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Читать книгу: «Hema - Das Herz einer indischen Löwin», страница 2

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Ich sagte nichts. In meinem Kopf rotierte es. Was erlaubte sich diese Frau? Sie hatte keine Ahnung, wer ich war, wie mein Leben aussah, was ich tat. Und anscheinend hatte sie auch keinerlei Ahnung, was ich wirklich hatte oder was in mir gerade vorging. Ich war wütend, richtig wütend. Auf diese Frau, auf den ganzen Tag und vor allem auf mich selbst. Ich löste jedes Problem selber, egal wie groß es auch schien, ich fand für alles eine Lösung und tat selber immer alles, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Ich wollte die Ambulanz, damit sie mich retten konnte, weil ich dachte, ich würde hier sterben. Weil ich Angst hatte, dass meine Familie mich heute verlieren würde. Und das Schmerzmittel in dieser Infusion hatte auch noch nicht gewirkt. Es hat nichts gebracht, dass die da waren. Das Einzige, was ich davon hatte, war wohl bald eine hohe Rechnung von der Krankenkasse. Und da ich nie zum Arzt musste, weil ich immer gesund war, war somit die ganze Jahresfranchise ausstehend, welche ich nun selber bezahlen musste, toll.

Ich sah einen der Sanitäter in unsere Küche gehen und sich dort suchend umschauen. Mein Mann folgte ihm und wurde gefragt, ob ich irgendwelche Medikamente einnahm, ob ich schon länger mit psychischen Problemen zu tun hätte und ob ich eine Psychologin hätte, welche man kontaktieren könnte. Dieses Szenario war wie in einem Kriminalfilm. Die Leiche, das war wohl ich, da ich mich auch genau so fühlte, lag irgendwo am Boden, in diesem Falle draußen auf unserem Sitzplatz, und nun traf die Polizei oder eben hier die Ambulanz ein und suchte nach der Mordwaffe oder der Ursache für den für alle überraschenden und unerklärbaren Tod. Ich nahm keine Medikamente. Ich hatte noch nie psychische Probleme. Die Wut, die in mir brodelte, konnte man sich kaum vorstellen. Wütend darüber, dass fremde Menschen sich ein Urteil über mich und mein Leben bildeten, kamen mir wieder die Tränen.

Natürlich, das musste ich zugeben, war ich nicht glücklich. Schon länger nicht. Ich wusste nicht, seit wann, und ich wusste nicht genau, an welchem Tag ich das genau festgestellt hatte. Irgendwann im Frühling vielleicht, nach der Geburt von Leon. Ich war oft traurig und Dinge, die ich früher, auch mit einem Kind, mühelos erledigt hatte oder angegangen war, fielen mir auf einmal schwer. Ich hatte das starke Bedürfnis, alleine sein zu wollen. Weit weg von meinem Leben, das ich lebte, und von den Menschen, die um mich herum waren. Das war auch der Grund, weshalb ich für ein Wochenende in einem Hotel wohnte. Dies nicht, weil ich nicht zu Hause sein wollte oder von meiner Familie getrennt, sondern, weil ich einfach alleine sein wollte. Was schlussendlich auch der Grund dafür war, dass ich nach vielen Ermutigungen von Familie und Freunden den Schritt gewagt hatte, einen ersten Termin bei einer Psychologin wahrzunehmen. Ein Schritt, welcher mir extrem viel Mut gekostet hatte. Denn diesen Schritt zu gehen, bedeutete für mich, dass ich das erste Mal selber keine Lösung für mein Problem mehr hatte, dass ich Hilfe brauchte. Ich war überzeugt, dass, wenn ich ein paar Mal dort war, meinen Kummer von der Seele gesprochen hätte, alles wieder gut war und wieder so, wie es immer war. Obwohl ich das selber nie erleben wollte, wusste ich, dass es viel mehr Menschen gab, als man dachte, die einen Psychologen aufsuchten, um ein Problem oder, wenn schlimmer, auch eine Krise zu bewältigen. Ich tat es eigentlich nur, damit mein Umfeld aufhörte, mir ständig zu sagen, dass ich mich verändert hatte und ich endlich mit jemanden reden sollte. Ich wusste, sie meinten es gut, sie wollten mir helfen. Alle wollten mir helfen. Doch ich wollte keine Hilfe, ich brauchte keine Hilfe. Ich hatte noch immer alles alleine geschafft. Schließlich hatte ich als kleines Mädchen den Weg von Indien in die Schweiz auf mich genommen. Hatte mich in ein neues Land mit einer anderen Kultur und einer neuen Sprache gewagt. Ich konnte auch bestens damit umgehen, dass ich als dunkelhäutiges Mädchen in fast jeder Situation auffiel und nach meinem ursprünglichen Geburtsort gefragt wurde. Was berechtigt also fremde Menschen aufgrund von Herzschmerzen und Sauerstoffmangel, und vor allem vor meinen beiden Kindern, zu urteilen, dass ich jetzt eine Panikattacke hätte, was auch immer das zum Teufel nochmal überhaupt sein sollte? Und die Frage nach Medikamenten und psychischen Problemen war für mich dann noch das Beste am Ganzen. Bei der Frage, ob in meiner Familie psychische Erkrankungen vorkämen, gab ich wie zuvor die gleiche Antwort, dass ich adoptiert war und ich es deshalb nicht wusste. Bestätigung genug, dass sie mir vielleicht doch nicht zugehört hatten. Einige Minuten vorher war es die Frage nach psychischen Problemen, jetzt war die Formulierung bereits bei psychischer Erkrankung angelangt. Ich konnte nicht mehr. Heiße Tränen liefen mir die Wangen hinunter. Dennoch versuchte ich, ruhig zu atmen, langsam und bewusst, wie es der Sanitäter mir sagte. Ich wusste, ich musste das jetzt einfach überstehen. Alleine wieder einmal, wie so manches in meinem Leben, so, dass sie dachten, es wäre alles wieder gut und ich hätte mir das alles nur eingebildet. Und vorgetäuscht, damit sie jetzt schnell wieder gehen würden.

In diesem Moment sah ich eine Nachbarin auf dem Balkon. Sie schaute, ohne eine Reaktion zu zeigen, hinunter. Natürlich erschrickt man im erstem Moment, wenn eine Ambulanz vor dem Hause steht und man sieht, dass sich vier Rettungssanitäter um die Nachbarin kümmern. Wenn sie daliegt, versehen mit diversen Schläuchen für Stauerstoff, Flüssigkeit und Schmerzmittel, und ein großer Kasten daneben, welcher piepsend den Herzschlag überwacht. Und dennoch, wo blieb der Anstand, wo der Respekt und wo blieb die Privatsphäre dem anderen gegenüber? Zwei der Sanitäter begannen ihre Sachen wieder in ihren Koffer einzupacken. Sie waren zum Aufbruch bereit. Ich war erleichtert. „Wir gehen jetzt“, sagte die leitende Sanitäterin und hielt mich am Arm. „Schaffen Sie es alleine oder sollen wir ihnen helfen?“ Sie sah mich fragend an. Wieso waren die Schläuche immer noch an mir und weshalb sollte sie mir hochhelfen? Ich war irritiert. Sie sagte doch, dass sie gehen würde. Erst dann kapierte ich, dass sie mich mitnehmen wollten. „Es ist ja alles gut, haben Sie gesagt, also kann ich hier bleiben“, hatte ich trocken geantwortet. Sie wollten sich mein Herz doch nochmals genauer anschauen und ich sollte im Spital mit dem Oberarzt sprechen. Mir wurde wieder schwindlig und ich stellte erst in diesem Moment fest, dass es die letzten Minuten eigentlich wieder besser war mit den Kreislaufproblemen. Ich wollte auf keinen Fall durch das Wohnzimmer gehen. Meine Kinder sollten mich nicht, wie ein Weihnachtsbaum geschmückt, mit Sauerstoff und Infusion weggehen sehen. Mein Mann wollte mir versichern, dass er nachkommen würde. Aufgrund der Situation mit Corona wurde ihm jedoch nicht erlaubt, mit- oder nachzukommen. Die Sanitäter halfen mir dabei, aufzustehen, durch den Garten und über unsere selbst kreierte Plattentreppe hinunter auf den Parkplatz zu gelangen. Sie hoben mich auf die Trage und schnallten mich an. Ich fühlte mich schwach, ausgeliefert und sehr hilflos. Das Piepsen auf dem Herzüberwachungsmonitor wurde wieder lauter. Ich dürfte mich nicht aufregen, dass sei nur so laut, weil mein Herzschlag schneller wäre und ich müsste mir keine Sorgen machen. Und sie hätten mich nur angeschnallt, damit ich mich im Ambulanzwagen nicht verletzten könne oder von der Trage fallen. Es würde alles gut werden. Ich hörte wieder das Pfeifen im Ohr und war wieder kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Bevor sie mich gemeinsam in den Wagen hochheben konnten, mussten sie tatsächlich einem weiteren Nachbarn sagen, dass er von der offenen Türe des Fahrzeugs wegtreten solle. Ein anderer Nachbar stand auf seinem Balkon und schaute hinunter. Er machte sich nicht die Mühe, sein Schauen zufällig wirken zu lassen, nein, er verharrte an Ort und Stelle und sah zu. Es war mir peinlich. Sie dachten bestimmt alle, ich hätte Corona. Auf der Fahrt ins Spital konnte ich nicht aufhören, zu weinen. Ich wimmerte leise vor mich hin. Ich hörte mir selber zu und wusste nicht, ob ich Mitleid mit mir selber hatte oder ob es einfach nur grässliche Scham war. Ich schämte mich, dass ich einen solchen Aufwand betrieb und das, obwohl sie sagten, es wäre alles gut. Ich schämte mich, weil ich danach eine hohe Arztrechnung zahlen musste. Ich schämte mich, weil ich nicht bei meinen Kindern bleiben konnte, und ich erinnerte mich ebenfalls, dass ich jetzt eigentlich die Wäsche waschen wollte, welche ich bereits gestern Abend vorsortiert hatte. Ich hatte mich im Wäschekalender im Keller eingetragen.

Im Spital angekommen, wurde ich von der Trage auf ein Spitalbett umgelegt und erhielt nun auch eine Schutzmaske. Wie konnte man mir eine solche Maske aufzwingen, unter welcher ich noch weniger Luft bekäme? Es ging mir dabei nicht darum, dass ich mich gegen das Tragen der Maske im Kampf gegen das Coronavirus weigern wollte, ich hielt mich stets an alle Vorschriften. Aber in diesem Moment, in dem ich dachte, dass ich aufgrund von Sauerstoffmangel sterben würde, fand ich die Maske dann doch sehr fragwürdig. Ich verstand nicht mehr viel. Ich sollte das Herz nochmals kontrollieren, den Oberarzt kurz sehen und dann würde ich sofort meinen Mann anrufen, damit er mich so rasch wie möglich wieder nach Hause holen konnte. Das war mein Plan. In der Notfallabteilung wurde ich in ein separates Abteil geschoben und der sterile, duschähnliche Vorhang zum Flur wurde zugezogen. Eine junge Frau kam herein und ersetzte die Infusion mit einem neuen Beutel. Die Schmerzmedikamente wollten noch immer nicht wirken. Ich hatte nach wie vor sehr starke Magenschmerzen. Ich riss mich jedoch zusammen, damit wir kurz miteinander sprechen konnten. Sie wollte wissen, wie hoch mein Gewicht war und ob ich genügend aß.

Ich sagte ihr, dass ich mein aktuelles Gewicht nicht kannte, da ich sehr selten bis fast nie auf einer Waage stand. Ich war schon immer sehr schlank und in meiner ganzen Kindheit und Jugendzeit bis kurz vor der Schwangerschaft mit Lilly hatte ich immer sehr viel Sport betrieben. Ich war im Leichtathletikverein, in einer Tanzgruppe, war viel Joggen und bis vor wenigen Jahren noch immer aktiv in einem Fußballverein tätig. Sport war mir immer sehr wichtig gewesen, nicht der Figur halber, sondern weil es mir mental guttat und Sport für mich sehr interessant war. Bis heute verfolgte ich am meisten jedoch Fußball. Seit 1998 bin ich Fan des italienischen Fußballclubs AS ROMA und war fasziniert vom Talent des römischen Fußballgottes Francesco Totti. Leider spielt Totti nicht mehr aktiv Fußball. Für mich gab es aber immer nur den einen wahren Captain der ROMA und das war nun mal Totti. Mein Vater zog mich früher immer auf, weil ich so ein begeisterter Fußballfan war und Totti so bewunderte und für ihn schwärmte. Ich hatte unzählige Fußballartikel und in meinem Zimmer zu Hause bei meinen Eltern die ganzen Wände damit tapeziert. Fotos und Zeitungsartikel, Fußballbilder, die sogenannten Paninibilder, und Schals, Trikots und andere Accessoires. Natürlich alle in den Farben der ROMA, der Giallorossi. Ich weiss immer noch, dass ich mein erstes Fußballtrikot von meinen Eltern geschenkt bekommen habe. Wir hatten es in Luino auf einem italienischen Markt gekauft. Wir waren wie sooft im Tessin in den Ferien, weil wir dort ein Ferienhaus hatten. Genauer gesagt, gehörte es meinen Großeltern. Wir verbrachten fast jede Ferien in der kleinen Ortschaft in den Hügeln von Bogno. Von dort aus war es nicht mehr weit über die Grenzen nach Italien. Und wie ein italienischer Markt es so an sich hatte, gab es dort alles, was man brauchen wollte und konnte. Mich interessierten dabei aber immer nur die Händler und Marktstände mit den Fußballtrikots. Dafür gab ich mein ganzes Taschengeld aus. Das war nicht viel, im Vergleich zu anderen in meiner Klasse. Ich war oft neidisch, weil meine Schulfreunde mehr Taschengeld besaßen. Irgendwann war ich jedoch froh darüber, denn so lernte ich schon sehr früh, mit Geld umzugehen.

Das war einer der Gründe, weshalb ich immer auf alles sparen konnte, ohne dabei Kredite auf mich zu nehmen und in Schulden zu geraten. Ich hatte auch noch nie eine Mahnung, geschweige denn eine Betreibung, und meine allererste Geldbuße aufgrund von Geschwindigkeitsübertretung hatte ich diesen Mai. Ein paar Wochen später wusste ich es dann doch etwas besser. Es war die Mrs. Perfektionismus in mir, welche mich zu diesem korrekten Verhalten gezwungen hatte und welche mir auch noch einen gewaltigen Stein in den Weg legen sollte.

Ich antwortete der Krankenschwester, dass ich heute zwar noch nichts gegessen habe, aber eigentlich sehr gerne esse, ich habe jedoch eine sehr gute Verbrennung. Eine Gewichtszunahme, welche mir bewusst war und die man mir auch ansah, verzeichnete ich nur, als ich mehrere Monate in Australien war und mich mehrheitlich von Bier und Fastfood ernährte, und selbstverständlich in den beiden Schwangerschaften. Dennoch, das musste ich wohl zugeben, hatte ich nach dieser zweiten Schwangerschaft etwas Mühe mit meinem Körper.

Ich wusste durchaus, dass eine Schwangerschaft dem Körper vieles zumutet, schließlich erschafft er dabei auch ein wundervolles Wesen. Und nach einer zweiten Schwangerschaft war es auch klar, dass der Körper etwas mehr Zeit brauchte, um sich wieder zu erholen. Diese Zeit wollte ich mir und meinem Körper aus irgendwelchen Gründen aber nicht geben. Ich wollte so schnell wie möglich wieder so schlank sein wie vorher. Aus diesem Grund hatte ich im Frühling, kurz nach der Geburt von Leon, bereits wieder mit intensivem Sporttraining zu Hause begonnen. In den letzten Wochen war ich jedoch sehr müde und hatte es deshalb wieder vernachlässigt. Ich fühlte mich nicht dick, so meine ich das nicht. Und das war ich ja auch nicht. Ich fühlte mich in meinem Körper einfach nicht mehr wohl und fand mich selber somit auch nicht mehr schön.

Die Krankenschwester informierte mich, dass der Oberarzt jetzt vorbeikäme und sie sich verabschieden würde. Und, dass sie mir vergewissern könne, dass ich auf keinen Fall dick sei. Müde lächelte ich sie an. Sie wollte höflich sein. Und ja, ich wusste ja, dass ich nicht dick war und ich seit der Geburt bereits sehr viel abgenommen hatte, sogar überdurchschnittlich viel in einer solch kurzen Zeit, was wiederum eher ungesund war. Von Zufriedenheit war ich jedoch noch weit entfernt. Sie zog den Vorgang hinter sich wieder zu und ich war wieder alleine. Ich starrte auf die gegenüberliegende kalte weiße Wand.

Ich fühlte mich erschöpft, müde vom ganzen Tag, obwohl ich noch nicht annähernd das getan oder erreicht hatte, was ich mir mit meiner heutigen To-do-Liste vorgenommen hatte. Ich bemerkte auch, dass diese Nervosität nicht mehr vorhanden war. Und auch das Gefühl der Enge beim Schlucken war weg. Nur noch die muskuläre Verspannung im Brustbereich, wie die leitende Sanitäterin das so schön bezeichnen wollte, war noch da. Die schmerzte sogar noch sehr. Die Magenschmerzen waren auch besser, das Schmerzmittel schien endlich seine Wirkung zu zeigen. Ich war ruhig. Ich fixierte einen etwas dunkleren Flecken an der Wand, vielleicht war es auch nur ein Schatten. Wovon, habe ich aber nicht nachvollziehen können.

Und in dieser Ruhe und Stille offenbarte sich mir ein mir unbekanntes und neues Gefühl. Die vielen Gedanken, welche sonst in meinem Kopf herumrasten, waren ausnahmsweise nicht da. Ich wusste gar nicht, worüber ich mir in diesem Moment gerade Gedanken oder Sorgen hätte machen sollen. Tatsächlich war ich damit gerade ein bisschen überfordert. Üblicherweise hatte ich immer etwas zu studieren, planen, überlegen oder abwägen. „Es ist okay“, sagte ich leise vor mich hin und im nächsten Augenblick fragte ich mich dennoch, was ich damit genau meinte. Was war okay? Und ich fühlte, dass es der Gedanke war, zu akzeptieren, dass dies nun mein Ende war. Meine Zeit war abgelaufen. Lilly und Leon würden ohne mich groß werden, ohne mich ihre ersten Erfahrungen mit dem Leben machen, ohne mich das erste Mal am Meer sein und ohne mich Fußball spielen. Ich war traurig und Tränen überkamen mich unaufhaltsam. Aber es war okay. Es musste wohl so sein, weil ich die Kraft nicht mehr hatte. Die Kraft, um ein Leben zu führen und dabei nicht zu wissen, ob ich glücklich war und was mir fehlte oder was ich brauchte. Ich hatte die notwendige Kraft einfach nicht mehr. Und somit war es in Ordnung. Heute, an diesem 4. Juli, war es also soweit. Und ich wusste, dass alles gut werden würde. Es waren sehr traurige und schlimme Gedanken und noch heftiger war das fremde Gefühl, dass ich etwas hinnahm, ohne mich zu fragen, was ich tun musste, damit es anders würde. Diese Ruhe hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gespürt. Ein Moment, in dem ich nichts tun musste, niemand hatte etwas von mir erwartet, ich wurde nichts gefragt und um nichts gebeten, ich hatte nichts zu tun und da war kein Gedanke, welcher mich hätte unter Druck setzen können. War es das Gefühl, das Menschen kurz vor dem Sterben begleitet? Wenn man sein Ende ohne Wenn und Aber hinnimmt und akzeptiert?

In diesem Moment kam ein Mann in langem, weißem Kittel und setzte sich auf den Stuhl an meinem Bettrand. Er war sehr jung und ich überlegte mir, in welchem Alter er bereits sein Medizinstudium abgeschlossen haben musste, um jetzt schon den Titel des Oberarztes zu erlangen. Er kontrollierte nochmals mein Herz, es war nach wie vor alles in Ordnung. Er reichte mir eine kleine weiße Schmelztablette. Sie würde mir helfen, etwas zur Ruhe zu kommen, und wenn ich mich müde fühlen würde, dürfte ich mich dann zu Hause etwas hinlegen. Er legte mir noch ein durchsichtiges Tütchen auf den Tisch und fügte hinzu, dass dies Temesta sei und er dieses in einer solchen Situation immer mitgebe. Ich konnte erkennen, dass darin nochmals zwei weitere Tabletten enthalten waren. Ich würde heute also doch nicht sterben und durfte wieder nach Hause. Das war’s. Er ging und ich durfte noch einen Moment bleiben. Ich betrachtete die kleine weiße Tablette in meiner Hand. Ich war ein absoluter Gegner von Medikamenten. Ich nahm nur während der Schwangerschaft die notwendigen Medikamente wie Folsäure, Eisen und Vitamine für meine Kinder in meinem Bauch. Auch wenn ich Bauch- oder Kopfschmerzen hatte, griff ich nur im Alleräußersten zum Schmerzmittel. Außerdem nahm oder tat ich selten etwas, vorauf ich nicht vorbereitet war. Ich wollte stets wissen, weshalb etwas so war oder helfen sollte, was mögliche Konsequenzen oder in diesem Falle eventuelle Nebenwirkungen sein konnten.

Ich war auch absolut kritisch gegenüber Drogen. Nicht, dass ich nicht die eine oder andere Erfahrung damit gemacht hätte. So war es nicht mal in meinem kleinen, perfekten Leben. Ich hatte eine ziemlich rebellische Jugend. Wieso das so war, wurde mir erst zu einem viel späteren Zeitpunkt bewusst. In diesem Moment wollte ich einfach nur diese Ruhe und Gelassenheit genießen, welche ich so intensiv verspürte. Ja, das war genau das, was auch Drogen oder bestimmte Medikamente mit einem machen konnten: Gefühle und Stimmungen verändern. Der Vorhang ging wieder auf. Eine neue Krankenschwester kam herein und entfernte mir wortlos die Infusion und klebte mir ein weißes Pflaster auf die Einstichstelle der Nadel. Dann ging sie wieder. Ich richtete mich auf und erhob mich. Das Tütchen mit den beiden weiteren Tabletten steckte ich mir ein. Ich konnte sie ja noch immer wegwerfen. Falls ich sie jedoch brauchte, würde ich froh sein, sie bei mir zu haben. Vorsichtig löste ich die kleine Schmelztablette in meiner Hand aus ihrer Verpackung und das Temesta zerging auf meiner Zunge.

Mein Mann holte mich ab. Zu Hause war alles wieder gut. Ich war ruhig, gelassen und konnte mir nicht mehr vorstellen, was an diesem Tag alles passiert war und weshalb ich alles so intensiv erlebt hatte. Ich nahm an, dass es die Wirkung dieses Temestas war. Mein Kaffee, den ich heute Morgen zwar hingestellt hatte, aber nicht mehr trank, weil ich ihn aus lauter Stress vergessen hatte, schüttete ich nun weg. Irgendwann wurde ich sehr müde und schläfrig. Ich legte mich hin und schlief acht Stunden am Stück durch. Ich war wie im Koma. Wenn eines der Kinder gerufen hätte, hätte ich vermutlich nichts davon gehört. Ich war weg.

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