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2.2 Mehrsprachigkeit und Bildungserfolg

Das Thema Mehrsprachigkeit dominiert bildungspolitische Diskussionen insbesondere unter dem Aspekt der Bildungsrelevanz. Die Debatte findet in Deutschland vor allem auf folgender Ebene statt: Medial präsent und wissenschaftlich aufgegriffen wird die Sichtweise, die Kenntnis der Migrantensprache behindere den Erwerb der Mehrheitssprache Deutsch und schade demnach dem Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler mit sog. Migrationshintergrund.1 Diese schneiden sowohl in Bezug auf Bildungsbeteiligung und -erfolg als auch bei Leistungsmessungen wesentlich schlechter ab als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Bereits an dem ersten Übergang im deutschen Bildungssystem, dem Übergang von Elementar- in die Primarstufe, werden Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig von der Einschulung zurückgestellt (vgl. Gomolla 2009: 29). Stanat (2006: 190) zeigt, dass Schülerinnen und Schüler ohne deutsche Staatsangehörigkeit nach wie vor deutlich geringere Bildungserfolge erreichen als Gleichaltrige mit einem deutschen Pass. Werden diese Angaben um Anteile von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund erweitert, kann ebenfalls festgestellt werden, dass Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien in höheren Bildungsgängen wie dem Gymnasium in Deutschland unterrepräsentiert und in unteren wie der Förderschule überrepräsentiert sind. Dies entspreche laut Stanat „den Verhältnissen, die in Deutschland etwa 1970 anzutreffen waren“ (ebd.). Forschungsergebnisse von Kristen (2000: 15) belegen, dass der Faktor „Ethnie“ selbst nach Kontrolle der Schülerleistungen in Deutsch und Mathematik in entscheidendem Maße über einen Hauptschulbesuch entscheidet, was insbesondere auf türkisch- und italienischstämmige Schülerinnen und Schüler zutrifft. Darüber hinaus verlassen Kinder mit Migrationshintergrund das deutsche Schulsystem überproportional häufig ohne jeglichen Abschluss (vgl. Diefenbach 2007: 222).

Diese Disparitäten finden sich genauso in nationalen wie internationalen Schulleistungsvergleichsstudien. In der IGLU-Studie2 wurde beispielsweise für das Jahr 2011 ermittelt, dass in Deutschland Viertklässler mit Migrationshintergrund im Vergleich zu ihren Klassenkameraden im Leseverständnis einen Rückstand von etwa einem Lernjahr aufwiesen (vgl. Schwippert et al. 2012: 199). Der Anteil an Schülerinnen und Schülern aus zugewanderten Familien, die in dieser Studie nicht über die Lesekompetenzstufe I hinauskamen, war dreimal so hoch wie der von Schülerinnen und Schülern ohne Migrationshintergrund (3,7 % vs. 1,3 %; vgl. ebd.: 200). Für die höchste Kompetenzstufe V stellten sich die Ergebnisse genau spiegelverkehrt dar (4,0 % vs. 12,3 %; vgl. ebd.: 201). Ähnliche Befunde werden seit Jahren in der PISA-Studie3 für Fünfzehnjährige in Deutschland berichtet: Hier schneiden Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in allen untersuchten Bereichen, also Mathematik, Naturwissenschaften und Lesekompetenz, deutlich schlechter ab als Schülerinnen und Schüler ohne Migrationshintergrund (vgl. Stanat et al. 2010: 201).

Als Ursachen für dieses ungleiche Abschneiden werden je nach beteiligter Disziplin unterschiedliche Mechanismen ausgemacht wie beispielsweise bestimmte Organisationsstrukturen der Institution Schule, die auf eine sprachlich homogene Schülerschaft ausgerichtet ist, was direkte oder indirekte institutionelle Diskriminierung nach sich ziehen kann (vgl. Gomolla & Radtke 2002: 334). Diese tritt zutage, wenn Lehrkräfte die zunehmende sprachliche Heterogenität im Klassenzimmer als Störung wahrnehmen und eine stärkere Homogenisierung der Lerngruppen bevorzugen. Adäquate sprachliche Leistungen der Lernenden werden dabei nicht als das Vermittlungsziel schulischer Bildung und somit in der Verantwortung der Institution selbst betrachtet, sondern als Zugangsvoraussetzung zu dieser (vgl. Gomolla 2009: 32). Gleichzeitig werden eventuelle sprachliche Defizite als Indikatoren für fehlendes fachliches Wissen genommen oder auf individuelle Unzulänglichkeiten zurückgeführt und den Schülerinnen und Schülern angelastet. Als Folge können bestimmte Bildungsgänge und -abschlüsse Lernenden, die über die verlangten sprachlichen Ressourcen (noch) nicht verfügen, aus institutioneller Sicht legitim verwehrt werden. Dies wird insbesondere an den Übergängen im Schulsystem sichtbar, wo unterschiedliche Akteure des Bildungssystems in ihrer Funktion als „Gatekeeper“ agieren (vgl. Diefenbach 2007: 233).

Dieser „monolinguale Habitus der multilingualen Schule“ (Gogolin 1994) äußert sich überdies in einer prinzipiell negativen Grundhaltung gegenüber lebensweltlicher Mehrsprachigkeit. Wie in Abschnitt 2.1 bereits diskutiert, erhalten in Deutschland nur einige Sprachen neben dem Deutschen eine Legitimierung, sei es durch eine rechtliche Absicherung durch die ECRM wie die autochthonen Minderheitensprachen oder durch die Aufnahme in den Fremdsprachenkanon, was gleichsam ihre Aufwertung als Bildungsgut und ihre Zertifizierung bedeutet (vgl. Gogolin 2001: 2). Die Sprachen von Migranten erfahren hingegen weder Rechtsschutz noch gehören sie zu den regulär in der Schule angebotenen und für alle zugänglichen Fremdsprachen. Der Unterricht in diesen Sprachen ist als Randangebot ausschließlich für die jeweilige Minderheit geplant, wodurch ihnen der Status als gesellschaftliches und schulisch zertifiziertes, förderungswürdiges Kulturgut versagt bleibt.

Trotz dieser Sichtweise auf die lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Schülerinnen und Schüler öffnet sich die Schule im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr auch für andere Sprachen als Deutsch. Beispielsweise findet migrationsbedingte Mehrsprachigkeit in den von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten Bildungsstandards für die erste Fremdsprache für den mittleren und den Hauptschulabschluss Erwähnung: „Ebenso wird der Fremdsprachenunterricht die mitgebrachte Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schüler [sic!] berücksichtigen, die bereits intuitive Strategien für das Sprachenlernen (Sprachlernkompetenz) entwickelt haben, diese miteinbeziehen und ausbauen“ (Kultusministerkonferenz 2005a: 6). In den Bildungsstandards für das Fach Deutsch in der Grundschule wird der Einbezug von Herkunftssprachen zudem im Rahmen des Kompetenzbereichs „Sprache und Sprachgebrauch untersuchen“ explizit thematisiert (vgl. Kultusministerkonferenz 2005b: 13).

Dass Mehrsprachigkeit trotzdem mehr ein „Häppchen“ denn ein „Hauptgericht“ bleibt (Marx 2014), lässt sich beispielhaft anhand der Einbindung anderer Sprachen in Lehrwerke für den Deutschunterricht illustrieren: Diese erschöpft sich meist in Übersetzungen einzelner Lexeme und Redewendungen und berücksichtigt hauptsächlich Sprachen des schulischen Fremdsprachenkanons (vgl. ebd.: 16). Die Chance auf strukturierten Sprachvergleich und fundierte Sprachreflexion mit Bezug auch auf migrationsbedingte Mehrsprachigkeit bis zur Weiterarbeit mit Gelerntem wird indes vergeben.

Die Tendenz, Mehrsprachigkeit in der Theorie zu loben, in der Praxisrealität jedoch zu vernachlässigen oder gar zu pathologisieren, führt nachweislich zu negativen Konsequenzen für die Entwicklung der Mehrheitssprache, der Herkunftssprache und des metalinguistischen Bewusstseins, für das Selbstvertrauen mehrsprachiger Kinder und Jugendlicher in ihrem erweiterten linguistischen Kapital und – noch bedeutender – für die gesellschaftliche Akzeptanz von anderen Sprachen und somit von Personen mit erweiterten sprachlichen Kompetenzen. (Marx 2014: 20)

Die Geringschätzung von Sprachkenntnissen abseits des schulisch legitimierten Wissens kann darüber hinaus ihren Niederschlag in weiteren, sozio-emotionalen Prozessen auf Seiten des Sprechers finden, die wiederum einen Einfluss auf seine Leistung ausüben. So wird als eine weitere Ursache für Leistungsdisparitäten zwischen Ein- und Mehrsprachigen in den letzten Jahren auch die Bedrohung durch Stereotypisierung untersucht (vgl. Ward Schofield & Alexander 2012). Hierunter wird die unbewusst auftretende Angst gefasst, einem bestimmten negativen Stereotyp über die eigene soziale Gruppe zu entsprechen (vgl. ebd.: 66). Voraussetzung für das Greifen dieser Angst ist dabei nicht die eigene Zustimmung zu dem bestehenden Stereotyp, sondern erstens das bloße Wissen um seine Existenz und zweitens die Identifikation mit der betreffenden Gruppe. Fühlt sich eine Person durch ein leistungsbezogenes Vorurteil bedroht, so hemmt diese Angst sie besonders in Situationen, in denen ebensolche Leistung erwartet wird. Die Bedrohung durch ein Stereotyp kann dabei bereits auf subtile Weise durch die Aufforderung auf einem Arbeitsblatt, seine Gruppenzugehörigkeit anzugeben, hervorgerufen werden (vgl. Steele & Aronson 1995: 808).4

Die meisten Studien befassen sich mit der Bedrohung durch Stereotype bei Frauen (vgl. Nguyen & Ryan 2008), die Ergebnisse lassen sich jedoch ohne weiteres auf andere Minoritätengruppen übertragen. Schmader und Johns (2003: 449) konnten z.B. nachweisen, dass Probandinnen, bei denen ein gender- und ein ethniebezogenes Stereotyp aktiviert wurden, wesentlich schlechter bei einem Aufmerksamkeitstest abschnitten als die nicht betroffene Kontrollgruppe. Die mentale Beschäftigung mit dem Stereotyp nahm ihre kognitiven Ressourcen derart in Anspruch, dass ihr Arbeitsgedächtnis überlastet war. In der Studie von Gonzales und Kollegen (2002: 666) zeigten sich ebenfalls Effekte einer Bedrohung durch Stereotype bei Frauen, die sich der Gruppe der Latinas zugehörig fühlten. Durch die Aktivierung des ethnischen Stereotyps wurden bei ihren Probandinnen auch geschlechtsbezogene Vorurteile ausgelöst. Übertragen auf mehrsprachige Schülerinnen und Schüler lässt sich mit Blick auf diese Befunde das Stereotyp des sprachlich Schwachen bzw. die Angst, diesem zu entsprechen, annehmen. Diese Angst kann dann insbesondere bei Leistungsüberprüfungen wie den oben beschriebenen Schulleistungsstudien ein kompetenzadäquates Abschneiden verhindern.

Für Leistungsdisparitäten zwischen Ein- und Mehrsprachigen werden in der Soziologie vor allem sozio-ökonomische Erklärungsansätze wie geringere in die Bildung zu investierende Ressourcen gesucht. In einer groß angelegten Panelstudie (CILS – Children of Immigrants Longitudinal Study) in den USA begleiteten beispielsweise Portes und Rumbaut (1990; 2001) über zehn Jahre lang mehr als 5.000 Jugendliche der zweiten Migrantengeneration bis ins Erwachsenenalter und untersuchten die Auswirkungen unterschiedlicher Ausgangsbedingungen u.a. auf Bildungserfolg, Berufsstand, Arbeitslosigkeit, Familiengründung und Inhaftierung. Es zeigte sich, dass der elterliche sozio-ökonomische Status mit dem Bildungserfolg ihrer Kinder, ihrer finanziellen Lage und ihren Verdienstmöglichkeiten als Erwachsene zusammenhängt (vgl. Portes et al. 2005: 1025f.). Je höher das bereits von den Eltern in die Familie eingebrachte Kapital war, d.h., je länger beide Elternteile im Bildungssystem verblieben und je höher ihr erreichter Berufsstand war, desto größer war der anschließende Erfolg der Kinder. „Results from our study are almost frightening in revealing the power of structural factors – family human capital, family composition, and modes of incorporation – in shaping the lives of these young men and women“ (ebd.: 1032).

Auch in Deutschland haben Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund im Vergleich zur sozial dominanten Gruppe eine andere strukturelle Ausgangslage: Ihre Familien besitzen weniger ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital (vgl. Diefenbach 2007: 227). So verfügen Migrantengruppen in Deutschland grundsätzlich über niedrigeres Einkommen als die Mehrheitsbevölkerung und weisen zudem typischerweise einen geringeren Bildungsstand als diese auf (vgl. ebd.: 229). Beides kann nur teilweise auf die in Deutschland nicht anerkannten Abschlüsse und Zertifikate zurückgeführt werden. Sie verkehren in weniger sozial relevanten Netzwerken, die Zugänge zu weiteren Bildungsressourcen eröffnen könnten (vgl. Stanat & Edele 2011: 186). Der Faktor „Migrationshintergrund“ ist in Deutschland also stark mit dem sozialen Status konfundiert.

Die Forschungsbefunde von PISA 2000 und PISA 2003 legen in diesem Sinne ebenfalls nahe, dass insbesondere die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen in Deutschland stark mit dem sozio-ökonomischen Status der Familie zusammenhängt. Diese enge Verkettung von schulischen Leistungen und strukturellen Merkmalen des Elternhauses wies bei der ersten Testung in diesem Ausmaß kein weiterer OECD-Mitgliedsstaat auf (vgl. Stanat et al. 2002: 13). Über die Zeit verringerten sich diese Effekte zwar, dennoch bleibt sogar bei der aktuellen PISA-Studie diese Kopplung bestehen (vgl. Müller & Ehmke 2016: 311). Bei Kontrolle des sozio-ökonomischen Status der Schülerinnen und Schüler reduziert sich hingegen der Einfluss des Faktors Migrationshintergrund auf die gemessenen Leistungen beträchtlich (vgl. Stanat et al. 2010: 202).

Mehrere Arbeiten aus der Soziologie führen als Erklärungsansatz für den geringen Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund das Festhalten an der Minderheitensprache an. So konnte u.a. Esser (2006; 2009) anhand von Reanalysen verschiedener Indikatoren für Schulleistungen und Arbeitsmarkterfolg von Migranten feststellen, dass herkunftssprachliche Kompetenz bzw. Investitionen in diese sich weder in der Schule noch später auf dem Arbeitsmarkt auszahlten. Seine Auswertung der oben diskutierten CILS-Studie (vgl. Portes & Rumbaut 1990) belegte, dass allein die Beherrschung der Mehrheitssprache sowohl für Lesekompetenzen als auch für die Leistungen in Mathematik ausschlaggebend sei. Die Minderheitensprache sei für schulischen Erfolg hingegen völlig „irrelevant“ (Esser 2006: 74). Durch die Neubetrachtung von Daten des Sozio-Ökonomischen Panels ließen sich weder beim erzielten Einkommen noch bei der beruflichen Positionierung Vorteile durch migrationsbedingte Mehrsprachigkeit ausmachen (vgl. Esser 2009: 84). Kompetenzen in der Minderheitensprache wären ausschließlich bei einigen wenigen Tätigkeiten in speziellen Arbeitsmarktsegmenten gewinnbringend.

Andere Arbeiten aus der Bildungsforschung bestätigen diese Ergebnisse zum Teil. So zeigte beispielsweise eine Metaanalyse von Studien zu bilingualen, Sprachförder- und Spracherhaltprogrammen, die im US-amerikanischen und europäischen Kontext durchgeführt wurden, keine eindeutigen Vorteile für solche Programme, in denen auch die Minderheitensprache berücksichtigt wurde (vgl. Limbird & Stanat 2006). Limbird und Stanat führen zwar selbst an, dass zum einen der Erfolg solcher Programme über das erreichte Niveau in der Mehrheitssprache gemessen wurde und zum anderen das methodische Vorgehen vieler der von ihnen zusammengetragenen Studien insbesondere hinsichtlich der Vergleichsgruppe fragwürdig ist. Dennoch lautet ihre Schlussfolgerung, dass es keine weitere Notwendigkeit zur Untersuchung von bilingualen und transitorischen Programmen gäbe. Es sei „unrealistisch“, alle Minderheitensprachen in der Schule zu berücksichtigen, selbst wenn ihre Förderung der Mehrheitssprache zugute käme (ebd.: 292).

Hopf (2005) legt eine ähnlich gerichtete Analyse für den deutschen Kontext vor und argumentiert gegen eine Förderung der Minderheitensprache vor allem mit der Knappheit der zur Verfügung stehenden Lernzeit. Der Aufwand zum Ausbau der Minderheitensprachkenntnisse stehe in keinem Verhältnis zum Ertrag, insbesondere bei Betrachtung der Schülerleistungen im Deutschen. Da viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Familien aufwachsen, in denen primär die Minderheitensprache gesprochen wird, und zugleich in Ballungsgebieten großwerden, was den Kontakt zu weiteren Sprechern derselben Minderheitensprache erleichtert, benötigten sie laut Hopf wesentlich mehr Unterrichtszeit zum Erlernen der deutschen Sprache (vgl. ebd.: 244). Erfolgreiche Zweisprachigkeit sei für ihn hingegen das Ergebnis intensiver familiärer Förderung, die nur wenige Angehörige einer „intellektuellen Elite“ meisterten (ebd.: 242).

Nach diesen Forschungsergebnissen scheint für sozialen Aufstieg in der Gesellschaft offenbar ausschließlich die Mehrheitssprache förderlich zu sein, was die Minderheitensprache zusätzlich abwertet und den Erhalt von peripheren Sprachen erschwert. Dass es sich trotz der negativen Befunde aus der Soziologie und Bildungsforschung lohnt, eine Minderheitensprache ohne Prestige und gesellschaftlichen „Marktwert“ zu erhalten und von Generation zu Generation weiterzugeben, obwohl ihre Kenntnis scheinbar keinen Nutzen mit sich bringt oder sogar für Bildungserfolg hinderlich ist, zeigen wiederum zahlreiche Studien aus der Soziolinguistik, Fremdsprachenforschung, Neurowissenschaft, Psychologie und anderen Disziplinen, auf die im folgenden Abschnitt eingegangen wird.

2.3 Gründe für Spracherhalt

Entgegen der Sichtweise, das Vorhandensein mehrerer unterschiedlicher Sprachen in einem Staat führe zu politischer Spaltung und widerspreche dem Verständnis von einem Nationalstaat mit nur einer gemeinsamen Sprache für alle Bürger (vgl. Krashen 1998: 5f.), argumentiert Fishman für den Erhalt sprachlicher Diversität und belegt anhand von Daten aus 170 Ländern, dass dieser Faktor nicht ausschlaggebend für politische Instabilität ist (vgl. Fishman 1990). Im Gegenteil, die Bewahrung und Akzeptanz selbst kleinerer Minderheitensprachen ist laut Fishman gleichsam ein Zeichen kultureller Demokratie (vgl. Fishman 1991: 3). Sprachliche Pluralität aufrechtzuerhalten, bedeutet demnach die Voranstellung von Identität vor Macht, von Individuum und Gemeinschaft vor Gesellschaft und gibt darüber hinaus nicht prestigeträchtigen Sprachen genügend Raum zur Entfaltung (vgl. ebd.: 6):

The destruction of languages is an abstraction which is concretely mirrored in the concomitant destruction of intimacy, family and community, via national and international involvements and intrusions, the destruction of local life by mass-market hype and fad, of the weak by the strong, of the unique and traditional by the uniformizing, purportedly ‘stylish’ and purposely ephemeral. (Fishman 1991: 4)

Es lassen sich zahlreiche weitere Argumente für den Erhalt einer Minderheitensprache jenseits von verklärter Vorstellung von sprachlicher Diversität anführen. So ist das Versprechen, durch die Mehrheitssprache sozial aufzusteigen und seine Chancen auf Erfolg zu erhöhen, insbesondere wenn man die Minderheitensprache hinter sich lässt, entgegen den in Abschnitt 2.2 zitierten Studien nicht universell einlösbar, wie die Forschungen von Brizić (2007; 2009) nachweisen. In ihrer Studie zeigte sich, dass Schülerinnen und Schüler mit der geringsten Deutschkompetenz gleichzeitig über die geringsten Sprachkenntnisse in der vermeintlichen Erstsprache verfügten. Dies widerspricht also den oben diskutierten Befunden, das schlechte Abschneiden Mehrsprachiger im Bildungssystem sei auf den Erhalt der Minderheitensprache zurückzuführen. Durch qualitative Tiefeninterviews mit den Eltern dieser Schüler konnte Brizić jedoch eine Erklärung für diese Feststellung finden und nachzeichnen, dass in der scheinbar homogenen Sprechergruppe eine Vielzahl an anderen, „verschwiegenen“ Sprachen gesprochen wurde. Diese Familien hatten den Prozess des Sprachwechsels bereits durchlaufen und schon vor der Migration eine im Herkunftsland nicht prestigeträchtige oder gar stigmatisierte Minderheitensprache zugunsten der offiziellen Mehrheitssprache aufgegeben. Brizić formuliert ihre Ergebnisse zusammenfassend wie folgt:

Die uneingeschränkte Weitergabe der Erstsprache von den Eltern an die Kinder könnte also tatsächlich so, wie es sich hier in unserem Sample präsentiert, einen entscheidenden Vorteil darstellen und sogar andere ungünstige Bedingungen aufwiegen; die teilweise Weitergabe und die Nichtweitergabe könnten dagegen gewissermaßen einen „Kapitalverlust“ bedeuten, da sie zu einem mehr oder weniger umfassenden sprachlichen Neuanfang zwingen – in der Migrationssituation möglicherweise eine besonders schwierige Ausgangsposition für jeden weiteren Spracherwerb. (Brizić 2007: 330; Hervorhebungen i.O.)1

Brizić betont also, dass die Aufgabe der familiär verwendeten Sprache in der Migrationssituation eine doppelte Belastung darstellt und die Familien sprachlich zu einem vollständigen Neustart zwingt. Somit führt Sprachwechsel zur Mehrheitssprache erst zu Bildungsbenachteiligung. Studien aus der interkulturellen Erziehungswissenschaft konnten ebenfalls nachweisen, dass diejenigen Sprecher der zweiten Generation erfolgreich am Bildungssystem und am Arbeitsmarkt partizipieren, die sowohl die Mehrheitssprache erwerben als auch die von ihren Eltern mitgebrachte Sprache beibehalten und diese als Ressource nutzen. Fürstenau (2004; 2005) legte eine Untersuchung zu Aufwertungsmöglichkeiten der Minderheitensprache in Ausbildung und Beruf aus der Perspektive Jugendlicher in der Phase der Berufsorientierung vor. In ihrer Arbeit zu portugiesischsprachigen Jugendlichen in Hamburg konnte sie u.a. nachzeichnen, dass sie ihre schulisch illegitimen Sprachkenntnisse durchaus eigenaktiv durch eine offizielle Zertifizierung aufwerten wollten (vgl. Fürstenau 2005: 373). Dies sei nach Fürstenau ein Versuch, sich gegen die bestehenden Verhältnisse auf dem sprachlichen Markt aufzulehnen. Auf dem Arbeitsmarkt zahlten sich insbesondere für die Jugendlichen mit höheren Bildungsabschlüssen die Kenntnisse in der Minderheitensprache ausdrücklich aus: Zusätzlich zu den von Esser (2009) genannten an die portugiesische Migrantengemeinde in Hamburg gebundenen Arbeitsmarktoptionen ergaben sich nach Einschätzung der Studienteilnehmer zahlreiche Berufsfelder in internationalen oder mehrsprachigen Kontexten (vgl. ebd.: 374). Zudem ermöglichte ihnen das Festhalten an der Minderheitensprache Portugiesisch, sich auch im Herkunftsland ihrer Eltern zu bewerben und dort beruflich tätig zu sein.

Auf positive Effekte des Erhalts der Minderheitensprache für das Individuum verweisen Ergebnisse der Akkulturationsforschung, die sich mit auftretenden Verhaltens- oder Werteänderungen bei Kontakt zwischen zwei unterschiedlichen Gruppen befasst (vgl. Smith 2014: 599). Die Arbeitsgruppe um Berry (vgl. Berry 1997; Berry et al. 2010) untersuchte mittels einer umfangreichen Fragebogenstudie das Akkulturationsverhalten von 5.366 Jugendlichen sowohl der ersten als auch der zweiten Migrantengeneration in 13 unterschiedlichen Länderkontexten. Darunter befanden sich klassische Einwanderungsländer wie die USA und Kanada sowie europäische Staaten mit hohem Anteil an Einwanderern wie Frankreich, die Niederlande und Deutschland. Als Akkulturationsindikatoren wurden kulturelle Traditionen, exogame vs. endogame Partnerschaften, soziale Aktivitäten, Freundschaften und Sprache ausgewählt.

Die Analysen belegen, dass der größte Teil der Jugendlichen (36,4 %) ein integriertes Akkulturationsprofil aufwies (vgl. Berry et al. 2010: 26). Das bedeutet, dass diese Jugendlichen sich sowohl der Kultur und den Traditionen ihrer Eltern als auch des Einwanderungslandes zugehörig fühlten und soziale Aktivitäten, Freundschaften und Partnerschaften unabhängig von diesen Kategorien wählten. Diese Gruppe berichtete eine ausgebaute Kompetenz in der Mehrheitssprache sowie eine durchschnittliche in der Minderheitensprache und wies stabile familiäre Beziehungen auf. Jugendliche mit einem nationalen Profil (18,7 %) zeichneten sich in der Studie dadurch aus, dass sie sich voll und ganz der Sprache und Kultur der Mehrheitsgesellschaft zuwendeten. Sie bevorzugten Kontakte zu Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft und lehnten elterliche Autorität stark ab (vgl. ebd.: 25). Ihr Akkulturationsverhalten wies die Tendenz einer völligen Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft auf.

Weitere Auswertungen belegten, dass Jugendliche mit einem integrierten Akkulturationsprofil sich weniger diskriminiert fühlten als solche mit einem nationalen Profil (vgl. ebd.: 29). Zudem zeigten Probanden mit einem integrierten Profil die besten psychologischen und sozio-kulturellen Anpassungsfähigkeiten im Vergleich zu den anderen Akkulturationsprofilen. Das bedeutet, dass sie sowohl über persönliches Wohlbefinden und mentale Stabilität verfügten als auch sozial kompetent in der Gesellschaft agierten. Sie waren zufriedener mit ihrem Leben, hatten ein höheres Selbstbewusstsein, weniger psychologische Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten und kamen in der Schule besser zurecht (vgl. ebd.: 32). Das nationale Profil hingegen schlägt sich in durchschnittlichen sozio-kulturellen Anpassungsfähigkeiten bei gleichzeitig nur gering ausgeprägten psychologischen Akkulturationsstrategien nieder. Solche Probanden hatten im Vergleich zu anderen Gruppen weniger Selbstbewusstsein und waren seltener zufrieden mit ihren Lebensumständen. Diese Befunde widersprechen also klar der Annahme, der Erhalt der Minderheitensprache zahle sich nicht aus und sei keiner Investitionen wert:

For governments in societies that are receiving immigrants, our findings suggest that there should be support and encouragement for immigrants to pursue the integration path, since both psychological and sociocultural adaptation are more positive among those who orient themselves in this way. […] First, cultural maintenance should be desired by the immigrant community, and permitted (even encouraged) by the society as a whole. Second, participation and inclusion in the life of the larger society should be sought by the immigrants, and permitted and supported by the larger society. (Berry et al. 2010: 38f.)

Weitere Studien bescheinigen Mehrsprachigen über die emotionale Ebene hinaus zahlreiche kognitive Vorteile. So konnten beispielsweise Arbeiten aus der Fremdsprachenforschung nachweisen, dass die Förderung der Minderheitensprache und ihre Nutzbarmachung im Unterricht nicht nur einen positiven Effekt auf die Deutschkenntnisse ausübt, sondern auch den Erwerb weiterer Sprachen unterstützt (vgl. Göbel et al. 2011; Hesse & Göbel 2009; Hu 2003; Rauch et al. 2010). Ergebnisse der DESI-Studie2 zeigen beispielsweise, dass mehrsprachige Schülerinnen und Schüler im Englischunterricht ihren einsprachigen Klassenkameraden um ein halbes Lernjahr voraus sind – trotz eines Leistungsrückstands im Deutschen. Ein Grund hierfür liegt in den sprachanalytischen Fähigkeiten, dem sog. metasprachlichen Wissen, das Mehrsprachige früher ausbildeten als einsprachig Sozialisierte (vgl. u.a. Bialystok 1986; 1991; 2009; Cummins 1978; Oomen-Welke 2006). Durch die bereits frühe Beschäftigung mit unterschiedlichen Sprachsystemen erfahren mehrsprachig aufwachsende Kinder stärker die formale Funktion des sprachlichen Zeichens und lernen, Form und Inhalt abstrakt zu betrachten (vgl. Adesope et al. 2010: 209). Ein weiterer Erklärungsansatz hierfür könnte die im Fremdsprachenunterricht geringere Bedrohung durch Stereotype sein (s.o.). Da das Lernen einer neuen Sprache für alle Kinder gleichermaßen neu ist und nicht so sehr mit Deutschkenntnissen verbunden ist wie andere (Sach-) Fächer, sind Mehrsprachige im Fremdsprachenunterricht keinen negativen Stereotypen ausgesetzt, die Stereotype könnten gar im Sinne der oben angeführten Argumentation positiv besetzt sein.

Erleichterte Erwerbsbedingungen gelten allerdings nicht pauschal für alle Mehrsprachigen, sondern betreffen nur Sprecher mit einem hohen Kompetenzgrad in beiden Sprachen (vgl. Cenoz 2003; Lauchlan et al. 2013; Rauch et al. 2012). Die Kenntnisse in einer Minderheitensprache können für einen Sprecher also nur dann von Vorteil für den Erwerb anderer Sprachen sein, wenn diese weit ausgebaut und erhalten sind. Weitere Belege für diese Schlussfolgerung liefert die Neurowissenschaft. Untersuchungen mittels bildgebender Verfahren wiesen nach, dass bei balanciert Mehrsprachigen beide Sprachen im gleichen Hirnareal aktiviert werden, während bei eingeschränkter Kompetenz in einer der beiden Sprachen ein zusätzliches neuronales Netzwerk aufgebaut wird (vgl. Nitsch 2007: 55). Der Mehrsprachige kann also nur bei ausgebauter Sprachkompetenz auf bereits vorhandene neuronale Strukturen zurückgreifen und diese für den Erwerb weiterer Sprachen nutzen.

Des Weiteren attestiert die Neuropsychologie Mehrsprachigen Vorteile bezüglich exekutiver Funktionen wie Problemlösekompetenz, mentaler Anpassungsfähigkeit, Aufmerksamkeitssteuerung oder kognitiver Flexibilität. Studien von Costa und Kollegen (vgl. Costa et al. 2008; 2009) zeigten beispielsweise, dass mehrsprachige Probanden in ihrem Sample effizienter und schneller Aufgaben mit inkongruentem Stimulus und widersprüchlicher Information lösten als einsprachige Studienteilnehmer. Sie schlussfolgern daraus, dass Mehrsprachigkeit einen besseren Zugang zu Aufmerksamkeitsmechanismen erlaubt, sodass diese Personen selbst unter erschwerten Bedingungen in der Lage sind, inkonsistente Daten zu verarbeiten (vgl. Costa et al. 2008: 77).

Ähnliche Ergebnisse lieferten mehrsprachige Probanden in den Studien von Bialystok und Kollegen (vgl. Bialystok et al. 2005; Emmorey et al. 2008; Moreno et al. 2010). Bei der Bearbeitung eines Simon Task3 oder bei der Beurteilung von Sätzen, die grammatisch und semantisch inkongruent waren, reagierten Mehrsprachige deutlich schneller und schnitten merklich besser ab als Einsprachige, was auf einen höheren Grad an kognitiver Flexibilität und Kontrolle der erstgenannten Sprechergruppe hindeutet. Diese Vorteile werden auf die Tatsache zurückgeführt, dass der regelmäßige Gebrauch zweier Sprachen ein erhöhtes Ausmaß an Aufmerksamkeit bei der Sprachwahl abverlange (vgl. Adesope et al. 2010: 208). Diese Aufmerksamkeitsleistung können die Probanden ebenfalls auf andere Bereiche übertragen und sie zur Lösung komplexer Probleme nutzen.

Diese auch medial sehr präsenten Annahmen der Neuropsychologie werden jüngst durch die Forschungsgruppe um Paap stark in Frage gestellt. In einer breit angelegten Studie testeten Paap und Kollegen 384 Probanden mithilfe von vier gängigen Testverfahren wie dem Simon Task oder dem Antisakkaden-Test4, um Unterschiede zwischen den einsprachigen und den mehrsprachigen Studienteilnehmern bezüglich exekutiver Funktionen zu erheben (vgl. Paap et al. 2014). Ziel war es, die gängigen Studien der Neuropsychologie zu replizieren und die als untermauert geltenden Ergebnisse zu bestätigen. Sie erhoben dabei zusätzlich Merkmale wie Beginn des L2-Erwerbs, Sprachdominanz sowie die Beherrschung weiterer Sprachen. Die Arbeitsgruppe konnte entgegen den bisherigen Annahmen unter keinen Bedingungen positive Effekte der Mehrsprachigkeit auf exekutive Funktionen auffinden: „It is likely that bilingual advantages in EF (i. e. executive functions, H. O.) do not exist. If they do exist they are restricted to specific aspects of bilingual experience that enhance only specific components of EF. Such constraints, if they exist, have yet to be determined“ (Paap et al. 2015: 276).

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9783823301707
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