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KAPITEL 2
ILLUSION
WIR EUROPÄER KÖNNEN UNS NUR SELBST HELFEN

Wir haben zu lange in der Illusion gelebt, dass die EU sich von selbst weiterentwickeln, dass der Handel den Wandel bringen und der Wohlstand den Frieden erhalten würde. Und dass die Jungen nicht mehr über Europa reden würden, weil sie es ja täglich leben. Was für ein Irrtum.

Gerade weil die offenen Grenzen selbstverständlich geworden waren, wurden sie bald nicht mehr so geschätzt wie zu Beginn, als der Abbau von Schlagbäumen noch ein Medienereignis war. Dazu kam eine Generation von Politikern, die historisch nicht unbedingt gebildet, jedenfalls aber persönlich in die Geschichte Europas nicht mehr involviert ist und das Zusammenleben in der EU emotionslos sieht, sogar eher als technokratische Aufgabe empfindet. Emotionen werden hingegen bewusst in den Nationalstaaten und den heimischen Medien eingesetzt, sie sind für viele Politiker ein Vehikel, um nationale Mehrheiten zu schaffen, anstatt den europäischen Zusammenhalt zu fördern. Und die Mehrheiten suchen sie oft nur, um die Macht mit einer kleinen Gruppe von Vertrauten zu genießen.

Einen Weckruf braucht, wer andernfalls zu lange schläft. Oder wer aufstehen muss, weil er viel zu tun hat. Beide Gründe treffen auf Europa zu, also genau genommen auf die Europäische Union. Sie hat schon lange einen weiteren Weckruf nötig, weil sie bereits einiges verschlafen hat. Dabei schläft die EU oft schlecht und wird manchmal von Alpträumen wie dem Austritt eines Mitglieds geplagt. Ob die Folgen von Covid-19 als Weckruf ausreichen, werden wir erst sehen. Dabei wird das Bild vom „Weckruf für Europa“ schon länger und immer wieder verwendet, wenn eine neue Herausforderung auf die EU zukommt.

Hugo Portisch hat im Jahr 2017 aus aktuellem Anlass ein Buch geschrieben: Leben mit Trump, ein Weckruf. Donald Trump und seine Unberechenbarkeit mögen uns in Europa doch endlich dazu bringen, auf uns selbst zu schauen, so der Appell des großen Publizisten. Aber: Weder das Selbstbewusstsein noch die Selbstverteidigungskräfte der Europäer sind seither gestiegen.

Die Friedrich Ebert Stiftung hat im Jahr 2019 erhoben, dass sich die Europäer nicht sicher fühlen würden und sogar Krieg wieder für möglich hielten, das müsse doch ein Weckruf sein, wurde beim Forum Alpbach im Herbst desselben Jahres erörtert. Dieses Thema beschäftigt also schon länger Politik und Publizistik – ohne sichtbares Ergebnis oder gar sinnvolle Konsequenzen.

Angela Merkel nannte im Jänner 2020 in Davos den Brexit einen „Weckruf für Europa“, da hatte sich die Union bereits mit dem Ausscheiden der Briten abgefunden, aber insoweit bewährt, als die EU bei den Verhandlungen mit der britischen Regierung – zuerst mit Theresa May und dann mit Boris Johnson – geschlossen auftrat. Immerhin. Aber aus irgendeinem Grund, den wir herausfinden müssen, üben sich die Europäer, vor allem ihr politisches Führungspersonal, in Vorsicht bis hin zur Passivität, die ihnen mehr und mehr schadet. Nirgendwo ist Aufbruchstimmung zu spüren, stattdessen sind mancherorts Rückschritte zu verzeichnen. Die Führungen in Deutschland und Frankreich, früher „der Motor der EU“, ließen jahrelang völlig aus, bis Merkel und Macron die Initiative ergriffen. Fairerweise wollen wir zugeben, dass sie es nicht leicht haben. Wenn Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing in den 1970er Jahren kooperierten oder anschließend Helmut Kohl und François Mitterand, dann fühlten sich andere Länder manchmal überrollt. Wenn Angela Merkel weder mit Nicolas Sarkozy noch mit François Hollande zusammenfand, war es auch nicht recht. In der Pandemie zeigten Merkel und Emmanuel Macron, dass die beiden Staaten sehr viel bewegen können, wenn sie einig auftreten. Ihr Vorschlag zum großen Paket der 500 Milliarden führte schnell zu einer Initiative der Kommission, die 250 Milliarden draufpackte. Vier kleine Staaten, die sich „frugal“ nannten, aber unwillig wirkten, haben reagiert, aber sich am Ende – beim langen EU-Gipfel im Juli – zumindest eingeschränkt solidarisch gezeigt.

Schon vor der Krise machten sich Regierungen in Osteuropa ostentativ über die europäischen Werte lustig oder ignorierten sie. Beim Geldverteilen zur Bewältigung der Krise tauchte plötzlich die Frage auf, ob Ungarn und Polen nicht zuerst ihre mangelnde Rechtsstaatlichkeit korrigieren müssten, bevor sie Zuschüsse kassieren könnten. Die Krise als Katharsis. Und die notwendige Erweiterung um die Staaten des Westbalkan wurde von vielen Mitgliedstaaten allzu lange nicht ernst genommen. Zum Schaden der Menschen in diesen Ländern, die nach Jahrzehnten von Kommunismus und Kriegen so sehr an Europa glauben, aber auch zum Schaden der EU. Auch hier schärfte die Krise den Blick, weil China sich als großzügiger Spender von Gesundheitsmaterial feiern ließ und dann klar wurde, dass die geschickten Planer aus Peking schon einen Teil der Infrastruktur des Balkan beherrschen.

Das Corona-Virus kam mit einer Wucht über ganz Europa, auf die niemand vorbereitet war. Dabei war beim Ausbruch Ende Dezember 2019 in Wuhan in der chinesischen Provinz Hubei schon absehbar, dass die ganze Welt davon betroffen sein würde. Andere Infektionen hatten Jahrhunderte davor schon ohne Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe den Erdball erobert. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis auch europäische Bürger, unser Wirtschaftssystem und unser ganzes Leben darunter leiden würden. Ob es das generelle Überlegenheitsgefühl des Westens war oder die Hoffnung auf das bessere Gesundheitssystem – das Virus wurde lange unterschätzt und erwischte uns weit stärker, als wir uns das hätten vorstellen können, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausprägungen quer über den Kontinent.

Die Illusion der falschen Bedrohungen

„Ein Europa, das schützt“ war die gefällige Losung, als Österreich am 1. Juli 2018 den Ratsvorsitz der EU übernahm. Die damalige türkis-blaue Regierung mit Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) war gerade mal ein halbes Jahr im Amt, die beiden Parteien waren sich in der Öffentlichkeit in allen Fragen einig. Nach vielen Jahren, in denen die große Koalition aus SPÖ und ÖVP den permanenten Konflikt lebte, war der Slogan „Nicht streiten“ schon ein kleines Erfolgsrezept. Der Ibiza-Skandal brachte dieser Koalition im Mai 2019 das frühe Ende. Heftige Nachwirkungen spürt das Land nun im Ibiza-Untersuchungsausschuss, in dem es um möglicherweise käufliche Gesetze und fragwürdige Postenvergaben geht. Bis zur Sommerpause hat der Ausschuss des Parlaments jedenfalls einige Fälle von Postenschacher und noch mehr Erinnerungslücken bei führenden Politikern hervorgebracht.

Für Kurz und Strache war die Parole vom „schützenden Europa“ ein deutlicher Hinweis auf ihre Politik der geschlossenen Grenzen der Europäischen Union nach außen und, wenn aus ihrer Sicht notwendig, auch innerhalb der EU. Vor allem sollte signalisiert werden: Wir schützen euch vor Flüchtlingen und überhaupt Zuwanderern aller Art. In den offiziellen Verlautbarungen wurde das noch mit anderen Themen verbunden. So hieß die Zusammenfassung des Programms „Ein Europa, das schützt“ auf der Website www.eu2018.at:

„Der Zugang, den Österreich wählen wird, um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips. Die Europäische Union soll auf die großen Fragen fokussieren, die einer gemeinsamen Lösung bedürfen, und sich in kleinen Fragen zurücknehmen, in denen die Mitgliedstaaten oder Regionen selbst besser entscheiden können. Dadurch soll dem Motto der EU 'In Vielfalt geeint' Rechnung getragen werden. In diesem Sinne wird der österreichische Ratsvorsitz die effektive Schutzfunktion der EU insbesondere in drei Schwerpunktbereichen in den Vordergrund stellen:

•Sicherheit und Kampf gegen illegale Migration,

•Sicherung des Wohlstands und der Wettbewerbsfähigkeit durch Digitalisierung,

•Stabilität in der Nachbarschaft – Heranführung des Westbalkan/Südosteuropas an die EU.“

Das klang damals alles recht gut, aber zwei Jahre später, in der Corona-Krise, wurde klar, wie sehr die EU auf große Herausforderungen eben nicht vorbereitet war. Zum Teil, weil die Nationalstaaten etwa im Bereich der Gesundheit über die wesentlichen Kompetenzen verfügen, weiters weil die EU und die einzelnen Staaten viel zu wenig dafür taten, dass die im Programm angesprochenen Regionen über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg kooperieren, etwa durch gemeinsame Vorsorge für den Fall einer Pandemie. Auch im Bereich der Digitalisierung gab es keine wirklichen Anstrengungen, wodurch ein Informationssystem hätte aufgezogen werden können, und schließlich wurden in der Corona-Krise zunächst die künftigen Beitrittsländer am Balkan vergessen, was sich längerfristig rächen wird, etwa durch einen noch stärkeren Einfluss Chinas. Die Regierung in Peking bemühte sich etwa ganz ostentativ um Serbien und andere Balkanstaaten.

Der serbische Präsident Aleksandar Vučić rief Mitte März 2020 bei einer Pressekonferenz: „Es gibt keine Solidarität Europas. Nur China kann uns helfen.“ Vučić erklärte, er habe keine medizinische Ausrüstung von EU-Ländern bekommen, deshalb habe er einen Brief an den chinesischen Staatschef Xi Jinping geschrieben, den er als „Freund und Bruder“ ansprach. Die Lieferung chinesischer Hilfsgüter wurde in Belgrad als großes Fest der Völkerverbindung inszeniert. Kurz darauf schickte die EU-Kommission Ende März 38 Millionen Euro zur Unterstützung an die sechs Balkanstaaten. Die Bevölkerung erfuhr leider nur wenig von dieser Hilfe, da diese nicht in das Konzept der Regierungen passte und die EU-Kommission in ihrer Kommunikation viel zu zurückhaltend auftritt.

Aber zurück zum Programm der österreichischen Präsidentschaft von 2018. Es bestand also aus großen Worten und wenig Umsetzung – das war nicht unbedingt nur die Schuld der Wiener Regierung, sondern ein grundsätzliches Problem der komplizierten Organisation der EU, wo jeder Mitgliedstaat den Vorsitz ein halbes Jahr lang innehat und während dieser Zeitspanne wenig bewegen, aber für Propaganda verwenden kann. Und zwar für nationale Propaganda, versteht sich, nicht für ein geeintes Europa.

Die abgelehnte Hilfe der EU

Die EU-Kommission wirkt in Sachen Public Relations im Vergleich zu den nationalen Herolden wie eine blutige Amateurin. Oft versucht sie, den nationalen Emotionen mit rationaler Information zu begegnen, was nicht funktionieren kann. Die emotionale Erzählung über Europa hören wir nur selten. Die Regierungen der Nationalstaaten hingegen brüsteten sich mit ihren Aktionen, zunächst mit Gesundheitsmaßnahmen, dann mit den großen Geldspenden, die bei den Betroffenen mehr oder weniger gut ankamen. Die EU-Kommission zögerte zunächst, man sah die Präsidentin Ursula von der Leyen in einem Video, wie man sich richtig die Hände wäscht. Das war’s vorerst. Dabei hatten sich die oft geschmähten Beamten in Brüssel schon zu Beginn der Corona-Krise redlich bemüht, für alle Staaten gegen das Virus vorzusorgen. Aber sie taten das so zurückhaltend, dass dies erst viel später durch einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuters publik wurde. Ende März enthüllten deren Korrespondenten, dass die EU-Kommission bereits Ende Jänner vorgeschlagen hatte, gemeinsam Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräte zu beschaffen. Ende Jänner – das war einige Wochen vor Ausbruch der Krankheit in Europa. Über diese Maßnahmen wurde zunächst auf Beamtenebene gesprochen, wobei auch Österreich die Unterstützung der EU ablehnte. Anschließend fanden Sitzungen der Gesundheitsminister statt, auch da zeigte niemand Interesse. Laut Reuters notierte ein Beamter am 5. Februar 2020 in sein Protokoll: „Alles unter Kontrolle. Die Mitgliedstaaten sind auf hohem Niveau vorbereitet, die meisten haben Maßnahmen gesetzt.“ Reuters hat diese Protokolle genau gelesen. Zu dieser Zeit waren in der chinesischen Provinz Hubei bereits 60 Millionen Menschen isoliert, zwei Wochen später meldete Italien die ersten Krankheitsfälle. Die Protokolle zeigen, dass die Regierungen bei ihren Gesprächen erst ab März begriffen, welch dringender Handlungsbedarf bestand. Auf einmal versuchte jede nationale Führung für sich, auf dem Weltmarkt Schutzmasken und Beatmungsgeräte zu organisieren, obwohl die EU-Kommission in Brüssel laut Protokollen weiter bemüht gewesen war und am 28. Februar 2020 angeboten hatte, gemeinsam Material zu kaufen. „Kein Land hat um Unterstützung bei zusätzlichen Gegenmaßnahmen gebeten“, wurde in der Kommission notiert. Das Buch Corona – Chronologie einer Entgleisung analysiert auch die Rolle der EU und weist nach, dass Brüssel ab dem 29. Jänner 2020 auf die Pandemie hingewiesen hat.

Da ist es schon erstaunlich, dass Bundeskanzler Sebastian Kurz am 29. März 2020 in der Kronen-Zeitung meinte, die EU müsse sich eine kritische Diskussion und Auseinandersetzung gefallen lassen: „Es kann nicht sein, dass wir zwei Wochen lang komplett auf uns alleine gestellt darum kämpfen müssen, dass ein LKW mit bereits von uns bezahlten Schutzmasken an der deutschen Grenze hängt, weiterfahren darf und gleichzeitig unsere Kontrollen zu Italien kritisiert werden.“ Eine Union agiert anders, und verantwortungsvolle Politiker handeln früher und suchen nicht nachher nach solchen Ausreden. Freilich funktionierte während der Krise in vielen Fällen die europäische Solidarität, aber sämtliche guten Beispiele wurden sofort von nationalen Akteuren für sich in Anspruch genommen, doch dazu später noch mehr, auch zur Rolle der Medien in diesen Monaten.

Der Warner Bill Gates

Deutliche Warnungen vor einer Pandemie kamen schon viel früher, lange bevor sich das Corona-Virus um den ganzen Erdball verbreitete, aber die Politik in Europa und auf anderen Kontinenten wollte nichts von dem hören, womit sich Experten seit Jahren beschäftigen. Bill Gates, der schon länger Geld zur Erforschung von Infektionskrankheiten spendet, hat bereits bei der auf neue Technologien spezialisierten TED-Konferenz in Vancouver im März 2015 sehr klar und für jedermann verständlich vor weltweiten Seuchen gewarnt. Niemand war auf die Bedrohung durch eine Pandemie vorbereitet, das kann und muss man den Nationalstaaten ebenso vorwerfen wie der EU, die „uns schützen“ will.

Bill Gates wusste es schon damals, als er mit einem grünen Fass auf die Bühne kam: „Das war die Notfallausrüstung, die wir im Keller hatten, als ich ein Kind war. Mit Wasserflaschen und Konservendosen in diesem Fass haben wir uns auf einen Atomkrieg vorbereitet.“ Die atomare Gefahr sehe er nicht mehr, sagte Gates, dann kam der Gründer von Microsoft schnell darauf zu sprechen, was uns nun bedroht: „Wenn in den nächsten Jahrzehnten irgendetwas über 10 Millionen Menschen töten wird, dann wird das eher ein hochinfektiöses Virus als ein Krieg sein. Wir haben weltweit sehr viel Geld in die Abwehr von Raketen investiert, aber nur sehr wenig, um eine Epidemie zu stoppen.“ Gates führt als Beispiel den Ebola-Ausbruch im Jahr 2014 in Westafrika an, wo es trotz des Mangels an Daten und Ärzten gelungen war, die Seuche einzugrenzen. Ein wichtiger Grund dafür war, dass das Ebola-Virus nicht durch Luftpartikel übertragen wird. Aber, so meinte er, es werde ein Virus kommen, bei dem das wieder der Fall sein werde, wie bei der Spanischen Grippe, die im Jahr 1918 weltweit 33,3 Millionen Todesopfer gefordert hat. Auf eine ähnliche Herausforderung müssten wir uns jetzt wie auf einen Krieg vorbereiten, so Gates. Dann forderte der drittreichste Mensch der Welt folgende Maßnahmen: Verbesserung der Gesundheitssysteme in armen Ländern sowie medizinische Einsatztruppen, die mit dem Militär und dessen Logistik zusammenarbeiten würden. Außerdem müssten die Wissenschaftler „Germ Games“, also Simulationen der Ausbreitung durchführen, um sie besser verstehen zu können. Die Forschung würde viel Geld kosten, aber das sei bescheiden verglichen mit den 3 Billionen Dollar, die eine Pandemie kosten werde, abgesehen von den vielen Toten, die zu erwarten seien. Schließlich würde die gemeinsame Verbesserung des Gesundheitssystems mehr Gerechtigkeit auf der Welt schaffen. Er wolle seinen Talk als einen Weckruf verstanden wissen, so Gates. Doch dieser wurde nirgendwo gehört, auch in Europa nicht. Dafür wurde Bill Gates später von Verschwörern beschuldigt, er wolle mit Impfungen viel Geld verdienen. Als ob das die Sorgen des reichsten Mannes der Welt wären.

Anfang August 2020 wurde geschätzt, dass das Virus in Europa rund 200.000 Menschen getötet hat, wobei Großbritannien mit rund 46.000 die meisten Toten zu beklagen hatte, gefolgt von Italien (35.000), Frankreich (30.000) und Spanien (29.500). Die USA hatten zu diesem Zeitpunkt über 153.000 Corona-Tote zu verzeichnen, weltweit waren es 670.000, über 17 Millionen waren infiziert (Quelle: jhu.edu, Johns Hopkins University, auf deren Website die Zahlen täglich erneuert werden). Die Europäische Zentralbank (EZB) rechnete Ende April mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in der Eurozone um geschätzte zwölf Prozent. Die Corona-Pandemie war ein „symmetrischer Schock“, wie Angela Merkel öfter betonte. Sie hat alle Länder gleichermaßen bedroht. Aber dass sich die Wirtschaftskrise in den verschiedenen Teilen der EU unterschiedlich, also asymmetrisch auswirken würde, war auch bald klar.

Das Bild der EU

Wer oder was ist denn diese Europäische Union eigentlich? Oft einfach nur ein bewusst gesteuertes Missverständnis der nationalen Regierungen. Denn in vielen Fragen haben sie, die Staatsund Regierungschefs, die sich im Europäischen Rat treffen, die Entscheidungsgewalt. Aber wenn etwas nicht funktioniert, dann zeigen fast alle mit dem Finger auf Brüssel. Wenn es besonders schlicht hergeht, wird die Bürokratie verantwortlich gemacht, die zu kostspielig sei. Bei einer Sitzung des EU-Hauptausschusses im Jänner 2020 argumentierte Bundeskanzler Kurz, trotz Brexit würde die Brüsseler Bürokratie immer teurer. Er versuchte das auch mit Berechnungen zu unterlegen, die allerdings nicht stimmten. Fakt ist vielmehr: Die EU-Kommission muss für die nächsten sieben Jahre eine Steigerung der Verwaltungsausgaben um sieben Prozent kalkulieren, weil die Pensionskosten in den kommenden Jahren höher werden, wie auch in jeder nationalen Bürokratie. Für die Arbeit der Kommission wurde nur eine Steigerung um die Inflationsrate einberechnet. Seitenhiebe gegen „die Bürokraten in Brüssel“ waren und sind wir von der FPÖ oder der AfD gewohnt. Es ist erstaunlich, wie locker Kurz diese Sprüche übernimmt. Das war auch später so, als es um die Finanzierung des Recovery Programms nach der Pandemie ging (siehe Kapitel Geld, ab S. 85).

Die Wahrheit ist, dass für alle EU-Institutionen rund 50.000 Menschen arbeiten, also ein Beamter auf rund 10.000 Einwohner kommt. Kurz sprach sich bei diesem EU-Hauptausschuss auch gegen eine Erhöhung der Mittel für die Forschung aus. Genau dort werden wir aber dringend mehr Geld brauchen. Umgekehrt argumentierte er, dass er die Landwirtschaft mit nationalen Mitteln unterstützen werde, wenn es wegen eines geringen EU-Budgets weniger Geld aus Brüssel geben sollte.

Die EU ist praktisch für die nationale Politik. Wenn etwas schief geht, dann waren es „die in Brüssel“. Für Erfolge sind natürlich die eigenen hervorragenden Ideen und Handlungen zuständig. Diese Methode kann scheitern, wie wir beim Brexit gesehen haben. Premierminister David Cameron hat zwar gerne die Vorteile der EU betont, wenn er aber in seiner konservativen Partei unter Druck kam, hat er gegen Brüssel argumentiert. Beim Referendum wollte er dann eine Mehrheit erreichen, aber da waren „die Dämonen schon entfesselt“, wie in einem 2016 erschienenen, gleichnamigen Buch seines Pressesprechers Craig Oliver detailliert und eindrucksvoll geschildert wird. Wenn eine Institution immer für alles Negative verantwortlich ist, dann ist auch der Ruf nach der Beendigung eines solchen Verhältnisses verständlich.

Aber ein Blick auf den Globus zeigt, dass auf der Welt nur noch Mitspieler ernst genommen werden, die stark und selbstbewusst auftreten. Großbritannien hat einen Vertrag mit China über die Freiheiten in der ehemaligen Kronkolonie Hongkong. Die Führung in Peking missachtet dieses Abkommen seit kurzem geradezu provokant, zuletzt durch das sogenannte Sicherheitsgesetz. Wären die Briten Teil einer starken EU, dann würden die Chinesen in Hongkong wohl vorsichtiger agieren. Die Europäische Union muss sich der weltpolitischen Realität stellen, und zwar gemeinsam, mit allen Konsequenzen, bis hin zu einem starken militärischen Auftreten. Andernfalls wird die EU nicht mehr sein als eine Verbindung von ein paar wirtschaftlich stärkeren und einigen schwächeren Ländern mit wunderschöner Landschaft und wechselhafter, oft bedeutsamer Geschichte.

Während der Corona-Krise haben die Regierungen der Länder überwiegend allein gehandelt. Gesundheit gehöre in ihre Kompetenz, hieß es immer. Wir befinden uns jedoch auch mitten in einer riesigen Wirtschaftskrise. Nur wenn die Mehrheit der Mitgliedstaaten glaubt, dass diese gemeinsam besser zu bewältigen ist, dann wird sich die EU verändern. Wenn nicht, dann kann sie zerfallen. Welche gefährlichen Konsequenzen das Ende der EU und der Zerfall Europas nicht nur für unseren Kontinent, sondern für die ganze Welt hätte, wird noch behandelt werden. Der Blick zurück zeigt uns jedenfalls, dass auf diesem Kontinent Großes erfunden und geleistet wurde, Konflikte in Europa aber immer gewaltsam ausgetragen wurden. Die Hoffnung lebt, dass wir aus der Geschichte gelernt haben.

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