben ihnen dann die Festigkeit, die Diskontinuität, die Allgemeinheit der Worte selber zu. Diese Hülle gilt es zu erfassen, um sie zu zerreißen. Aber man wird sie nur erfassen, wenn man zuerst ihre Gestalt und Struktur untersucht, wenn man auch ihre Bestimmung versteht. Sie ist von Natur räumlich, und sie hat eine soziale Bedeutung. Die Räumlichkeit also und in diesem ganz besonderen Sinn auch die Erfordernisse des Gemeinschaftslebens sind hier die wahren Ursachen für die Relativität unserer Erkenntnis. Wenn wir diesen trennenden Schleier entfernen, dann kehren wir zum Unmittelbaren zurück und berühren ein Absolutes, ein Unbedingtes.

Aus diesen ersten Überlegungen gingen Schlußfolgerungen hervor, die glücklicherweise fast banal geworden sind, aber die damals kühn erschienen. Sie forderten den Bruch mit der Assoziations-Psychologie, die, wenn auch nicht als Lehre, so doch als Methode, damals allgemein anerkannt war. Sie verlangten noch einen weiteren Bruch, den wir nur erst andeuteten. Neben der Assoziations-Psychologie gab es den Kantianismus, dessen Einfluß übrigens, oft mit der ersteren verbunden, nicht weniger mächtig und nicht weniger allgemein war. Diejenigen, die den Positivismus eines Comte, oder den Agnostizismus eines Spencer zurückwiesen, wagten nicht, die kantische Auffassung von der Relativität der Erkenntnis zu bestreiten. Kant hatte, so sagte man, bewiesen, daß unser Denken eine Materie bearbeitet, die von vornherein in Raum und Zeit zerstreut ist, und die so ganz speziell auf den Menschen zugeschnitten ist: das sog. „Ding an sich“ entschlüpft uns; um dieses zu erfassen, bedürfte es einer intuitiven Erkenntnisfähigkeit, die wir nicht besitzen. Ganz im Gegensatz dazu ging aus unserer Analyse hervor, daß wenigstens ein Teil der Wirklichkeit, nämlich unsere Person, in ihrer ursprünglichen Reinheit erfaßt werden kann. Hier ist das Material unserer Erkenntnis nicht geschaffen und gleichsam zerbröckelt und entstellt durch eine Art von boshaftem Geist, der danach einen Haufen atomisierter Empfindungen unserem Bewußtsein zu einer künstlichen Synthese dargeboten hätte. Unsere Person erscheint uns, so wie sie ist, in ihrem „An-sich“, sobald wir uns von Denkgewohnheiten freimachen, die wir aus Bequemlichkeit angenommen haben. Aber sollte es nicht ebenso bei anderen Wirklichkeiten sein, vielleicht gar bei jeder? War die „Relativität der Erkenntnis“, die jeden Aufschwung der Metaphysik verhinderte, ursprünglicher und wesentlicher Art? Sollte sie nicht vielmehr zufälliger Art sein und auf einer erworbenen Denkgewohnheit beruhen? Sollte sie nicht ganz einfach daher rühren, daß die Intelligenz Vorstellungsgewohnheiten angenommen hat, die für das praktische Leben notwendig sind: diese Gewohnheiten, auf das Gebiet der Spekulation übertragen, stellen uns einer entstellten und umgemodelten Wirklichkeit gegenüber, die konstruiert ist; aber die Konstruktion zwingt sich uns nicht unausweichbar auf, sie rührt von uns selbst her; was wir selbst gemacht haben, können wir auch wieder auflösen, und dann treten wir in direkten Kontakt mit der Wirklichkeit. Es war also nicht nur die psychologische Theorie des Assoziationismus, die wir beiseite schoben, es war auch, und aus einem analogen Grund, eine allgemeine Philosophie, wie etwa der Kantianismus und alles, was sich damit verband. Beide, die damals in ihren großen Zügen anerkannt waren, erschienen uns als impedimenta, die die Philosophie und die Psychologie am Fortschritt hinderten.

Es blieb also die Aufgabe vorwärtszuschreiten. Es genügte nicht, das Hindernis beiseitezuschieben. Wir machten uns an die Arbeit und gaben uns an das Studium der psychologischen Funktionen, dann der psychophysiologischen Beziehungen, dann an das Studium des Lebens im allgemeinen und suchten dabei immer die direkte Schau, wodurch wir immer Probleme ausschalteten, die nicht die Dinge selber betrafen, sondern ihre Übersetzung in künstliche Begriffe. Wir wollen hier nicht eine Geschichte skizzieren, deren erstes Ergebnis darin bestünde, die äußerste Kompliziertheit einer so einfach erscheinenden Methode aufzuzeigen; wir werden übrigens im nächsten Kapitel kurz noch einmal darauf zurückkommen. Aber da wir damit begonnen haben, daß wir sagten, wir hätten vor allem an die Präzision gedacht, so wollen wir mit dem Hinweis schließen, daß die Präzision unseres Erachtens durch keine andere Methode gewonnen werden kann. Denn die Ungenauigkeit schreibt sich im allgemeinen daher, daß eine Sache durch einen zu unbestimmten Allgemeinbegriff aufgefaßt wird, wobei Sache und Begriff übrigens fix und fertigen Wortschablonen entsprechen. Aber wenn man damit anfängt, die fertigen starren Begriffe zu beseitigen, wenn man sich eine direkte Schau des Wirklichen verschafft, wenn man dann diese Wirklichkeit unterteilt mit Rücksicht auf ihre natürliche Gliederung, so werden diesmal die neuen Begriffe, die man bilden muß, um sich auszudrücken, dem Ding genau auf den Leib zugeschnitten sein: die Ungenauigkeit wird nur entstehen können durch ihre Ausdehnung auf andere Dinge, die sie gleichermaßen in ihrer Allgemeinheit mit umfaßten, aber die für sich studiert werden müssen unter Außerachtlassung dieser Begriffe, wenn man sie ihrerseits wirklich kennen lernen will.

1) Wenn der Kinematograph uns auf der Leinwand die unbeweglichen Momentaufnahmen, die im Film nebeneinandergereiht sind, in Bewegung zeigt, so überträgt er gleichsam mit diesen Momentaufnahmen selber die Bewegung, die sich im Apparate vollzieht. Es gibt hier nur eine ununterbrochene Dynamik der Veränderung, einer Veränderung, die nie ihren Zusammenhang mit sich selbst verliert, die sich endlos aus sich selber weiter gebiert.

2) Über diese Folgen und noch allgemeiner über den Glauben an den retrospektiven Wert des wahren Urteils, über die rückläufige Bewegung der Wahrheit, haben wir uns ausführlicher geäußert in den Vorträgen an der Columbia-Universität in New York im Januar 1913. Wir beschränken uns hier auf einige Hinweise.

3) Die vorliegende Studie ist vor unserem Buch „Les deux sources de la Morale et de la Religion“, in der wir denselben Vergleich entwickelt haben, geschrieben worden.

EINLEITUNG
(Zweiter Teil)

Von der Stellung der Probleme

Dauer und Intuition — Natur der intuitiven Erkenntnis — In welchem Sinne sie klar ist — Zwei Arten der Klarheit — Die Intelligenz — Wert der intellektuellen Erkenntnis — Abstraktionen und bildliche Ausdrücke — Metaphysik und Wissenschaft — Unter welchen Bedingungen sie sich gegenseitig ergänzen können — Über den Mystizismus — Von der Unabhängigkeit des Geistes — Muß man die Formulierung der Probleme anerkennen? — Die Philosophie der Civitas — Die Allgemeinbegriffe — Die echten und die unechten Probleme — Der Kantische Kritizismus und die Theorien der Erkenntnis — Die intellektuelle Illusion — Lehrmethoden — Homo loquax — Der Philosoph, der Wissenschaftler, der intelligente Mensch

Diese Untersuchungen über den Begriff der Dauer erschienen uns entscheidend. In zunehmendem Maße ließen sie uns die Intuition zur philosophischen Methode erheben. „Intuition“ ist übrigens ein Wort, bei dem wir länger zögerten. Von allen Ausdrücken, die einen Modus der Erkenntnis bezeichnen, ist es der passendste, und dennoch gibt er leicht Anlaß zur Unklarheit: weil ein Schelling, ein Schopenhauer u. a. schon sich auf die Intuition berufen haben, weil sie mehr oder weniger die Intuition der Intelligenz entgegengestellt haben, konnte man glauben, daß wir dieselbe Methode anwendeten. Als ob ihre Intuition nicht der Versuch des unmittelbaren Erfassens des Ewigen wäre! Als ob es sich bei uns nicht gerade im Gegensatz dazu darum handelte, die wahre Dauer wiederzufinden. Zahlreich sind die Philosophen, die die Unfähigkeit des begrifflichen Denkens gefühlt haben, in die Tiefe des Geistes einzudringen. Zahlreich sind infolgedessen diejenigen, die von einem überintellektuellen Intuitionsvermögen gesprochen haben. Aber da sie geglaubt haben, daß die Intelligenz in der Zeit denke, haben sie daraus geschlossen, daß man sich in das Zeitlose erheben müsse, um über die Intelligenz hinaus zu gelangen. Sie haben nicht gesehen, daß die verstandesmäßig erfaßte Zeit gleich Raum ist, daß die Intelligenz nur einen Schatten der wahren Dauer bearbeitet, aber nicht die Dauer selbst, daß die Eliminierung der Zeit der gewöhnliche und banale Akt unseres Verstandes ist, daß die Relativität unserer Erkenntnis des Geistes gerade daher rührt, und daß man also, um von der Begrifflichkeit zur unmittelbaren Schau, vom Relativen zum Absoluten zu gelangen, sich nicht außerhalb der Zeit begeben muß (wir sind schon immer außerhalb ihrer), sondern daß es im Gegenteil gilt, sich in die wahre Dauer zurückzuversetzen, und die Wirklichkeit in der Bewegung, die ihr Wesen ist, wieder zu ergreifen. Eine Intuition, die vorgibt, sich mit einem Sprung in das Ewige zu versetzen, hält sich damit an das rein Verstandesmäßige. An die Stelle der Begriffe, die der Verstand darbietet, setzt sie einfach einen einzigen Begriff, der sie alle zusammenfaßt und infolgedessen immer sich gleichbleibt, wie man ihn auch immer benennen möge, sei es die Substanz, das Ich, die Idee, der Wille. Die so notwendigerweise pantheïstisch verstandene Philosophie wird keine Mühe haben, rein deduktiv alle Dinge zu erklären, weil sie sich von vornherein in einem Prinzip, das der Begriff aller Begriffe ist, den ganzen Bereich des Wirklichen und des Möglichen gegeben hat. Aber diese Erklärung wird vage und hypothetisch bleiben, diese Einheit künstlich, und diese Philosophie ließe sich ebenso gut auf eine Welt anwenden, die von der unseren ganz verschieden ist. Wieviel lehrreicher würde eine wahrhaft intuitive Metaphysik sein, die dem Wellengang des Wirklichen folgt? Sie würde nicht auf einmal die Gesamtheit der Dinge umfassen, aber für jedes gäbe sie eine Erklärung, die genau darauf zugeschnitten wäre. Sie würde nicht damit beginnen, die systematische Einheit der Welt zu definieren oder zu beschreiben: wer weiß, ob die Welt tatsächlich einheitlich ist? Nur die Erfahrung wird das sagen können, und wenn sie existiert, so wird die Einheit am Ziel der Untersuchung als Ergebnis erscheinen; es ist unmöglich, sie gleich am Anfang als Grundsatz aufzustellen. Es wird übrigens eine reiche und volle Einheit sein, die Einheit einer Kontinuität, die Einheit unserer Wirklichkeit, und nicht diese abstrakte und leere Einheit, Ausfluß einer höchsten Verallgemeinerung, die ebensogut diejenige einer beliebigen möglichen Welt sein könnte. Allerdings wird die Philosophie dann eine neue Anstrengung für jedes neue Problem erfordern. Keine Lösung wird sich geometrisch aus einer anderen ableiten lassen. Keine wichtige Wahrheit wird sich ergeben durch eine bloße Schlußfolgerung aus einer schon gewonnenen Wahrheit. Man wird darauf verzichten müssen, in einem Prinzip virtuell die universale Wissenschaft zu umspannen.

Die Intuition, von der wir sprechen, bezieht sich also vor allem auf die innere Dauer. Sie erfaßt eine Aufeinanderfolge, die keine Nebeneinanderstellung ist, ein Wachstum von innen her, die ununterbrochene Verlängerung der Vergangenheit in eine Gegenwart hinein, die ihrerseits in die Zukunft eingreift. Es ist die direkte Schau des Geistes durch den Geist. Nichts schiebt sich mehr dazwischen, keine Brechung der Strahlen durch das Prisma, dessen eine Fläche der Raum und dessen andere die Sprache ist. An Stelle von starren Zuständen, die sich nur äußerlich berühren und einer Reihe von nebeneinander gesetzten Worten entsprechen, tritt hier die unteilbare und daher substantielle Kontinuität des inneren Lebensstromes. Intuition bedeutet also zunächst Bewußtsein, aber ein unmittelbares Bewußtsein, eine direkte Schau, die sich kaum von dem gesehenen Gegenstand unterscheidet, eine Erkenntnis, die Berührung und sogar Koinzidenz ist. Es ist zudem ein erweitertes Bewußtsein, das gleichsam die Schranken des Unterbewußten vorübergehend durchbricht und in rascher Folge von Erhellung und wiederkehrendem Dunkel uns dieses Unterbewußte inne werden läßt. In Widerspruch mit der strengen Logik bestätigt sie, daß, so sehr auch das Psychische zum Bewußtsein gehören mag, es nichtsdestoweniger ein Unterbewußtsein gibt. Geht sie nicht noch weiter? Ist sie nur die Intuition unserer selbst? Zwischen unserem Bewußtsein und dem der anderen ist die Trennung weniger scharf als zwischen unserem Körper und den anderen Körpern, denn der Raum allein bewirkt die scharfen Abgrenzungen. Die unreflektierte Sympathie und Antipathie, die oft so hellsichtig sind, bezeugen eine mögliche gegenseitige Durchdringung der menschlichen Bewußtseinssphären. Es gäbe also Erscheinungen psychologischer Osmose. Die Intuition würde uns im allgemeinen in die Bewußtseinswelt eindringen lassen. — Aber sympathisieren wir allein mit bewußten Wesen? Wenn jedes lebende Wesen geboren wird, sich entwickelt und stirbt, wenn das Leben eine Entwicklung und die Dauer hier eine Wirklichkeit ist, gibt es dann nicht auch eine Intuition des Lebendigen und folglich eine Metaphysik des Lebens, die über die Wissenschaft des Lebendigen hinausginge? Gewiß, die Wissenschaft wird uns immer besser die Physikochemie der organisierten Materie erschließen, aber die tiefere Ursache der Organisation, von der wir wohl einsehen, daß sie weder in das Begriffsschema des reinen Mechanismus, noch in dasjenige der eigentlichen Finalität paßt, daß sie weder eine Einheit, noch distinkte Mannigfaltigkeit ist, sodaß unser Verstand sie schließlich immer durch einfache Negation charakterisiert, — dringen wir nicht zu ihr vor, indem wir durch das Bewußtsein den Lebensschwung, der in uns ist, erfassen? — Gehen wir noch weiter. Außerhalb des Organischen erscheint uns die anorganische Materie zweifellos als zerlegbar in Systeme, über die die Zeit hinweggleitet, ohne in sie einzudringen, Systeme, die von der Wissenschaft abhängen und auf die sich der Verstand bezieht. Aber das materielle Universum als Ganzes nötigt unserem Bewußtsein die Spannung des Wartens auf. Es befindet sich selbst in dieser Spannung. Ob es mit dem Geist durch seinen Ursprung oder durch seine Funktion verbunden ist, in einem wie im anderen Fall gehört alles, was es an wirklicher Veränderung und Bewegung enthält, in den Bereich der Intuition. Wir glauben bestimmt, daß die Idee des Differentials oder vielmehr der Fluktion der Wissenschaft durch eine Vision dieser Art eingegeben wurde. Metaphysisch ihrem Ursprung nach, ist sie wissenschaftlich geworden in demselben Maße, wie sie exakt wurde, d. h. in statischen Symbolen auszudrücken war. Kurz, die reine Veränderung, die wirkliche Dauer ist etwas Geistiges oder von Geistigkeit Durchdrungenes. Die Intuition ist das, was den Geist, die Dauer, die reine Veränderung erfaßt. Da ihr eigentliches Gebiet der Geist ist, möchte sie in den Dingen, sogar in den materiellen, ihren Anteil an der Geistigkeit ergreifen, — wir würden sagen, an der Göttlichkeit, wenn wir nicht wüßten, was sich noch an Menschlichem mit unserem selbst gereinigten und vergeistigten Bewußtsein vermischt. Diese Beimischung des Menschlichen bewirkt gerade, daß die Anstrengung der Intuition sich in verschiedenen Höhenlagen, an verschiedenen Punkten vollziehen und in den verschiedenen Philosophien zu Ergebnissen führen kann, die nicht miteinander zusammenfallen, wenn sie auch keineswegs unversöhnbar sein mögen.

Man verlange also von uns keine einfache und geometrische Definition der Intuition. Es wird zu leicht sein, zu zeigen, daß wir das Wort in Bedeutungen nehmen, die sich nicht mathematisch eine aus der anderen ableiten lassen. Ein bedeutender dänischer Philosoph hat deren vier angegeben. Wir würden unsererseits mehr finden.1) Von dem, was nicht abstrakt und konventionell, sondern reell und konkret ist und noch vielmehr von dem, was nicht aus bekannten Komponenten zusammensetzbar ist, was niemals aus dem Ganzen der Wirklichkeit, weder durch den Verstand noch durch die Auffassung unserer Sinne, noch durch die Sprache herausgeschnitten worden ist, davon kann es nur eine Vorstellung geben, wenn man es von vielfältigen, sich ergänzenden und nicht gleichwertigen Blickpunkten her beleuchtet. Gott bewahre uns, daß wir das Kleine mit dem Großen, unsere Anstrengung mit der der großen Denker verglichen. Aber die Verschiedenheit der Funktionen und Aspekte der Intuition ist nichts neben der Vielzahl der Bedeutungen, die die Worte „Essenz“ und „Existenz“ bei Spinoza, oder die Begriffe „Form“, „Potenz“, „Aktus“ usw. bei Aristoteles haben. Gehen Sie die Liste der Bedeutungen des Wortes εἶδος durch im Index Aristotelicus: Sie werden erkennen, wie sehr sie voneinander abweichen. Wenn man unter ihnen zwei näher betrachtet, die genügend weit voneinander entfernt sind, so scheinen sie sich fast auszuschließen. Sie schließen sich aber nicht aus, weil die Zwischenglieder der Bedeutungsübergänge sie untereinander verbinden. Gibt man sich die notwendige Mühe, um das Ganze zu erfassen, so bemerkt man, daß man im Wirklichen ist und es nicht mit einer mathematischen Wesenheit zu tun hat, die ihrerseits durch eine einfache Formel zusammengefaßt werden kann.

Dennoch gibt es eine Grundbedeutung: intuitiv denken heißt in der Dauer denken. Der Verstand geht gewöhnlich aus vom Unbewegten und rekonstruiert recht und schlecht die Bewegung durch nebeneinander gesetzte unbewegliche Punkte. Die Intuition geht von der Bewegung aus, setzt sie oder vielmehr erfaßt sie als die Wirklichkeit selber und sieht in der Unbeweglichkeit nur eine Abstraktion, gleichsam eine Momentaufnahme unseres Geistes. Die Intelligenz hat es für gewöhnlich nur mit Dingen zu tun und versteht darunter etwas Statisches und macht aus der Veränderung ein Akzidenz, das sich den Dingen als etwas Äußerliches noch hinzufügt. Für die Intuition ist die Veränderung das Wesentliche: was das Ding angeht, wie es der Verstand auffaßt, so ist es nur ein Querschnitt im Fluß des Werdens, den unser Geist als Ersatz für das Ganze genommen hat. Der Gedanke stellt sich gewöhnlich das Neue vor als eine neue Anordnung von vorher existierenden Bestandteilen, für ihn geht nichts verloren, entsteht aber auch nichts Neues. Intuition, mit einer Dauer verbunden, bedeutet inneres Wachstum, sie gewahrt in ihr eine ununterbrochene Kontinuität von unvorhersehbarer Neuheit, sie sieht, sie weiß, daß der Geist über sich selbst hinaus zu wachsen vermag, daß die wahre Geistigkeit gerade darin besteht, und daß die vom Geist durchdrungene Wirklichkeit Schöpfung ist. Die gewöhnliche Arbeit des Denkens ist leicht und kann beliebig fortgesetzt werden. Die Intuition dagegen ist mühsam und kann nicht dauern. Ob es sich um verstandesmäßiges Denken oder Intuition handelt, immer benutzt das Denken ohne Zweifel die Sprache, und wie jedes Denken wird sich die Intuition schließlich auch in Begriffen niederschlagen: Dauer, qualitative oder heterogene Mannigfaltigkeit, Unterbewußtsein, — sogar Differential, wenn man den Begriff in seiner anfänglichen Bedeutung nimmt. Aber der Begriff, der verstandesmäßigen Ursprungs ist, ist ohne weiteres klar, zum mindesten für einen Geist, der eine genügende Anstrengung machen könnte, während die Idee, die aus der Intuition hervorgeht, gewöhnlich im Anfang dunkel ist, welches auch unsere Anstrengung des Denkens sein möge. Es gibt nämlich zwei Arten von Klarheit.

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9783863935283
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