Читать книгу: «Lilien im Park», страница 2

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Auf dem Flur atmete ich durch, aber das half nun auch nichts mehr. Die Wände begannen zu schwanken, das Herz zu rasen, die Beine zu versagen …

Der Nervenarzt, den ich nun auch in seiner Praxis aufsuchte, erkannte im EEG keine Auffälligkeiten. Ich solle jetzt aber unbedingt die Psychopharmaka nehmen und einen Kurantrag stellen, in eine psychosomatische Klinik gehen. Mein Selbstwertgefühl war am Boden. Ich fühlte mich gebrochen, überließ alles meinen Behandlern. Der Arzt fand ein Krankenhaus, das mich sofort in eine psychosomatische Abteilung aufnehmen konnte.

Ich war nun ein 42-jähriger Burnout-Patient, der im Rahmen einer stationären Psychotherapie wieder zu Kräften kommen sollte, kein starker unverwundbarer junger Mann mehr, der ich gern gewesen wäre, vielleicht ja auch einmal war. Ich nahm einen Betablocker und ein angstlösendes Antidepressivum. Beides sollte ich erst dann „ausschleichen“ lassen, hatte man mir in der Klinik empfohlen, wenn ich im Rahmen einer Psychotherapie stabiler geworden sei.

Schon nach drei Wochen kam ich aus der Klinik zurück und begann mit einer stundenweise Wiedereingliederung am Arbeitsplatz. Das funktionierte. Man warf mir neugierige Blicke zu, vermied es aber, mich auf mein Kranksein anzusprechen. Aber ich hatte nichts dazugelernt. Oder sagen wir, noch nicht genug dazugelernt. Ich konnte es immer noch nicht akzeptieren. Nach zwei Wochen war mir aber schon wieder alles zu viel. Ich brach erneut zusammen. Jetzt blieb mir nichts anderes mehr übrig: Ich musste in ambulante Psychotherapie!“

Alina schaute Christian zweifelnd an. „Ich muss gerade noch einmal an unser Telefonat denken.“

„Ja?“

„Nun, da konnte man den Eindruck gewinnen, Sie wären doch noch nicht so ganz von der Notwendigkeit der beruflichen Auszeit und der Psychotherapie überzeugt.“

Christian ärgerte sich ein wenig, dass Alina darauf herumritt: „Ich weiß schon, dass Sie das herausgehört haben. Und ich habe Ihnen ja schon Recht gegeben.“

„Um das geht es mir nicht!“, erläuterte die Therapeutin. „Ich will damit sagen, dass wir beide aufpassen sollten, dass Sie auf diesem Weg bleiben. Vielleicht so ein, zwei Jahre – oder länger.“

„Sie meinen, ich muss längere Zeit der Schule fern bleiben?“

„Nicht nur der beruflichen Arbeit fern, sondern an unserer psychotherapeutischen Arbeit immer dran bleiben.“

Es war nicht so, dass ihn das überraschte, aber die Psychotherapeutin sprach es so eindringlich aus, dass er schlucken musste. Zwei Jahre oder länger!

Alina schwächte ab: „Nicht, dass Sie, wenn es Ihnen schnell wieder besser geht, meinen, Sie könnten sofort wieder loslegen.“

Es könnte ihm also schnell wieder besser gehen! Christian nickte: „Ich verstehe schon!“

Alina bevorzugte gerade bei solchen Patienten die Formulierung „psychotherapeutische Arbeit“, statt „psychotherapeutische Behandlung“ - und sie sprach, wie meistens, von „uns“ und „wir“, um das gemeinsame Bemühen zu betonen.

„Herr Aufwieser, vielleicht haben Sie die im Wartezimmer ausliegenden Informationen gelesen … „ Er schüttelte den Kopf. „ … Da geht’s drum, wie so eine Behandlung ausschaut und organisiert werden muss und vieles mehr. Schauen Sie es sich bei Gelegenheit mal an. Also, die Kurzfassung: Wir führen einige Vorgespräche, dann entscheiden wir uns endgültig, ob wir miteinander arbeiten wollen. Dann erst stellen wir den Antrag auf eine Therapie, vielleicht anfangs 25 Sitzungen. Insgesamt werden es aber meistens 80 Sitzungen, so sollten wir vielleicht planen.“

„Ein Mal wöchentlich?“

Sie nickte. „Zumindest im ersten Jahr.“

Christian nahm sich vor, mit seiner Schwester über dieses Prozedere zu sprechen.

6

Laura Sollener hatte Christian kaum wahrgenommen. Für sie war er ein unscheinbarer Mann, ein Patient, wie all die anderen, die sie vor oder nach ihrer Therapie schon gesehen hatte. Dabei waren es gar nicht so viele Männer, denn die meisten waren Frauen, „Therapieschwestern“, wie sie die Frau Winner nannte. Es spielte für Laura keine Rolle, ob ein Mann dort im Wartezimmer saß oder eine Frau. Zumindest nicht nach diesen aufregenden Sitzungen mit ihrer Therapeutin. Sie schämte sich bei beiden. Mit Tränen in den Augen verzog sie sich nach den meisten Gesprächen auf die Toilette zum Weinen und Wasserlassen – was bei ihr schon seit der Kindheit zusammengehörte. Manchmal war schon während des Gesprächs der Drang sehr stark, aber die Unterbrechung der Therapiesitzung versuchte sie zu vermeiden. Nun saß diesmal im Wartezimmer ein Mann, den sie hier noch nie gesehen hatte. Er erschien ihr unsicher und etwas seltsam, aber irgendwie auch vertraut. So flüchtig dieser Moment der Begegnung auch war, er heftete sich an irgendeine Hirnsynapse, nistete sich in ihrem Kopf ein und produzierte ein noch nicht genauer zu spezifizierendes Wiedererkennungsgefühl. Auch mit Nachdenken kam sie nicht darauf, ob und woher sie diesen Mann kannte.

Als Laura von der Toilette zurückkam, war Christian bereits im Behandlungszimmer und sie lauschte im Flur ein wenig, ob von dort etwas herausdrang. Aber es war wie immer nur ein Gemurmel. Zum Glück versteht man nichts, dachte sie, denn wenn ein anderer dann von ihr etwas hören würde, sie würde sich zu Tode schämen.

Ich bin eine „Unechte“. Dieser Begriff war im Gespräch einmal gefallen. Klingt wie Untote. Beide Bezeichnungen passen zu mir, dachte sie. Echt wollte sie gerne sein, aber schaffte es nicht, tot wäre sie auch manchmal gerne, wenn nur das Leiden vorher nicht wäre. Und als Unechte war sie eine Untote, ein lebendige Tote. Strahlend nach außen, beredt, charmant, so erlebte man sie. „Man“ waren die Leute draußen. Denn daheim bei ihrer fast erwachsenen Tochter schaffte sie es selten, ihre Strahle-Maske aufzusetzen.

War deshalb ihr Mann fremdgegangen? Waren ihm ihre Launen zu viel. Oder ihre immer wieder einmal einsetzende Depressivität, das antriebslose Herumsitzen oder -liegen, wenn sie sich dann einige Tage Auszeit nahm, sich nicht mehr draußen blicken ließ, auch um niemanden hineinblicken zu lassen in ihre zerbrechliche Seele.

Seit drei Jahren waren sie schon geschieden. Sie trafen sich nie, aber über ihre Tochter erfuhr Laura gelegentlich, dass er wieder eine Neue hatte. Seit einem Jahr lebte er nun mit einer zusammen. Das war wohl etwas Festes. Ihn kümmerte nicht, wie es seiner Exfrau ging. Er wollte es nicht wissen, sein neues Leben nicht davon beeinflussen lassen. Natürlich lief er damit seinen Schuldgefühlen davon. Er sagte sich immer, dass Schuldgefühle auch niemanden helfen würden, warum sollte er sie dann haben und sich damit abquälen?

Bei Laura begann etwa vor 9 Monaten ihre schlimmste Zeit. Seit sie wusste, dass ihr Ex eine feste Beziehung eingegangen war. Erst jetzt kam sie sich weggeworfen vor, zumal die Neue offenbar all das von ihm haben konnte, wonach sie sich immer gesehnt hatte: Gemeinsame Urlaube, eine neue Küche, Zeit für die Familie. Genaueres hatte sie nicht in Erfahrung gebracht, aber in ihrer Vorstellung bekam die alles geschenkt, wofür sie all die Jahre vergeblich gekämpft hatte.

Laura hatte sich durch die Tage und Nächte gequält. Sie begann zu trinken, obwohl sie sich betrunken noch elender fühlte. Aber immerhin fühlte sie da etwas. Sie wurde länger krankgeschrieben. Ihre Tochter machte sich Sorgen, wusste aber nicht, wie sie ihrer Mutter helfen konnte. Laura ihrerseits geriet in Schuldgefühle ihrer Tochter gegenüber. Auch für die waren ja die Trennungsjahre nicht einfach gewesen. Die Tochter hielt sich schließlich immer öfters beim Vater und seiner Neuen auf, um der Tristesse daheim zu entkommen. Das machte Laura innerlich wütend. Sie war enttäuscht. Fühlte sich auch von ihrer Tochter verlassen. Für die sie doch immer mehr dagewesen war als ihr Vater! Für die sie sich immer zusammengerissen hatte, auch wenn es ihr so schwer fiel!

Von ihrer Hausärztin, zu der sie auch privat Kontakt hatte, erhielt sie Frau Winners Telefonnummer. Die Ärztin und Frau Winner kannten sich auch gut. Deshalb überlegte die Psychotherapeutin, ob das einer Behandlung entgegenstünde. Alina gab Laura dann aber dennoch schnell einen Termin. Laura wusste von dem Kontakt ihrer Hausärztin zu Frau Winner. Das motivierte Laura besonders. Auch weil sie damals noch nicht ahnte, dass sie bei ihrer Therapeutin „die Hosen runterlassen“ musste – wie sie es später einmal formulierte. Auf jeden Fall bewirkte der psychotherapeutische Kontakt ein kleines Wunder: Laura erholte sich sehr schnell. Sie konnte bald wieder zum Einkaufen fahren und sogar in ihren Beruf wieder einsteigen.

Ihre Arbeit als Schulsekretärin verrichtete sie nun wieder strahlend wie eh und je. Keiner, der nicht gerne zu ihr ins Zimmer kam, um sich von ihrem Lächeln verwöhnen zu lassen! Einmal in der Woche, an einem ihrer freien Vormittage, hatte sie vor ihrem Arbeitsbeginn ihre Therapiestunde. Wenn ich die nicht so oft heulend beenden würde, dachte sie, dann wäre ich vielleicht schon nicht mehr dort. So schlecht geht es mir doch eigentlich gar nicht. Aber das Heulen irritierte sie. Sie sollte noch etwas bei Frau Winner bleiben.

7

Warum macht mich die Winner immer fertig? Kann sie mich doch nicht leiden? Vielleicht ist sie neidisch auf mein Äußeres. Aber sie ist doch auch hübsch. Eigentlich viel hübscher als ich. Wenn sie mehr Wert auf ihr Äußeres legen würde! Vielleicht mag sie nicht, dass ich mich schminke.

Wir sind wohl im selben Alter. Sollten wir Frauen nicht zusammenhalten? Fühlt sie sich von mir angegriffen? Sie stellt so vieles in Frage. Vielleicht kann sie es mit Männern besser.

Ich hätte es auch leichter mit einem männlichen Therapeuten. Überhaupt komme ich besser mit Männern als mit Frauen zurecht.

Schade, dass ich den Neuen nicht genauer angeschaut habe. Vielleicht ist der aber gar nicht neu, sondern hatte bisher nur einen anderen Termin. Ob die Winner den lieber mag?

Vielleicht ist es wirklich so, dass alle meine Anstrengungen nutzlos sind: Immer wenn ein anderer auftaucht, bin ich abgeschrieben. Wie bei meinem Mann. Womöglich auch bei meiner Tochter. Die kommt offenbar gut zurecht mit meiner Nachfolgerin... Laura, steigere dich nicht wieder rein! Plage dich nicht wieder mit solchen Gedanken herum!

Der Neue! Woher kenne ich den? Was wird er sich von mir denken? Frau Winner sagt immer, das sei doch ganz normal, dass einen die Gespräche mal zum Weinen bringen. Aber bei mir ist das nicht normal. Das passt doch überhaupt nicht zu mir. Selbst in meinen depressiven Phasen habe ich kaum geweint. Das sei doch gut, meint die Winner, wenn sich nun die Gefühle lockern! Die hat gut reden! Aggressiver will sie mich haben, hat sie auch einmal angedeutet. Das würde antidepressiv wirken. Aber schon beim kleinsten Aufbegehren macht sie mich fertig! Soll sich einer auskennen mit den Psychologen. Oder mit Psychologinnen. Bei einem männlichen Therapeuten wäre nämlich alles ganz anders! Obwohl? Insgesamt kann ich doch zufrieden sein. Es geht mir doch schon viel besser als noch vor 9 Monaten! Aber irgendwie habe ich manchmal das Gefühl, als ob auch das der Winner nicht gefällt. Doch ich sollte vorsichtig sein: Mit meinen Gefühlen stimmt oft etwas nicht. Das habe ich in der Therapie gelernt!

8

„Nun, liebe Alina, so ganz zufrieden bist du wohl nicht mit den Fortschritten deiner Unechten?“, fragte Max, als Alina im Rahmen ihrer „Intervision“ ankündigte, heute über Laura reden zu wollen.

Max war ein Teilnehmer dieser kollegialen Supervisionsgruppe, die sich einmal im Monat traf, um problematische Fälle zu besprechen. So war das jedenfalls gedacht. Tatsächlich redeten sie oft über die Neuigkeiten und Unklarheiten in den unsäglich bürokratischen Systemen der Kassenärztlichen Vereinigung. Zum Beispiel über die sich immer wieder verändernden Abrechnungsmodalitäten: Welche Ziffer nun angesetzt werden darf, aber nicht neben der anderen Ziffer, es sei denn nicht am selben Tag, sondern am nächsten, aber nur bei einem persönlichen Kontakt, aber nicht, wenn der telefonisch erfolgt, schon gar nicht, wenn die Ziffer im „Behandlungsfall“ schon mal angesetzt wurde, das ist aber nur ein Jahr, nein, nur im Quartal und drei weitere Quartale, rückwärts oder vorwärts, auf jeden Fall etwas anderes als der „Krankheitsfall“, aber natürlich nur nach der probatorischen Phase, und dann auch nur mit einem Begründungstext und so weiter und so weiter.

Die Berufsgruppe der psychotherapeutisch tätigen Psychologen war in der Kassenärztlichen Vereinigung seit 1999 eingegliedert und glich sich immer mehr den ärztlichen Kollegen an. Die Ungerechtigkeiten im Abrechnungssystem beförderten nun auch bei ihnen die Suche nach den legalen Abrechnungs-Möglichkeiten. Nicht nur bei den ärztlichen, sondern nun auch schon in den Abrechnungsprogrammen der psychologischen Psychotherapeuten, wurde man nun darauf hingewiesen, ob man nicht doch auch noch dies und jenes abrechnen wolle, das sei doch möglich und diese „Leistung“ habe man doch sicherlich auch erbracht … Die Geschickten verdienen das meiste, dachte Alina. Sie tun das auch ohne schlechtes Gewissen, denn an anderer Stelle wurde ihnen ja eine angemessene Honorierung ihrer Leistung verweigert. Abgerechnet wird das, was sich abrechnen lässt, ohne dass es auffällt!

Alina war das zuwider, aber sie verstand ihre Kollegen, zumal die Psychotherapeuten bei weitem nicht das verdienten, was andere Fachärzte, aber auch die Hausärzte verbuchen konnten. Und auch sie schwankte zwischen Ungerechtigkeit und Unrecht, auch ihren Kollegen gegenüber. Der Ehrliche ist der Dumme. Solche Sprüche sagen es ja schon jahrhundertelang.

In ihrer Intervisionsgruppe traf sie sich mit dem Kollegen Max, einem ärztlichen Verhaltenstherapeuten, Inge, einer psychologischen Verhaltenstherapeutin und Ilona, einer psychologischen Psychoanalytikerin. Da Alina eine Psychologische Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Tiefenpsychologie war, fühlte sie sich der Ilona fachlich am meisten verbunden. Die Hintergrundtheorien waren ja bei beiden Verfahren dieselben. Leider lag Ilona ihr persönlich nicht so. Die war Alina zu sperrig, verteidigte zu fundamentalistisch ihre Einstellungen. Inge hingegen war die „Mama“, die ihren Kollegen nichts zumutete, ähnlich wie sie es ihren Patienten gegenüber auch machte. Und Max? Ja der war der Lockere, der manches nicht so ernst nahm. Sein großer Vorzug für die Intervisionsgruppe war seine Beschlagenheit im EDV-Bereich. Da konnte er den anderen, die bei jedem kleinen Computerproblem gleich in Panik gerieten, auf die Sprünge helfen.

Alina bewunderte ihn dafür. Auch äußerlich war Max ein interessanter Mann für sie – und von seiner Lockerheit hätte sie gern einiges gehabt. Und ein netter Kerl war er allemal.

Die Fallbesprechungen in dieser heterogenen Gruppe waren für alle recht interessant, weil die Unterschiedlichkeiten in den Auffassungen und Vorgehensweisen sehr deutlich wurden. Ganz im Gegensatz zu den Forschungsergebnissen, die immer wieder zeigten, dass erfahrene Psychotherapeuten sich sehr ähneln im Umgang mit ihren Patienten, egal welche Ausbildung sie hatten.

Max hatte natürlich Recht mit seiner Vermutung, dass Alina mit Lauras Therapieerfolgen nicht zufrieden war.

„Sie ist immer noch in der Phase der anfänglichen Übertragungsheilung!“, sagte Alina in die Runde. Sie sah, dass die Psychoanalytikerin Ilona nickte, aber auch die anderen in etwa wussten, wovon sie sprach.

„Das wäre doch der geeignete Zeitpunkt für eine Beendigung der Behandlung!“, brachte sich Ilona ein. Die meinte das natürlich sarkastisch, kannte sie doch genügend Kollegen, die in dieser Phase ihre Patienten entlassen und davon schwärmen, wie viel sie in kurzer Zeit erreicht hätten, das Argument nachschiebend, dass sie dadurch doch viel mehr Patienten „versorgen“ könnten, als die „den Dreck der Kindheit aufwühlenden“ Tiefenpsychologen und Analytiker.

„Du glaubst also, dass deine Patientin schon wieder dicht macht?“, hakte Max nach.

„Ich fürchte sogar, dass die aufhören könnte. Ich setze der nämlich immer ganz schön zu!“

„Ach, ihr Analytiker“, mischte sich Inge ein, „könnt ihr euren Patienten nicht mal gönnen, dass die sich wohl fühlen. Die braucht das halt jetzt. Die hat sich doch so lange mies gefühlt!“

„Aber wenn die mir davonläuft?“

„Das macht sie aber nicht, wenn es ihr gut geht bei dir! Setz ihr halt nicht so zu!“

Inge hat ja Recht, dachte sich Alina, aber irgendwie vorankommen möchte ich schon.

„Du willst wieder mal zu viel!“, meinte Max.

„Ihr habt ja Recht!“, sagte Alina. Und nahm sich vor, dieses Thema in ihrer Einzel-Supervision aufzugreifen.

Die Gruppe redete noch einige Zeit über Laura. Und Alina war erstaunt, wie lange manches von dem, was sie vorher schon einmal von dieser Patientin erzählt hatte, bei ihren Kollegen noch präsent war. Sie selber wusste vieles nicht mehr, was die Kollegen schon einmal in die Intervision eingebracht hatten. Heute lassen die aber gar nicht locker! Nun sollte sie auch noch den Neuen vorstellen.

„Ach, über den kann ich noch nicht viel sagen. Ich hatte ihn ja erst zu einem Vorgespräch. Ein Lehrer. Der ist ein Angstneurotiker: Von funktionellen Herzstörungen angefangen, über eine Herzphobie, bis hin zu Panikanfällen hat er es schon gebracht. Also nichts Besonderes. Ein Burnout. Auch aufgrund der Situation am Arbeitsplatz.“

„Sympathisch?“, fragte Inge.

„Puh. Schwer zu sagen. Zu ehrgeizig, zu wenig private Sozialkontakte, reichlich zwanghaft.“

Natürlich wusste Alina, dass Inge gemeint hat, ob der Neue ihr sympathisch wäre. Aber das konnte sie seltsamerweise auch nicht beantworten. Und Inge beließ es dabei.

Das war aber das, was Alina von dem Intervisionstreffen mitnahm: Warum weiß ich nicht, ob der mir sympathisch ist? Das zeigt sich doch immer bereits in der ersten Begegnung. Sie war nun noch gespannter auf das zweite Vorgespräch mit Christian.

9

Wir nehmen Abschied von

Christian Aufwieser.

Es trauern um ihn

seine Schwester und sein Vater.

Annabell war wieder einmal zu Besuch bei Christian. Das Blatt lag auf dem Tisch, so als läge es zufällig dort. Natürlich erkannte sie die Handschrift ihres Bruders. Und es passte zu ihm, dass er seine eigene Todesanzeige aufsetzte! Annabell war nicht erschrocken, aber sie wollte ihn doch damit konfrontieren. Es fiel ihr schwer, seine Ängste ernst zu nehmen.

„Schau mal, was ich gefunden habe!“

„Ach, der Zettel. Den habe ich wohl vergessen wegzuräumen.“

Annabell sah Christian mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an.

„Na, ja. Du kennst mich ja“, sprach er weiter.

„Ist das dein Ernst, dass du so eine Todesanzeige möchtest?“

„Natürlich! Ganz schlicht. Und schon gar nicht mit Jugend-Foto und dem Du-Gesäusel.“

„Was für ein Gesäusel?“

„Du weißt schon. Was man heute so oft liest: Du fehlst uns,

Wir vermissen dich, Deine dich liebende Schwester und so ein Käse.“

„Ach, du mit deinen Vorstellungen!“ Annabell wollte es abtun, aber Christian war es wichtig.

„Das meine ich wirklich so! Eine Todesanzeige ist eine Todes-Anzeige für die Mitmenschen und keine Toten-Anbetung oder Mitteilung an den Verstorbenen. Oder Demonstration, wie sehr man an dem Verstorbenen gehangen hat. Bitte halte dich daran!“

„Ja, ja, ist ja schon gut. Du lebst ja sowieso länger als ich...“ Sie betrachtete noch einmal die Notizen. „Glaubst du, der Vater will das auch so?“

„Du meinst, bei seinem Tod?“

„Nein, nein. Ich meine deine Anzeige.“

„Ach, das wäre dem doch egal.“ Diesmal war es Christian, der keine Lust hatte, darüber zu diskutieren.

„Das glaube ich nicht. Der legt auf so etwas wert. Das ist ja etwas, was nach außen dringt.“ Annabell machte eine wegwischende Handbewegung. „Jetzt fange ich auch schon an, mich auf deine Spinnereien einzulassen. Der Vater wird dich ja wohl nicht überleben.“ Und fast etwas spöttisch strich sie ihrem Bruder über die Wange. Der drückte ihre Hand beiseite. „Ja, ja.“

„Ach, wie war es übrigens bei der Psychotherapeutin? Kommst du klar mit ihr?“

Christian zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht so recht, was er sagen soll.

„Klar komme ich klar mit ihr!“

„Ich meine, ist sie dir sympathisch? Hältst du sie für kompetent?“

Ob sie ihm sympathisch ist? Er wusste es nicht.

„Sie wirkt ganz normal“, sagte er. „Also nicht irgendwie überdreht oder esoterisch oder so.“

„Und wie alt ist die?“, hakte Annabell nach.

„So in meinem Alter“, antwortete er. Aber wie sah die eigentlich aus?, fragte er sich. Offenbar war er doch zu angespannt, um das alles wahrzunehmen.

„Und die Praxis? Wie ist die?“

„Bestimmt nicht so wie deine!“, antwortete Christian. „Das ist ja nur ein Ein-Mann-Betrieb, halt, ein Eine-Frau-Betrieb.

Schaut aus wie in einer Privatwohnung.“

„Und kann die Therapeutin etwas? Worüber habt ihr denn geredet?“

„Nun, über die letzten Jahre halt.“

Annabell merkte, dass er nicht so recht herausrücken wollte oder konnte.

„Ich sage meinen Patienten, denen ich Psychotherapie empfehle, dass sie sich dort wohl fühlen müssen. Man muss sich sympathisch sein.“

Er wusste nicht genau, wie er sich gefühlt hatte. Verunsichert anfangs, aber danach? Er wollte nicht weiter darüber reden. „Ach, frag mich später noch einmal. Ich muss sie doch erst kennenlernen.“ Und schnell fügte er an: „Sag mal, Annabell, wie lange dauert denn so eine Behandlung? Weißt du das?“

Annabell wusste es.

10

Er weiß es wohl nicht. Oder er hat es vergessen? Hat er damals nichts bemerkt?

Annabell schob sich den linken Ärmel hoch.

Die Narben sieht man noch. Nach so langer Zeit! Hat er damals nicht mitbekommen, dass ich auch beim Psychotherapeuten war? Dieser meinte ja, ich wolle meine ganze Symptomatik vor lauter Scham verbergen. Hat sicher Recht gehabt. Aber dass Christian nicht mitbekam, dass ich mich jahrelang behandeln ließ, ist doch erstaunlich. Vielleicht hat er es inzwischen vergessen. Es ist nun doch schon über 10 Jahre her. Doch es wäre typisch für meinen Bruder: Er kümmert sich um sich, um seine Krankheiten, seine „tödlichen“! Was interessiert den Großen schon seine kleine Schwester? Aber ich will nicht ungerecht sein: Als Kinder hatten wir eine enge Beziehung! Es blieb uns ja auch nichts anderes übrig, ohne Mutter und bei einem Vater mit seinen seltsamen Eltern. Und in meiner Jugendzeit gab es nicht einmal mehr die Großeltern, da waren wir ganz allein mit meinem Vater.

Stimmt ja überhaupt nicht! Es gab da noch Vaters Arzthelferin, die nebenberuflich nach uns schaute! Da ging es dann bei mir los. Ich muss wohl zu große Erwartungen an mein Kindermädchen gehabt haben. Meinte jedenfalls später mein Psychotherapeut. Natürlich hatte er auch damit Recht. Nachdem wir unsere Mutter verloren hatten und Christian sich am Vater orientierte, wollte ich zum Kindermädchen eine enge Beziehung haben. Sie sei meine Freundin, sagte sie. Hat mir große Zuneigung vorgespielt – und mich doch immer irgendwie zurückgestoßen. Vor dem Vater hatte sie so getan, als kümmere sie sich wahnsinnig um mich. Dabei ging es ihr nur um meinen Vater! Den hat sie ja schließlich auch gekriegt!

Mit 18 begann ich die Therapie. Warum? Nicht wegen der Rasierklingen. Man hatte mich erwischt, wie ich nachts in den Mülltonnen nach Lebensmitteln suchte. Mensch, war das peinlich! Aber schlimmer noch wäre es gewesen, wenn man mich beim Stehlen erwischt hätte. Das ist mir und meinem stadtbekannten Vater erspart geblieben.

Es war eine Nachbarin, die ihren Hund ausführte, und meinem Vater von meinen nächtlichen Eskapaden berichtete. Er wollte es nicht glauben, stritt es der Nachbarin gegenüber ab. Aber mein Kindermädchen nötigte mir die Wahrheit ab.

Wir sind bald danach in den Westen übergesiedelt. Halt, in den ehemaligen Westen, denn es gab ja die große „Wende“, die sogenannte Vereinigung. Seine Arzthelferin nahm der Vater mit. Oder waren die beiden damals schon verheiratet? Ich zog jedenfalls gleich in eine eigene Wohnung. Vom Vater finanziert. Als Gegenleistung für meine Psychotherapiebereitschaft. Er wollte ja keinen Skandal. Im Nachhinein bin ich natürlich froh, dass ich mich damals behandeln ließ. Das war meine Rettung.

Warum hat Christian dies alles nicht mitbekommen? Weil ich schon alleine lebte? Zu meinem Kindermädchen, das jetzt meine Stiefmutter ist, hatte ich auch kaum mehr Kontakt. Uns verband aber eine Gemeinsamkeit: Ich wurde nämlich auch Arzthelferin! Ein unbewusster Wunsch nach Verbindung zu ihr?

Zurück zu Christian! Er hatte damals wohl andere Sorgen. Und mir ging es so, wie früher bei meinen Eltern und Großeltern auch. Vielleicht bei allen Menschen. Was kümmerte die anderen meine innere Not? Alle hatten genug mit sich selbst zu tun.

Am meisten enttäuscht war ich von meiner Mutter. Nur, gemerkt habe ich das nicht! Das wurde mir erst in meiner Therapie bewusst. Doch ob dies wirklich stimmt? Wie kann ein Kind in den ersten Lebensjahren „enttäuscht“ sein von der Mutter? Vielleicht im Nachhinein. Weil sie so früh gestorben ist und uns allein gelassen hat mit dem Vater und den Großeltern.

Vom Vater habe ich nie viel erwartet. Er war bei mir irgendwie abgeschrieben. Wie ich bei ihm. Vielleicht nicht so sehr bei meinem Bruder. Christian war ja für ihn der Star! Aber ob er ihn geliebt hat?

Mein Therapeut erklärte mir, dass ich wohl, weil ich meine Eltern, Großeltern und mein Kindermädchen nicht verdammen wollte, mich selbst klein gemacht hatte. Und damit hatte ich es ja verdient, übersehen zu werden. Wenn ich selbstbewusst gewesen wäre, hätte es viel Zoff gegeben in unserer Familie, meinte der Therapeut. Aber Zoff gab es auch so schon genügend.

11

Als Christian zu seinem zweiten Gespräch eintraf, war er etwas spät dran. Seine Therapieschwester Laura verließ gerade die Praxis und hielt ihm die Tür auf. Sie erkannte ihn wieder und lächelte ihm zu. Sie riecht so gut, dachte er, als er nahe an ihr vorbeiging. Und diesmal war sie ihm schon etwas sympathischer als beim ersten Mal. Im Flur wurde er „abgefangen“ von seiner Therapeutin. Ob er gleich reinwolle, fragte sie. Ja klar, wozu fragt die?, dachte er.

Im Therapieraum setzte sich Christian wieder auf denselben Sessel.

„Ist das der richtige für Sie?“

„Wie? Der Sitzplatz?“, fragte er irritiert zurück.

Alina nickte.

„Ja“, sagte er, „ich sitz meinem Gegenüber gern gegenüber“ und grinste dabei.

Hoppla, heute ist der etwas lockerer!

„Und mit welchen Gefühlen kommen Sie heute zu mir?“

Und schon wieder hatte er etwas zum Überlegen. Mit welchen Gefühlen? Was meint die? Wie es mir geht?

„Danke, es geht mir recht gut!“, sagte er brav.

Alina ließ es dabei bewenden. Sie merkte, dass es ihr Patient noch lernen musste, in sich hineinzuhorchen, seine Bedürfnisse und Gefühle zu erspüren und danach zu handeln, soweit es möglich war.

„Aber der herbstlich werdende Park gefällt mir!“, schob Christian nach. „Da bin ich auf dem Weg zu Ihnen wieder durchgegangen“, erläuterte er.

Alina reagierte nur mit einem: „Mmh.“

Christian erkannte, dass sie auf weitere Ausführungen wartete: „Da fällt mir immer das Gedicht von Stefan George ein Komm in den totgesagten park!“

Jetzt gibt er aber an. Oder will er mich testen? Alina nickte. „Ja, das gefällt mir auch!“

Und das meinte sie ernst. Aber es war nicht diese kleine Gemeinsamkeit, die ihre Entscheidung zu einer gemeinsamen psychotherapeutischen Arbeit beeinflusste. Doch unangenehm sind Gemeinsamkeiten nie. Sie hatte sich allerdings schon vorher innerlich auf eine Therapie mit diesem Lehrer eingestellt. Und dass er das auch wollte, davon ging sie nun aus.

Sie steuerte also die Inhalte an, die am Anfang einer tiefenpsychologischen Therapie schon allein deswegen dazugehören, weil sie zur Beantragung der Therapie notwendigerweise erfragt werden müssen.

„Ich würde heute gern mit Ihnen über Ihre Kindheit reden, denn die ist ja in einer tiefenpsychologischen Therapie wichtig.“

Das wusste Christian von seinem Klinikaufenthalt. Die Behandler dort wollten auch eine „Biographische Anamnese“.

„Ja, aber da weiß ich nicht viel drüber!“, warnte Christian mal vorbeugend.

„Das ist oft so“, beruhigte sie ihn. „Dann fantasieren wir uns etwas zusammen“, sagte sie mit einem Lächeln. Dass Alina das ernst meinte, war ihm nicht bewusst. Alina war das Fantasieren oft wichtiger als die harten Fakten: Das, was ein Patient annimmt oder sich vorstellen kann, wie es gewesen sein könnte. „Fangen Sie einfach vorne an. Vielleicht schon vor ihrer Geburt!“

Er staunte und runzelte die Stirn.

„Na, die Lebensumstände Ihrer Eltern. Ob Sie ein gewolltes Kind waren. Was Sie über die Schwangerschaft gehört haben. So etwas halt!“, half sie ihm.

„Okay. Also, meine Mutter war damals 18 und ihr Freund, also mein Vater, war 33. Natürlich kam ich ungeplant. Aber das hat der Oma, bei der meine Mutter noch lebte, weniger ausgemacht als meiner Mutter.“

„Wie alt war denn die Oma damals? Und was ist mit dem Opa?“, fragte Alina dazwischen.

„Der Opa hatte MS, war selber fast schon ein Pflegefall. Und Omas Alter … Warten Sie mal … So um die 60. “

„Oh, doch schon? Da war die Oma aber schon eine Spätgebärende bei ihrer Mutter.“

Alinas schnelle Auffassungsgabe und ihr forsches Vorangehen imponierten Christian.

Und Alina ließ keine Pause: „Damit wir nicht durcheinanderkommen: Wie hießen denn die Oma und wie die Mutter?“

„Die Oma hieß Margot und die Mutter Marianne. Ja, aber die Oma hatte schon eine Tochter vorher. Ach, die war bestimmt 20 Jahre älter als meine Mutter. Meine Mutter war halt ein Nachzügler.“

„Und warum hat die Oma Margot das so weggesteckt mit der frühen Schwangerschaft ihrer Tochter Marianne?“

„Ich denke, weil mein Vater – Werner heißt er – meine Mutter gleich geheiratet hat. Und der war eine gute Partie. Außerdem war die Oma wohl froh, dass sie endlich mal ihr Erziehungsgeschäft beenden konnte!“, meinte Christian. „Vielleicht hat sie auch gedacht, der Arzt - also mein Vater war ein angehender Facharzt - dass der ganz gut in ihrer Familie wäre. Sie war ja nicht mehr die Jüngste“, grinste Christian Alina zu. „Und außerdem der kranke Opa…“

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