Читать книгу: «Ein unsichtbares Band, genannt Familie», страница 2

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Der kleine Otto Rüter erlebte diese Krankheit ganz anders:

„Als es mir allmählich besser ging, bekam ich richtig Lust meine Grammatik durchzuarbeiten. Am vorletzten Quartalsschultag ging ich wieder in meine Klasse. Auf Wunsch meines Klassenlehrers zeigte ich nun mein Können in Latein. Bei Versetzungen damals kamen nur etwa 50 Prozent der Schüler durch. Aber ich wurde als Primus versetzt. Dr. Bartels erklärte mich zum besten Schüler der Klasse. Das habe ich nie vergessen!“

In der Quinta begann der Französischunterricht für Otto Rüter. Und dieses Jahr verlief gut, ebenso die Quarta. Mit Englisch fingen sie dann in der Untertertia an. Eigentlich waren all die Schuljahre für ihn eine gute und fröhliche Zeit – bis auf eine Erfahrung in der Sexta mit dem Rechenlehrer Dr. Bertram, einem heimtückischen Menschen, der den Schlossersohn aus purer Bosheit schlecht behandelte:

„Ich wollte das eigentlich vergessen, aber ich konnte es bis heute nicht. Wir führten ein Extemporale in Rechnen aus. Ich war in 15 Minuten fertig.“ Danach überprüfte der Junge noch mal, ob alle Aufgaben richtig gelöst waren, und schloss dann sein Heft. „Dr. Bertram kam an mir vorbei und auf seine Frage antwortete ich, dass meine Arbeit fertig sei. Das Heft schob ich nun zur Seite. Und um mir die restliche Zeit zu vertreiben, nahm ich Rechenbuch und Kladde hervor und arbeitete für mich weiter. Da kam Bertram wieder vorbei, sah es und bezichtigte mich des Betruges. Und schrieb mir eine Karzerstunde in das Klassenbuch. Ich wusste gar nicht, was das bedeutete.“

Der kleine Junge verstand das überhaupt nicht. In der Pause sagte ihm dann noch ein Mitschüler, das sei eine schwere Strafe und er würde wahrscheinlich die Schule verlassen müssen. „Ich war dadurch so niedergeschlagen, dass ich an Selbstmord dachte.“ Zu Hause erzählte er seinem Vater davon. Der beruhigte seinen Sohn dann sehr schnell und versprach ihm, mit seinem Klassenlehrer über den Vorfall zu reden.

„Das war dann aber gar nicht mehr nötig, denn am anderen Tag kam mein Klassenlehrer vom Militär zurück und las den Vermerk im Klassenbuch. Ich musste ihm alles erzählen. Daraufhin strich er den Bericht im Klassenbuch einfach aus. Dr. Bertram war wütend, aber danach habe ich nichts mehr von der Sache gehört.“

Dr. Bertram ließ Otto Rüter nun einfach links liegen, verließ aber bald darauf die Schule und mein Großvater war froh.

Was Lehrer so alles anrichten können! Sicher war dieser Bertram mit daran schuld, dass Opa plötzlich nach der mittleren Reife trotz seiner blendenden Zensuren abgehen wollte. Bei mir war das umgekehrt. Auch wenn ich mich während meiner Schulzeit häufig missverstanden und ungerecht behandelt fühlte, wie zum Beispiel vom „Mathe-Schmidt“. Wir hatten eine Zeit lang Mathematik bei unserer sehr strengen Direktorin Bernecker, und ich war in dieser Zeit immer gut in Mathe. Es machte mir auch viel Spaß. Dann kam an ihrer Stelle der besagte Herr Schmidt in unsere Klasse, ein schöner, aber langweiliger Mann. Der stufte mich von Anfang an schlecht ein und begründete es damit, dass ich bei Rechenaufgaben manchmal nicht bis zur dritten Stelle hinterm Komma genau war. Bernecker war es auf die Lösungen der Aufgaben angekommen, die ich immer richtig hatte. Mathe-Schmidt bewertete das gar nicht. Er war eben einfach nur pingelig. Und ich verlor meinen Spaß an der Mathematik. Doch im Gegensatz zu Opa wollte ich trotz des Frusts mein Abitur unbedingt machen – obwohl mein Vater wohl ganz gerne das Schulgeld gespart hätte. Denn Mädchen würden ja sowieso heiraten, wie auch er damals meinte und wie es eben zu der Zeit die landläufige Meinung war.

Der Unterricht in der Schule blieb für den Jungen dennoch leicht. Er war und blieb Klassenprimus mit den entsprechenden Zeugnissen. Aber nach der Untersekunda, dem Einjährigen, hatte er eigentlich keine Lust mehr, mit der Schule weiterzumachen. “Mir war der Gedanke gekommen, Exportkaufmann in Hamburg zu werden und dann ins Ausland zu gehen.“ Jetzt war jedoch der Vater, der ihn ursprünglich gar nicht auf die höhere Schule hatte gehen lassen wollte, entschieden gegen diesen Plan.

Opa zwinkert mit den Augen und sieht mich liebevoll an: „Ich musste auf der Schule bleiben. Aber den Unterricht, den wir nun hatten, ohne die vielen Extemporalien, hat mir dann wieder Spaß gemacht, und ich habe sehr gerne die Schule bis zum Ende durchgemacht.“

„Du hast einfach immer Glück gehabt“, meine ich. „Aber eigentlich war es bei mir nicht anders. Ab der Obertertia fand ich die Schule prima. Endlich durften wir denken und mussten nicht ständig nur auswendig lernen und pauken. – Lag es daran, dass wir nun mehr gefordert und selbstständiges Denken erwartet wurde, Opa?“

„Bei dir bestimmt!“ Habt ihr auch wie wir einmal im Jahr einen Tagesausflug in die Umgebung gemacht?“, fragt er mich.

„Bei uns war es das Schullandheim und in der Untersekunda eine herrliche Klassenfahrt nach Süddeutschland.“

Das hätte auch Opa gefallen. Ihm fällt dann noch ein Schulfest im Tiergarten ein, das er ebenfalls so schön fand.

„Lehrer und Schüler fuhren in einem Extrazug vom Bahnhof Hannover zum Bahnhof Tiergarten. Dann marschierten wir alle feierlich mit unseren Klassenfahnen und Musik und Gesang durch den Wald zum Gasthaus Tiergarten. Dort wurde erst Kaffee getrunken und danach begannen die Wettkämpfe im Turnen. In der Sexta standen wir alle im Kreis und sprangen über das kreisende Seil.

Ich wurde Sieger. In der Quinta mussten wir zu den Holzkletterstangen laufen, raufklettern und wieder runter und zurück laufen. Ich war der Letzte. Klettern konnte ich nicht besonders. In der Quarta fiel das Schulfest aus wegen des Todes der beiden deutschen Kaiser [Wilhelm I. und Friedrich III.] In der Untertertia machten wir Freihochsprung, in der Obertertia Bock-hochsprung. Beide Male war ich wieder Sieger. Im Turnen war ich einfach gut, da ich ja auch nebenbei schon in der Schülerriege des Turnclubs Hannover turnte.“

Zum Kummer von Otto Rüter wurde später das Schulfest nicht mehr veranstaltet. Warum hat er nie erfahren.

DIE LIEBE ODER DIE SCHÖNE KUNSTLÄUFERIN

Als Untersekundaner war er als leidenschaftlicher Turner in die Männerabteilung des Turnclubs Hannover eingetreten. Er kam erst in die dritte Riege, aber schon ein Jahr später in die erste. Er habe dort viel gelernt, erzählt er, und er war jedes Jahr beim Wettturnen mit anderen Vereinen dabei. Im Sommer wurde außerdem viel geschwommen und im Winter Schlittschuh-Kunstlaufen geübt.

„Leibesübung war meine Leidenschaft. Als Oberprimaner habe ich 27 Stunden wöchentlich darauf verwandt. In den oberen Klassen hatten wir in unserer Schule einen Schülerturnverein. Den leitete ich als Oberprimaner. Als wir zum Stiftungsfest ein Schauturnen veranstalteten, hat mir das viel Lob von den Zuschauern eingebracht.“

Beim Schlittschuhlaufen trainierten die Kunstläufer auf einem besonderen Platz der Eisbahn. Dort fiel dem Primaner Rüter ein schönes junges Mädchen auf, „das außerdem glänzend lief “. Nicht nur sie gefiel ihm, sondern er ihr auch – „wie ich später erfuhr. Bei unserem Abiturball war sie meine Tischdame.“

Aber ich will nicht vorgreifen. Es läuft eben alles folgerichtig bei Otto Rüter – bis zu einem gewissen Punkt. Bei seinen Nachkommen dafür um so weniger.

Darum zurück zu seiner Schulzeit. Opa fiel da noch manches Vergnügliche ein, das mich an Ludwig Thomas Lausbubengeschichten erinnert:

„Im letzten langen Vierteljahr der Untersekunda schrieben wir in jedem Fach zwölf Extemporalien, die bei mir alle null Fehler hatten. Dr. Hahne, der uns in Englisch und Französisch unterrichtete, wollte mich reinlegen durch schwere Fragen bei den französischen unregelmäßigen Verben in Verbindung mit Fürwörtern, Fragen und Verneinungen. Als er nach der Prüfung am anderen Tag in die Klasse kam, warf er mir mein Heft quer durch den Raum an den Kopf, den ich jedoch schnell zur Seite bog. Dadurch traf das Heft meinen Hintermann. Ich hatte wieder null Fehler. Zwei Mitschüler nur bekamen eine Drei, alle anderen Vieren und Fünfen. Er machte mich an, weil ich die Stellung der Fürwörter – eine schwierige Aufgabe – immer richtig gemacht hatte, er mich also nicht hatte reinlegen können.

Ich musste laut lachen und verriet dann, dass ich mir einen besonderen Vers gemacht hätte, der leider nicht in der Grammatik stehe:

‚me, te, se, nous, vous vor le, la, les

le, la, les vor lui und leur

lui und leur vor y und en

y vor en‘

Dieser Vers hat Dr. Hahne sehr gefallen, und er hat ihn seinen späteren Schülern beigebracht.“

Wenn ich aus der Schule kam und Opa an seinem Patiencen-Tisch saß, fragte er mich immer, was ich in der Schule für Fächer gehabt hätte. Und wenn ich sagte „Französisch“, erzählte er mir auch diese Anekdote, wohl in der Hoffnung, ich würde mir diesen Vers aneignen. Habe ich auch, aber null Fehler in einer Französischarbeit – ich kann mich nicht erinnern!

Und Opa erzählte noch eine weitere Schulanekdote:

„Von meinem Deutsch-Professor Dr. Rawe erhielt ich in der Oberprima die Aufgabe, eine Rede zum Thema ‚Malerei und Wald‘ zu halten.“

Dazu hatte Opa nun gar keine Lust und bereitete sich auch nicht darauf vor.

Als er dann an die Reihe kam, begann er einfach wie folgt:

„Ich war als Unterprimaner mit drei Freunden durch Thüringen gewandert, war im Schwarzatal auf den Berg gestiegen, wo Goethe den Vers gedichtet hat: Über allen Wipfeln ist Ruh ... Bei herrlichem Wetter übersah ich die wunderbar schönen Wälder, war begeistert und rief schließlich aus: , Ach, wenn ich die Wälder malen könnte!` Meine Klasse brach in brüllendes Gelächter aus. Dr. Rawe, der anscheinend begeistert war, wurde sehr böse und schimpfte mit der Klasse. Dann bat er mich, die Rede mit dieser schönen Einleitung noch einmal zu beginnen. Ich tat so, als hätte mich das Gelächter meiner Mitschüler sehr erschüttert, und bat, mich aufhören zu lassen. Er fand meinen Gram berechtigt. Ich brauchte meine Rede nicht weiter zu halten, hatte erreicht, was ich wollte, und war sehr vergnügt.“

Und ich weiß jetzt, von wem ich meinen Humor geerbt habe.

Und noch eine Opa-Geschichte:

„Religion hatten wir in der Oberprima bei Professor Schmidtmann, der eigentlich Pastor hatte werden wollen, aber wegen seiner schlechten Stimme Lehrer geworden war. Ich fand seinen Religionsunterricht langweilig, weil er ihn nach bestimmten Schemata hielt. So fragte er immer die Bibel ab: ‚Kapitel 1, 3, 21 von Gott dem Vater; Kapitel 2, 18, 19 von Gott dem Sohn usw.‘

Mich hat das schließlich so geärgert, dass ich, als er mich abfragen wollte, alles vollkommen verdrehte. Der Professor wurde wütend, bezeichnete mich als schlechten Schüler und den Schülerturnverein, den ich leitete und dem die besten Schüler aus Untersekunda bis Oberprima angehörten, als fürchterlichen Saufverein. Ich verbot mir sofort diese Behauptung und verließ die Klasse. In der Pause wurde ich zu Direktor Ramdohr gerufen. Ich habe dem Direktor dann erzählt, dass dieser Streit entstanden sei, weil ich in meiner Antwort absichtlich diese Zahlen-Schemata, mit denen uns Schmidtmann schon das ganze Jahr genervt hatte, verdreht hatte. Ich durfte gehen. Aber eines Tages erschien Direktor Ramdohr unerwartet während des Religionsunterrichts in unserer Klasse, hörte sich diese Abfrage mit an und verließ die Klasse wieder. In der nächsten Religionsstunde übernahm der Direktor selber den Religionsunterricht und wir waren bei dem ausgezeichneten Unterricht jetzt alle eifrig bei der Sache. Der Religions-Professor aber ging bald darauf in den Ruhestand.“

„Opa, du bist wohl der lebende Beweis dafür gewesen, dass man sich nicht einfach alles gefallen lassen sollte von ‚Macht-Habern‘“, meine ich.

„Das stimmt! Im Abitur machte ich noch eine ähnliche Erfahrung, die wohl auch meine Standfestigkeit bewies.“

„Ich habe sie bei mir erst viel später entwickelt. Ich leitete einen Bereich bei der Deutschen Bundespost und litt unter der ablehnenden und ungerechten Haltung des Staatssekretärs. Da sagte mir die Direktorin Eva Leithäuser, meine Mentorin und eine Frau, die es an die Spitze geschafft hatte: ‚Frauen wollen immer geliebt werden. Aber darauf kommt es, wenn man Erfolg haben will, nicht an!‘ Das saß.“

„Mein Chemieprofessor Dr. Kraus mochte mich nicht. Nach der schriftlichen Abitur-Prüfung in Chemie wurden vier Mitschüler, die ihre Aufgaben nicht richtig gelöst hatten, noch einmal mündlich geprüft. Einer der Schüler gab auf eine Frage wohl eine ziemlich unmögliche Antwort, denn die ganze Klasse lachte. Ich las gerade in einem Buch und hatte die Antwort nicht gehört, aber ich lachte einfach mit. Professor Kraus sprang jedoch auf mich zu und schrie mich an, ich sei ein ganz unmöglicher Schüler. Ich verbat mir das und verließ auch diesmal wieder einfach wortlos die Klasse. Und wieder wurde ich in der Pause zum Direktor gerufen, weil Professor Kraus verlangt hatte, dass ich wegen schlechten Benehmens in die mündliche Prüfung sollte. Ich berichtete das Geschehen und der Direktor wunderte sich wohl über den Chemie-Lehrer.“

Und auch diesmal geschah Opa nichts.

Die Schulzeit war nun vorbei. Es folgten noch der Abiturball und der Kommers. Opa fand beides „wunderbar“. Seine Kon-Abiturienten wollten, dass er beide Veranstaltungen organisierte.

„Wie merkwürdig, ich stellte bei mir sehr viel später in meinem Berufsleben fest, dass ich ein ausgesprochenes Talent zum Organisieren und Improvisieren habe und strategische Fähigkeiten, die im Management gebraucht werden. Ich hatte davon keine Ahnung gehabt. Ich wollte ja eigentlich Schauspielerin werden.“

Opa lächelt nachsichtig: „Ich wollte ja auch mal Kaufmann werden!“

Eine derartige Erinnerung ist ein Schatz, den ein junger Mensch mit ins Leben nimmt, denke ich. Vielleicht habe ich während der Jahre meiner Schulzeit einen anderen Schatz gesammelt. Die vielen Bücher, die in der Bibliothek von Großvater und meinen Eltern standen. Ich habe sie alle gelesen. Und viele Gedichte gelernt – im Deutschunterricht und während des Konfirmandenunterrichts. Auch einige englische und französische Gedichte und Lieder haben sich fest in mein Gedächtnis eingeprägt.

Opas Leben war ein Pfeil, der abgeschossen wurde, gerade und ruhig fliegt er in den Himmel. Stetig und schräg geradeaus, alles gelingt, nichts hält ihn auf, lässt ihn stocken, kein Abfallen, kein Abknicken in dieser hohen Flugbahn. Vielleicht sind wir so gemacht, wenn alles seinen Sinn und seine Ordnung hat in der Kindheit und den Lehrjahren danach, denke ich. Aber auch ein solches Leben bekommt seine schweren Einbrüche. Eines Tages. Sonst wäre dieser Pfeil vielleicht in den unendlichen Himmel geflogen. Das Bild von dem Pfeil kam mir in den Sinn, weil mich die Texte von Khalil Gibran tief beeindruckt haben, ganz besonders sein Gedicht Von den Kindern.

Deine Kinder sind nicht Deine Kinder,

sie sind die Söhne und Töchter

der Sehnsucht des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch Dich, aber nicht von Dir,

obwohl sie bei Dir sind, gehören sie Dir nicht.

Du kannst ihnen Deine Liebe geben, aber nicht

deine Gedanken; denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

(…)

Du bist der Bogen, von dem Deine Kinder

als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Lass Deine Bogenrundung in der Hand

des Schützen Freude bedeuten!

(Khalil Gibran, 1883-1931)

Ich sage zu Großvater: „Wie klar und auch unschuldig das alles war! Wenn ich daran denke, was bald über Deutschland heraufziehen wird. Nichts kommt von selbst ... Opa!“

Er sieht mich ernst an: „Die Schuld lag tiefer. Ich kannte sie damals nicht. So wie du sie nicht kanntest, damals als junge Journalistin, die den Anfang der Bundesrepublik Deutschland miterlebt und mitgestaltet hat.“

„So entwickelte sich also in deinen weiteren Leben ein Schritt aus dem anderen – Folge-richtig.“

„Ja! Und meine nun folgenden Studentenjahre waren herrlich und kostbar und köstlich. So habe ich es später noch empfunden, wenn ich an sie dachte.

Später als wir alle zusammen in dem neuen kleinen Haus in der Richard-Wagner-Straße wohnten und ich mit 79 Jahren aufgehört hatte zu arbeiten. Auch diese Erinnerungen sind schön.“

Ich schüttele den Kopf: „Meine Lehr- und Entwicklungsjahre waren nicht köstlich.“

„Ich weiß, mein Kind. Aber bedenke, was alles dazwischenlag.“

„Ja. Das Grauen!“

„Und niemand wollte anschließend mehr etwas davon wissen, geschweige sich als Mittäter bekennen. Vielleicht glaubte ich eine Weile wirklich nicht schuld zu sein, oder vielmehr genug bezahlt zu haben, vor allem, weil ich meinen jüngsten Sohn im Hitler-Krieg verloren habe. So sind wir Menschen! Aber: Gewalt gebiert Gewalt und Grauen weiter Grauen, wenn wir verdrängen.“

„Auch nach so vielen Jahren des Friedens? Heute“

„Ja!“

„Ach, Opa, ich lese lieber erst mal weiter. Du schreibst:

„Ich wollte nun Bauingenieur werden. Ein halbes Jahr arbeitete ich zunächst als Maurer, wurde dann Student an der Technischen Hochschule Hannover.“

Im Turnclub hatte er bei seinem Turnlehrer Neumann auch das Fechten gelernt und natürlich wollte er nun als Student, wie es damals üblich war, auch Mensuren schlagen und trat daher in das Corps Macaro-Visurgia ein. „Bereits im ersten Semester habe ich dort 16 Mensuren gefochten, meistens mit Erfolg“, schreibt er stolz. „Dafür hatte ich nicht mehr genug Zeit für den Turnclub. Als Turner habe ich mich also nicht weiterentwickelt.“

„Entschuldige, wenn ich dich hier unterbreche. Du hattest nicht viele Schmisse im Gesicht, weniger als einige deiner Freunde. An einen auf deiner Glatze kann ich mich noch erinnern.“

„Ich war eben erfolgreicher als sie. Dein Vater, der bei den Marburger Teutonen gefochten hat, hatte übrigens auch nicht viele.“

Die Teutonen! Die gehörten doch zu den Studenten, die mit ihren ungezügelten Ausfällen gegen die Juden, mit ihren antisemitischen Hasstiraden Hitler den Boden bereitet haben! Ich traue mich wieder nicht zu fragen, ob es bei Opas Macaren auch diese Angriffe gegen die jüdischen Mitbürger gegeben hatte. Ich habe nicht einen Anhaltspunkt, auf den ich mich beziehen könnte. Mag man mich für blauäugig oder gar dumm und borniert halten. Ich kann nichts sehen, an dem ich mich festhalten, an dem ich anknüpfen könnte bei ihm, was den Verdacht einer Sympathie für die Nazis aufkommen lassen könnte. Und doch haben später in seinem Stahlwerk Kriegsgefangene arbeiten müssen – vielleicht auch Juden? Opa wird mir das ja alles noch erzählen.

Ich wechsle also das Thema:

„Um ehrlich zu sein, Opa. Ich finde das Mensuren-Schlagen schrecklich! Ist doch nahezu barbarisch. Warum hast du bloß nicht weiter geturnt!“

Er lacht: „Deine Mutter, meine Tochter Cilli, fand es auch schrecklich.“

Zum ersten Mal ist der ununterbrochene Primus nicht mehr an der Spitze. Er genießt seine Zeit als Student und findet viele neue Freunde:

„Die Zeit verging so schnell. Ich machte Examen – nicht besonders gut, weil ich während dieser Jahre gern und viel gefochten und getanzt habe. Dazu kamen das Tennisspielen im Sommer und das Schlittschuhlaufen im Winter. Außerdem machten wir interessante Studienreisen mit unseren Professoren.“

Ende 1899 legte Großvater sein Staatsexamen ab. Und da er nicht in den Staatsdienst wollte, absolvierte er gleich danach sein Diplomexamen. Sein bevorzugtes Gebiet war der Stahlbau. Er erhielt daher als Diplomaufgabe den „Entwurf der Stahlkonstruktion für eine große Weltausstellungshalle“. In der vorgeschriebenen Zeit von drei Monaten legte er den Entwurf vor und erhielt die Note „sehr gut“.

ZUM ERSTEN MAL „NICHT TAUGLICH“

Pünktlich zur Jahrtausendwende, am 1. März 1900, war sein Studium zu Ende. Nun wollte Opa eigentlich seinen einjährigen Wehrdienst beginnen, wurde aber bei der Musterung bis zum 1. Oktober zurückgestellt. Offenbar wollte er das nicht glauben und auch nicht akzeptieren. Kein Wunder – bei seiner sportlichen Tüchtigkeit:

„Mir gelang es, über meinen Professor Backhaus zu erreichen, dass ich ein zweites Mal untersucht wurde. Daraufhin erhielt ich das für mich niederschmetternde Ergebnis: ‚D.U. – dauernd untauglich‘. Ich hatte doch vorgehabt zu dienen, um dann Reserveoffizier zu werden, und war nun traurig. Ich war absolut gesund, aber man wollte mich wohl nicht als Einjährigen haben.“

Was für ein Glück hat er nun wieder gehabt!, denke ich. Wenn überhaupt, wie hätte er den Ersten Weltkrieg überlebt, aus dem eine ganze traumatisierte, verwundete und geschlagene Männergeneration zurückkehren würde?

Bereits seine erste Bewerbung am 1. April bei der damals bekannten Stahlbaufirma Harkort in Duisburg war erfolgreich: „Ich wurde aufgrund meines Diploms und vorgelegter Zeichnungen sofort angenommen.“

Ich begleite beim Lesen seiner Erinnerungen nun meinen lieben Großvater zu seinem ersten Job:

„Ich erinnere mich noch genau, wie ich zum ersten Mal den großen, voll besetzten Zeichensaal betrat. Es gab nur einen, der studiert hatte wie ich unter den vielen Zeichnern, Oswald Erlinghagen. Alle anderen hatten eine Lehre bei Harkort durchgemacht und waren nun hier als zum großen Teil tüchtige Konstrukteure tätig.

Erlinghagen arbeitete schon seit einem Jahr in dieser Firma.

Meine erste Aufgabe war, eine Stahlbau-Eisenbahnbrücke für den Staat Siam in Asien zu entwerfen, mit einer Spannweite von 90 Metern. Diese Brücken wurden damals fürs Ausland wegen der einfacheren Montage als Gelenkbrücken ohne Montagenietung ausgeführt. Über derartige Brücken hatte ich während meines Studiums kaum etwas erfahren.“

Nun war Opa in der Klemme! Aber so wie er als Kind war, so war er wohl sein ganzes Leben. Die Menschen mochten ihn einfach. Dünkel, so wie häufig bei Menschen, die aufgestiegen sind, gab es bei ihm nicht.

Also, was nun? Der gerade erst diplomierte Ingenieur runzelte die Stirn:

„Die statische Berechnung war ja nicht schwierig, aber die Konstruktion! Derartige Zeichnungen kannte ich nicht, und man hatte mir bisher auch keine ausgeführten Brücken gezeigt. Da saß vor mir ein alter Konstrukteur, der merkte, dass ich in Not war. Er holte die Zeichnung einer ausgeführten Brücke und erläuterte mir diese. Das war sehr gut. Und so war ich bald mit meiner Aufgabe fertig.“

Alles klappte nun wie geschmiert: „Unser Angebot wurde statt eines der Engländer vom Staat Siam angenommen.“ Das muss man sich mal vorstellen: Frisch von der Uni!

Und es ging weiter mit den großen Entwürfen. Und weil er schon immer Spaß am Lernen gehabt hatte, lernte er auch zu Hause nach Feierabend weiter dazu. Er freundete sich mit den Ingenieuren der Maschinenfabrik Becham & Kaatmann an, die später von der Demag übernommen wurde. Mit diesen Freunden wanderte Opa sonntags in der näheren Umgebung und lernte so das Rheinland kennen.

Mein Großvater notierte eigentlich nur Positives. Bis auf wenige Ausnahmen erinnert er sich offenbar nur an die Ereignisse in seinem Leben, die ihm Freude bereitet haben. Und dann klingt das so, als sei nichts Unangenehmes in diesen Jahren passiert. Aber eigentlich gibt es doch in jedem Leben mehr oder weniger Angenehmes. Ja, das schon, aber es ist eher Opas Art, den nicht so schönen Erlebnissen, wie einer langen Krankheit, am Ende noch eine positive Note zu geben oder eine witzige Pointe zu entdecken. Nur gegen den Tod hatte auch er später kein Rezept. Er starb, als ich in Hamburg studierte.

Welche Freude er im Leben gehabt hat! Sie nährte ihn noch, als er nach all den Schicksalsjahren in seinem späten Ruhestand stundenlang an seinem Marmortisch saß. Er klagte eigentlich nie, wenn ich mich nach der Schule einen Augenblick zu ihm setzte. Mit einer Ausnahme! Sein Gehör! Er wollte so gerne mehr von mir erfahren. Aber mit dem Hörgerät mochte er nicht umgehen. Ich glaube, es enttäuschte ihn bei jedem seiner Versuche.

Knapp drei Jahre nach dem Examen, am 18. August 1903, feierte Opa in Hannover Hochzeit mit der schönen Eisläuferin Elli Hammerstein: „Meiner Liebsten seit langen Jahren. Eine herrliche, wenn auch nicht lange Hochzeitsreise in den Schwarzwald folgte.“

„Am 11.Juli 1904 wurde unser erstes Kind, der kräftige Hans geboren.“

Mein geliebter Onkel Hans. So voller Leben und Liebe! Und was hat er alles sehen müssen. Von ihm wird bald die Rede sein und vor allen anderen wird er sprechen.

Meine Großmutter Elli, die ich leider nicht mehr erlebt habe, stammte aus einer angesehenen Familie des hannoverschen Großbürgertums. Sie wuchs mit fünf Geschwistern auf. Am meisten beeindruckte uns Kinder Tante Martha. Sie war eine gefeierte Operndiva. Immer wieder betrachtete ich ihr Foto als Walküre mit ihrem wallenden dunklen Lockenhaar. Tante Marthas Mann, ebenfalls ein Sänger, soll sie nach Aussagen meiner Mutter Cilli und ihrer Schwester Elli, gezwungen haben, nach der Geburt ihres Sohnes mit der Bühne Schluss zu machen. Mich empört diese Geschichte noch heute.

Als junge Journalistin in Bonn sollte ich dann viele Jahre später 1977 den zweiten wichtigen gesetzlichen Schritt nach der Abschaffung des Stichentscheides des Mannes im Familienrecht (1958) bewusst miterleben. Durch ihn durften Frauen nun ohne das Einverständnis ihres Mannes erwerbstätig sein. Eigentlich konnte ich es damals schon kaum glauben, dass so etwas bei uns Gesetz war und der Ehemann entscheiden konnte, ob die Frau arbeiten durfte oder nicht.

Meine Großmutter liebte ebenfalls die Musik und wollte den Namen Hans ihres ersten Sohnes mit zwei „n“ schreiben, vielleicht, um ihn aus der Masse der vielen Jungs mit Namen Hans heraus zuheben. Offenbar machte der Standesbeamte nicht mit. Meine Mutter bekam den Namen einer Muse der Musik, der heiligen Cäcilia, allerdings mit „e“, nämlich Cäcilie. Doch sie mochte ihren Namen nicht und hielt sich selbst auch für unmusikalisch. Ich hätte meine Großmutter so gerne kennengelernt. Zart, musisch und schön, wie sie war. Ihr Foto steht noch heute auf meinem Sekretär.

Und bei Opa ging es unaufhaltsam weiter. Er wollte noch mehr lernen:

„Bei Harkort hatte ich es beim Entwerfen von Brücken weit gebracht und wollte nun gerne das Montieren von Stahlbrücken erlernen. Das war nicht möglich, weil die Fabrik schon eine Reihe von guten Montage-Ingenieuren besaß. Als letzten Entwurf hatte ich an der großen Rheinbrücke Ruhrort-Homberg mitgearbeitet. Den Auftrag zur Ausführung erhielt jedoch die Firma MAN in Gustavsburg. Ich lernte dadurch aber damals den von der Stadt Ruhrort angestellten Leiter, Baurat Degener, kennen. Er bot mir an, bei MAN die Prüfungen und Überwachungen zu übernehmen. Ich war sofort dazu bereit, aber die Firma Harkort wollte mich nicht freigeben. Ich habe es dann aber doch durchgesetzt. Meine früheren Direktoren nahmen mir das sehr übel.

Ungefähr drei Jahre dauerte der Brückenbau bei MAN, und er brachte mir viele Kenntnisse und gute Beziehungen. Ich war häufig in den Walzwerken in Lothringen und dem Saarland zur Prüfung des Materials, oft in Gustavsburg zur Werkstattprüfung und besonders war ich ständig bei Montage auf der Brücke. Ich habe auch Entwürfe für Seitenbrücken auf beiden Rheinufern gemacht und deren Ausführung überwacht. 1906 besuchte mich Johann, der Sohn des hannoverschen Stahlbaufabrikanten Eilers, den ich noch aus der Leibniz-Schule kannte. Er bat mich, für Eilers die Entwürfe für die Ausschreibung zweier Brücken in Kassel, die Fuldaer- und die Hafenbrücke anzufertigen. Ich habe das zunächst abgelehnt, weil ich kaum Zeit hatte, und schließlich doch zugestimmt. Die Arbeit konnte ich erst nach Feierabend um 18 Uhr bis spät in die Nacht durchführen.

Nach drei Monaten sollte der Entwurf abgeliefert werden. Es gelang mir sogar, für beide Brücken je zwei Entwürfe fertigzustellen: Einen einfachen, billigeren Entwurf und einen mehr künstlerischen. Die beiden anspruchsvolleren Entwürfe bekamen für beide Brücken den ersten Preis. Der Firma Eilers wurde die Ausführung für die Hafenbrücke übertragen. Die Fuldaer Brücke wurde in Stein nach dem zweiten Preis ausgeführt [also nicht, wie Opa es vorgesehen hatte, als Stahlkonstruktion, aber auf Grundlage seines Entwurfs].“

Die Arbeit in Ruhrort gefiel Großvater nach wie vor. Er konnte durch sie seine Fähigkeiten und Kenntnisse erweitern.

Für seine Familie war diese Zeit nicht so gut:

„Wir mussten gleich von Duisburg nach Ruhrort ziehen, eine sehr hässliche Stadt, die außerdem umgeben war vom Rauch und Qualm der Schornsteine, auf der Rhein- und Hafenseite der Schiffe, auf der Fabrikseite durch Schlote. Da gediehen weder Bäume noch Blumen. Meine Frau musste mit den Kindern – 1906 war ja auch noch Tochter Elli geboren worden – sehr weit rheinabwärts gehen, um auf einer grünen Wiese sitzen zu können.“

Für meine kultivierte Großmutter war das schlimm. Sie war allem Schönen zugetan, den Künsten und vor allem der Natur. Diese Naturverbundenheit hat sich über meine Mutter auf uns drei Kinder vererbt. Ich kann mir gut vorstellen, wie schrecklich es für Großmutter gewesen sein muss, in Ruhrort zu leben. Großvater zog daher mit der Familie wieder nach Duisburg um, wo es noch Grün gab.

Im Jahre 1907, als die Arbeit an den Rheinbrücken fast zu Ende war, beschloss die Familie nach Hannover zurückzukehren. Opa wollte dort ein Ingenieurbüro für Stahlbau eröffnen.

„Das Angebot, die Arbeit als Oberingenieur bei MAN und der Gute-Hoffnung-Hütte zu übernehmen, hatte ich abgelehnt.“

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22 декабря 2023
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