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Читать книгу: «Ostexpress in den Westen», страница 11

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Um acht Uhr morgens, sehr pünktlich, kommt Martin ins Internat. In der Stube zagt Schlaf, und Larissa ist niemals zu wecken. Er rüttelt, spricht auf, und sie murmelt verdreht. Die Ungarin fordert zur Ruhe. So sitzt Sarodnick leicht in der Küche, und über die Scherben weht Kälte über der ewig tanzenden Flamme des Herdes.

Um zehn geht die Tür, und eine Nase schiebt sich lang ein: Die Ungarin hüpft im Nachtkleid zur Diele, stellt den Kessel aufs Gas, rümpft mit dem Mund und flieht danach vor dem Mann wieder davon. Nach ihr schleicht Sarodnick hin und kantet sich weich zu Larissa. Die wischt ihre Wange an ihm und flüstert sehr leise: „Komm in mein Bett.“ – Etwas rührt seinen Rücken, und nervös bittet er Larissa zu eilen: „Du hattest versprochen …“

Sie verspricht alles: „Bloß fünf Minuten für mich“, lallt sie, scheint wieder zu schlafen, und er schüttelt an ihrer Schulter, verzagt. Schnell rutscht sie seinen Arm in die Beine, und schließt wieder die Augen, unbeweglich, ihre Taille ganz leicht anhebend. Und abermals diese Minuten. – Ein Seufzer regt sie, die Ungarin fährt aus dem Bett und Martins Nagel heraus, glänzend im Licht.

„Schütte mir Wasser ins Glas“‚ bittet sie und trinkt ihr Frühstück zum Zucker. „Steh auf!“, fleht er, und sie erhebt sich sehr spät, geht waschen, später, kommt wieder, legt sich ins Bett: „Fünf Minuten ruh ich mich aus.“ – Er schimpft. „Dann fahre allein!“, antwortet sie und dreht sich zur Wand. Er bettelt, beschwört, und sie erbarmt sich zum Schluss. –

Sie nehmen den Eilzug nach Tula, nehmen in Tula den Bus und mit ihren Füßen den Rest.

Dunkel schon ist es in Jasnaja Poljana, und nur ein kleines Tor steht noch offen in dem Landgut von Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Längst ist das Museum geschlossen, und die Lichter geben keine Signale. Die beiden steigen den Weg ab, gewöhnen die Augen, lassen den mittleren Teich an der Seite mit der Strohhütte bei. „Da steckten Tolstoi und die Frau, um die Kleider zum Baden zu legen“, bemerkt leise Larissa. „Und im Winter, auf dem Wasser, gefroren, banden sie sich die Eisschuhe um.“

Aus dem Haus klingt Musik – Lev Nikolajewitsch trinkt seinen Tee nach dem Bade. „Wie gern hätte Sophia Andrejewna selber gespielt, vierhändig, die andere Hand in die seine gelegt. So aber korrigiert sie die ‚Kreutzersonate‘ und schläft in ihrem Zimmer allein.“ –

Sie ist sechzehn Jahre jünger als er, hat dreizehn Geburten gehabt, und er hat noch sechzehn Jahre zu leben.

Am Flügel sind sie zu zweit. Die Kinder stehen im Abstand, und der Dichter stampft unruhig im Raume, ausschreitend verkehrt. Tanejew spielt Beethoven vor, und unter der Ulme singen die Mädchen. „Wie zittert das Herz von der Frau.“

Es ist die Zeremonie ihres Herzens, und sie schöpft selbst da heraus, stellt sich dagegen, fühlt, wie es nicht ist, und läuft in die Arme, bleischwer vom Werk, in den Verrat ihres eigenen Mannes, und er hat noch sechzehn Jahre zu leben.

Dann, noch einmal geht sie zum Freund, setzt sich an das Klavier, möchte Partner noch sein, Freund und gar Mutter. Doch sie schwankt wie ein Blatt, ignoriert ihre Zeit, springt über den Graben.

„Lew ist heilig geworden“, weiß Martin klug, „er hat keine Begierden, keine Gier nach dem Wort. Er hört die Gottesworte in sich bis zur Verzweiflung, bis die Verzweiflung spricht, bis zur Ekstase: ‚Das Gottesreich ist in uns.‘ Lew schreibt sich ab, schreibt die Pelle vom Nabel, schreibt das Schlechte vom Himmel, bis es wieder zieht, anfängt zu drücken – die Hölle, die Frau.

Die Unschuld wird Schuld, die Mutter zum Leichtsinn verstempelt, und der Mann springt in das Opfer, reißt die Kleider von ihr, und findet auf den Kopf sich gestellt – das Blut in dem Kopf, findet er ab. Keuchend vergräbt er die Augen ins Laken: ‚Fluch über mich! Fluch dieser Frau! Fluch, fahre hinan!‘ – Alsdann reicht er ruhig das Manuskript ihr und sagt: ‚Bis morgen die Korrektur, die Kinder versorgen, die Abendlektüre bereiten, ein frisches Bett mir noch auflegen.‘ – Bis morgen. Er schreibt.“

„Die Schuld ist einzig in ihm“, nickt Larissa.

Tanejew spielt vierhändig mit Sophia die Kreutzersonate und Lew Nikolajewitsch begleitet sie rasend. „Eifersucht ist an ihm“, meint Martin, „kein Vorwissen, sondern einfaches Wissen von sich, von seinem eigenen Schatten. Er muss die Eifersucht sein, muss die Frau degradieren, muss den anderen als Hurenbock sehen. Aus der Unschuld wurde ein Lamm, geschoren, an den Pranger gestellt, und die Lust kam vom Zureden, Zugrunde-Reden des Engels, vom Verwerfen, Werfen mit Steinen.“ –

„Mit einem Engel geht man auch nicht ins Bett“, flüstert das Mädchen.

„Tolstoi wenigstens nicht“, spottet der Junge atembetäubt und ein wenig müde vom Reden. „Und wenn die wahre Sophia vortrat, die Geburtenmaschine, das Haustier, die Ehefrau, ging er neben ihr her, gleichgültig fremd. Sie war eine Ikone, eine Kirche, ein erlaubtes Weib Gottes.“

„Die Erbsünde …“, wendet schüchtern Larissa ein, „war nicht sein Vater erschlagen? Hat er nicht selbst in Sewastopol auch gemordet? Hat er nicht sein Geburtshaus verzecht? Seine Brüder gleichgültig begraben? Geschlagen die Frau …“

Eine Frau ist mit sich allein. Unter der Ulme singen die Leute. „Die Armen! Vergib uns unsere Schuld!“ –

„Sie lastet in Tolstoi wie das Grab auf dem Grünzweig der Kindheit, verwünscht“, fügt Martin hinzu, „dahinter laufen die Pferde – losgelassen im Ritt: ‚Lass sie doch gehen!‘ –, über die Birken von seiner Hand.“ –

Das Gutshaus ist wieder geschlossen. Es ist lange schon Nacht. Larissa und Martin sperren den Zaun und sperren das Haus, unscheinbar,jetzt im Dunkel. Alles senkt sich ins Finster, alles ist Schein. Durch die vergessene Pforte, über die Wege zu Fuß, laufen zwei in den Netzflug, in keine Besinnung, in den Zug, in den anderen Tag, in die andere Kunst, in die Menschlichkeit anders, in die andere Richtung, laufen zu Anton Pawlowitsch Tschechow. Sie reisen von Jasnaja Poljana zu ihm, so wie damals der Arzt zu dem Mann in den Jahren des Kreuzes. –

„Wegen Restaurierung geschlossen.“ – Melichowo wird gerade frisiert, und die Fahrt ist umsonst – wie die von Anton Pawlowitsch nach Poljana einst war gewesen: umsonst und vergeblich. Geschlossene Herzen werden überholt in der Nacht, und im Teich spielen sie Lieder. Am Baum lehnt das Mädchen, und die blaue Farbe des unschuldigen Hauses hängt in der Krone von Blättern.

„Unschuldiger Anton! Seine Menschen sind wie Holz, gestrichen Azur, und ein Zaun ist um die Farbe gelegt“, sagt das Mädchen zum Jungen. – Verschlossen. Wie lange? Melichowo, Jasnaja – feldklar wie Kreide … Den Weg sich gemacht und vergebens! Immer bleibt etwas liegen im Feld, auf dem blaufarbigen Holz, geschnitten im Weg. Tschechow ist über dem Weg nach Poljana. Dorthin, nachmals und niemals ging der Alte zum Jungen – es sei denn wenigstens über Gedanken. In Melichowo derweil beginnt der andere – schwerbeladen, weit abgesetzt, neue Schuld aufhäufend – die neue Periode.

„Das Krankenzimmer war eine Alltäglichkeit jetzt, eine Nummer wie sechs“, erzählt das Mädchen.

„Tschechow hatte schon von Kind an nicht gelebt“, widerspricht Martin ihr weise, „sondern geschuldet, unter der Schuld sich schuldig getan, seine verdammte Schuldigkeit nur getan, hat die Last der Familie auf sich genommen und das blaue Haus in Melichowo ihnen gezollt und so das Opfer gebracht – dem Vater, der Mutter, der Schwester, dem Menschengeschlecht. Die Zeit hatte ihn schuldig gesprochen, und er hat das Urteil für bare Münze genommen, war verdammt bis zum Tod, bis zum Tod nur ein Sohn, ein verlorener Sohn, ein Esau, mit Striemen betan, und er fühlte sich als Gewissen, als Schlächter, Gefehlter, im Dunkel Arbeitender, über alle Kräfte hinaus, sinnlos hinaus, in die Leere nur wirkend. In Melichowo schindet Tschechow sich tot – für alle zu haben –, von Morgen bis Morgen: im Rat, als Lehrer und Arzt, als Bauer von Schulen und Straßen, um sich darüber totlachen zu können, um den schwarzen Mönch zu sehen, ein Haus mit Zwischengestock – zwischen Abgrund und Abgrund. Einen Baum pflanzen, kultivieren, mit den Händen fassen den Schweiß, wissen und sterben. Im Melichowo hält er sich krampfhaft an seine Arbeit, um dieses Egal nur am Körper zu spüren – nicht mitten darin –, unter die Arbeit sich stürzend. Irgendetwas muss man wohl machen, muss man, dies und das ist zu müssen, und er freut sich vom Geschaffen und ist erschrocken – die Hand vor dem Gesicht –, schrecklich: ‚Na und?‘ – Schulen zum Drillen, Krankenhäuser zum Sterben, Wege in Weglosigkeit.“

Martin und das Mädchen laufen ins Gut. Eine Ecke springt der andren ins Auge. „Welch eine Arbeit!“ – Das geordnete Feld, ein Haus zum Hause gebracht, Pfade zur Reihe, die Funktionen im Winkel. „Welch’ Illusionen zwischen die Bäume gepackt!“ – Am Wege stehen brav Häuschen. „Braver Soldat Anton! Er hat es bis zum Letzten versucht, dem Menschen gegeben, und kein Mensch war neben ihm da. – Die Wildheit in diesem Poljana – über Jahrzehnte schon hin – verfolgt Tolstoi auf jedem Tritt – am mittleren Teich, unter den Birken und noch hinter dem Grab –, und zuchtlos züchtigt er sich vergeblich, gibt er sich aus. Dagegen hier in Melichowo steht nur die Zucht, die Zucht selbst wie vergeblich vom anderen Traum. – Er überreicht den Schlüssel vom Gut an die, die noch leben, die immer leben noch werden, die er gehasst und beneidet, die mit den Armen im Schoß. Melichowo wird zur Restaurierung gegeben, und Anton Pawlowitsch fährt in den Tod, in sein ‚warmes Sibirien‘, von den Teufeln bewohnt. Er wartet auf Schluss und wird nackt wie die Wahrheit, kristallklar – es ist nichts mehr zu tun.“

„Ich weiß“‚ gibt sie ihm Recht. „Ich hätte dich ohne dieses Wissen wahrscheinlich niemals geliebt.“ – Martin erschrickt bei dem Wort, verfängt sich unter dem Zaun. Ein Alter schreit wie am Stocke:

„Verschwindet! Könnt ihr nicht lesen?“

Sie haben bei Tschechow gelesen, sonst wären sie nicht übergestiegen über den Zaun und hätten nicht durch die verriegelten Läden stibitzt. „Ein Vogel hört Lieder, nie aber sein Lied. Seins ist nur Lockruf für wen“, sagt Martin. „Manchmal glaubt man, Tschechow singt für sich selbst, singt seinen Gesang, und der andere, der ‚Dicke‘, der sich dickmacht mit Noten, lockt Tausende nach Jasnaja und Poljana. In Scharen. Von Melichowo nach Tula, ‚von … zu‘, und es gibt kein ‚zu … von‘.“

„Als ob er das Glück sucht, als ob Tschechow die Hoffnung sucht, zu der er kein Recht hat, ist nur rechtlos dem Geiste verfallen – ein gefallener Geist – , um ihn so zerfallend zu machen“, antwortet das Mädchen entschlossen.

„Wie liebte Tolstoi diesen Jungen – wie er nach der eigenen Strafe seine Frau liebte ohne Geschlecht.“

„Auf dem Rücken des Pferdes ins Himmelreich blicken“, meint sie wieder zu ihm.

Das Mädchen und der Junge sitzen unter der Ulme, die Ulme ist Nacht, und das frisierte Haus hinter ihnen ist weder Geburts- noch Todesstätte, es ist beides zugleich. Leichtsinnig sind beide verspielt. Und mit hohem Bewusstsein. „Unter der Ulme spielt die Kreutzersonate“, sagt das Mädchen und zeigt auf den getretenen Pfad. „Da ist Tschechow gegangen – über den Punkt.“

Unter dem Fenster spiegelt das Lied. Es fröstelt. Der Junge klopft auf die Stiefel, Kristalle so streifend, als wäre es Wissen. „Wir sind spät“, drängt er zum Gehen, „der Zug.“

Das Mädchen hat die Hände auf seine Schultern gelegt:

„Zurückkommen ist einfacher noch.“ – In den Wintersternen ist das Holzhaus eine Winzigkeit nur und zehrt wie ein verloschener Funke, abrötend sich hinter dem Efeu.

„Er war einer der Größten“, sagt der Junge banal, und banal fängt er die Tränen auf seiner Wange. Niemals war er so weit von der Welt, so nah an dem Ich, und mitleidslos, vorsorglich fasst er die Hand wie die von der Schwester. Es ist ihm, als säße er auf dem Dache da oben, das Waldstück im Kopf sich verlaufend. „Ist es nicht vieles zu klein? Über die Wasser? Der erste Tag Schöpfung oder die Sonne?“ – Bloß der Atem des Mädchens geht neben ihm her: Er ist ein Nebelhorn in der Nacht.

„Früher war das ein Pfad, in die Felder gewebt, mit den Prägeschritten von Generationen“, ist ihr bewusst.

Das Mädchen und der Junge schreiten auf Asphalt. Ein ausgetretener Winter, der sanft schlafend hingeht zu anderen Leuten, zu den Gütern mit schlechten Zäunen drum rum, mit der Tafel „Tschechow hat hier gewohnt.“

„Er war nicht der Herr, war er der Herr?“, fragt Larissa.

„Ein Herr wie Gesinde. Vater, Mutter, Schwester – eine Herde hinter sich her, hungrig, hilflos, blutleerer Fels. Anton Pawlowitsch schlug einen Haken daraus, an den er sich hängte.“

„Der traurigste unserer Dichter“, regt sich das Mädchen.

„Traurig wie die Starhäuser auf den hohen Bäumen dort oben: ‚wie in der Strohhütte Platz‘“, antwortet er, „wenn wenigstens Liebe bei wäre! Doch Liebe war nur in den Bäumen, ausgeschlüpft, ausgeflogen – der Vater, die Mutter, die Schwester. Und die Schwester wurde zur doppelten Schwester: Krankenschwester, Leibschwester, die Seele im Haus. Sie hat Medikamente gerührt, die Toten gerührt, war in dem Bruder, und der tat ihr kein Leid, tat sie ihm leid – wie freilos er war. Sie wusch ihn rein – Maria Magdalena –, die Füße, von früh bis zum Abend darauf.“

Maria Pawlowna sitzt am Feuer und träumt von dem Mann, und der brennt in ihr, brennt eine Frage auf Lippen, ein Schweigen. Jede Bewegung ist eine Darbringung für ihn, eine Aufmerksamkeit, merkend im Haar. Sie ist eine christliche Schwester im Golgathaweg, das Schweißtuch auf ihm, und sie wird es bis zum Lebensabend hintragen: „Mein Gott, warum ist er mein Bruder?“ Sie drückt sich die Knie im nicht endenden Schmerz: „Der Mensch neben mir … – Eine Angst, eine Stille am Ohr.“ – Sie leben zusammen wie Mann und Frau und bemerken es nicht – éternel, schauerlich rein. Sie sitzen am Feuer. Maria Pawlowna legt ihr Tuch auf seine Brust, – perforiert –, und er legt seine Hand an ihr Herz – perforiert. Still atmen sie sich, freundlich frohleidend. „Geht es dir gut?“

„Gut. Und dir, meine Schwester?“ – Könnte er doch weggehen von ihr? Könnte sie es?

„Wenn er! Dann vielleicht …“

„Wenn sie, könnte ich …“ – Doch keiner könnte zuerst. Ewig sind sie zusammen: Schweiß, Schweißnaht im Blut und zu Geschwistern verlacht. Sein Schatten lastet auf ihr, lastet sie schwer, und sie sind glücklich im Dienen: ein Gottesdienst dies, ein Gebet. Und Gott ist lange verloren. Aneinandergelehnt schauen sie in den Garten – sich anblicken meidend –, in die Bäume, die starlosen Stare. Es friert. „Man könnte weiter oben eine Kirche anlegen.“ – Alles ist klug wie ein Drama. „Einen Anbau vielleicht für die Kinder“, sagt er, und sie errötet wie ein Ballkleid unter den Kerzen. „Schön nur über die weiße Wiese zu sehen.“ – Nicht von dieser Welt sind sie, eher von dort, von wo der Schnee fällt und womöglich darüber. Sie streicht ihm die Strähne aus seinem Glas:

„Es könnte so allartig sein und natürlich, es könnte immer so sein.“ – Er hustet den Auswurf:

„Die Rezepte hab’ ich schon durchgesehen, der Vater lässt fragen, die Gutsherrin, der Fabrikant …“ – Er schreibt an den lustigen Stücken. So köstlich lacht sie, wenn er ihr vorliest. Und die Leute sind einfältig – vom vielen Lachen die Falten.

Dann plötzlich geht er, muss gehen – die Ärzte! – nach Nizza und kehrt nicht mehr nach Hause zurück. Aufgegeben ist er, der Doktor hat seine Diagnose gemacht, ein Negativ-Tschechow hat sich begriffen und kippt den Kahn um mit dem Bade. Von Nizza geht er nach Jalta – er baut sich ein Haus ohne Vater und Mutter und Schwester. Tschechow verkauft Melichowo, verkauft seine Werke, und Tschechow ist frei: von vorne beginnen! Keine Verantwortung, keine Pflicht, keinen öffentlichen Dienst, keinen Beruf: „Alles ist Kunst.“ – Er ist ein Nur-Dichter, mit einem Beine in der Erde, weg von der Erde. –

Die Schwester führt Buch, Trauer und wie eine Ruine die Stadt: „Ich bin in Moskau und du?“

Weitab ist er am Meer, in Wäsche gehüllt. Ihn friert. Hat er Furcht vor dem Reinen, den luftleeren Räumen? Er glaubt nicht an sich, das Herz – schwach wie ein Beil – haut diese Wunde, und ein Lichtblick verteilt:

Nicht Reinbeißen, zum Wiederwidergebrauch.

Vom Norden träumt er, von dem Schnee und von Moskau. Mit Ironie. Alles phantastisch. „Mir geht es gut“ – und die Lieben fallen wie Seetauben rein. Er setzt den Punkt unter den „Kirschgarten“, holzt ihn ab, bleibt als der Alte zurück in dem Hause verschlossen und kommt im Winter nach Moskau. Seine Stunde weiß er geschlagen, die letzte Seite ist zu. Allein noch den Willen steht er sich zu: „In Russland will ich nicht sterben.“ Denn Sterben ist ein letztes Mal Ordnung, ist ein Haus mit dem Garten drum rum, ist Selbstdisziplin vor dem Chaos, vor dem Fried-Hof, Jungfrauenfriedhof im Lande. Und in Deutsch sagt er: „Ich sterbe“, trinkt den Sekt klar und verschließt von innen die Tür.

Im Kirschgarten von Melichowo schreien die Stare vor Hunger und Kälte.

„Dort in dem Flügel wurde die ‚Möwe‘ geschrieben. Alles ist blau, Strich unter dem Strich“, sinniert wieder der Junge.

„Als wäre es kein russischer Garten“, sagt das Mädchen über den Zaun. „Russisch ist Jasnaja Poljana: russische Idylle mit Birken und Flächen und Teichen ohne Funktion, mit viel sinnlichem Sinn. Zum Sehen, zum Baden, Spazieren.“

„Melichowo ist im Kopf aufgewachsen“, erwidert der Junge. „Obstbäume, Gemüsegarten, Teich in Karauschen, Blumen im Beet. Vielleicht hat Tschechow für Jasnaja Poljana geschrieben oder für Menschen mit Träumen aus Traum – wurzelvertrieben? Denn Träumen ist sinnvoll, Sinnphantasie.“

„Zwischen Träumen und Träumen gestanden“, nickt das Mädchen. „Russisch und Deutsch. An der russischen Krankheit gelitten, gestorben in Deutschland und wieder russisch zum Friedhof in Austern gebracht.“ –

„Der Dichter hat Ordnung gewollt, und es war ein obersätziges Unterfangen, nicht losgelassen, gebändigt.“

„Nur kranke Leute sind Weltenerbauer“, sagt das Mädchen plötzlich nach einer Pause. „Er hat die Welt ins Grab mitgenommen, und die Welt blieb hier draußen, wie sie ist, war und immer – ein undauter Traum.“

Schon im zweiten Tage schwanken die Kinder – so Halme –, und wie die Sumpftiere ziehen sie ihre Füße aus den Gedanken. Das Mädchen hat Hunger bekommen, und sie schlingt ihre Finger in Krabben. „Nimm!“, bittet sie, reicht sie, die Finger beklebt. Indes, der Junge ist aus dem Alltag gestiegen, weit weg:

„Tschechow hat die zweite Natur artifiziert“, dreht es ihm in dem Kopfe, „Tolstoi die erste vergegenständlicht und zusammen …“ – Die Krabben sind süß und kriechen wie die Pest in den Mund. „Wie kannst du die Gegend verseuchen, an diesem heiligen Ort!“, schimpft Martin und spuckt aus. Die Gedenkstätte ist geschlossen – vor Tula, dahinter. Zwei Stätten – ein Denken – eine ehrliche Zeit.

„Ich weiß nicht“, sagt sie zwischen die Zähne, „Melichowo stimmt traurig, Jasnaja Poljana aber sehr froh.“

„Das ist so: Anton Pawlowitsch haben alle geliebt“, erklärt er. „Tolstoi hat Tragödien geschrieben, Tschechow hat sie gelebt. Tolstoi hat sich die Krankheit vom Halse geschrieben, Tschechow sie an den Hals sich gehängt. In Jasnaja Poljana steht’s in den Zeilen, in Melichowo alles dazwischen.“

„Wo würdest du lieber wohnen wollen?“, fragt überraschend das Mädchen.

„Natürlich dort“, antwortet er, und sie nickt beipflichtend zu. Die beiden sind ihre Gleise gegangen, über die Schwelle getreten bis zum Relais. Zwei Tage waren in Not, ohne Liebe, weil er es gewollt, waren stille, mit übergeschlagenen Beinen, und sie haben die Bücher entblättert wie fauler Odem den Zauber. Sie war ihm nähergekommen über das Wissen, und erschreckt rotiert er von ihr. Hatte er nicht das Gegenteil von dem angepeilt? Hatte er sie nicht vom nackten Sockel stoßen gewollt? Jetzt stößt sie eigen hier hoch, gleichhoch, gleichnah, reicht ihm das Wort. Und unwillig – das Erstaunen wahrnehmend – geht Sarodnick ein.

Sie erzählt außer Chronik, erzählt aus dem Stegreif, hat es vermutlich gerade erfunden.

„Wahr ist niemals am Ufer, sondern wie eine Feder darin“, sagt sie. „Es ist aufs Felle geschrieben, und der Platz richtet sich ein.“ – Ein Platz an der Sonne, zum Wärmen, Verbrennen. „Lebe als Flamme! – Es geht länger bergab – wie in Jasnaja Poljana darnach. Später ist es leichter zu leben, die Knochen sind gebrechlicher wie.“

Als der Zug fährt, sind die zwei umfallend müde, und sie stützen sich gegenseitig im Rücken als Lehne. Ihre Köpfe mischen sich an den Punkt, dass es schmerzt. Den Jungen verlangt’s nach der Tüte, die aber ist leer. Sein Essen daut nicht nach seinem Wunsche, wie Wünsche sich fressen zu Staub.

Ein zerschlagenes Fenster zieht Nachtkälte ein, die sich in die gleichgültigen Holzsitze trägt: Zu dieser Stunde schlägtder Widerstand fehl. Schwunglos läuft das Mädchen hinter dem Schlaf, einholend, lassend dann wieder auf der holprigen Strecke. Trauzart ist es beim Jungen, liebt ihn, der neben ist wie eine andere Welt. Freilich, diese Fahrt hat ihn erkenntlich gebracht, und es hat eine Kruste, die allmählich bricht. Hat er nicht ihre Geschichte erobert, ihre Vergangenheit zusammengeholt? Will er sie fassen als Subjekt? Ganz? Über den goldenen Umweg? Über die Wurzel? Die russische Farbe? Greifen das Mädchen mit Zöpfen, welches in der Vorflut und Stammbüchern wächst? Oder ist es für ihn bloß ein literarisches Phantom? Eine Kritik über dem Kreise? Eine Expedition? Und sie ist Reisebegleiter, das Schild für die Langeweile, ein Ausländerversteck ohne Visum? Ist der Reiz einer Schlange durch die russischen Felder, reizvoll und schön?

Im Rücken spürt ihn Larissa – eine Last aufgebürgt, eine Liebe – könnte sie sprechen mit ihm! Er aber denkt im Traum nicht daran, denkt, Tolstoi ist begnadet, Tschechow ist Gnade. „Sind sie heute noch möglich? Sind ihre Frauen schon tot? Oder sind sie erlebbar, liebbar, zu lieben? ein Märchen oder Märchenfiguren? Geht man mit ihnen zu Bett?“ Nina, Mascha, Natascha, Anna, Katja. – „Er würde ihnen eine Erklärung machen, auf der Stelle für sie. Die Kunst ist dem Leben hausmannsüberlegen, sie ist meilenbreit ihm voraus.“ – Holt aber dieses Mädchen nicht die Wirklichkeit ein? Ist Larissa nicht für ihn selbst ein Roman? – Irritiert und verletzt schiebt Martin Bedenken beiseite: „Eine Romanfigur muss man schaffen! Sie ist nicht vordem, von vornherein da, schaffen muss man, einen Punkt stellen und weiter. Larissa aber hält auf, ist da, vor mir gewesen, ist denkbar auch ohne mich und nur ohne mich. Zu viel EigenSein hat sie, ist aus den Seiten gesprungen, geplatzt vor den Sinnen, als Lyrik dran war. Sie lässt nicht in Ruhe, rennt gegen das Schaffen, kappt das Ziel mir weg unter den Beinen, dass ich die Lust aus den Augen verlier – Lust materialisiert –, und das Buch liegt mit der ersten Seite im Schoß. Wäre sie ganz ohne Fleisch, bloß Tinte, Schönheit im Bild – wie das Bild Imagination –, nur Mädchen und wenig Larissa, Mädchen in Melichowo, unter der Ulme, vierhändig an dem Klavier, als Muse und Eifersucht reproduziert!“

Martin nimmt den Rücken von ihr und liest Gorki über Tolstoi, Gorki über Tschechow, Gorki beide zusammen. „Die Weisheit hat dieser kühl heruntergewürgt und war ein neuer Weiser geworden. Höher? Oder in einer Linie? Spirale? Oder nur Kreis? Tolstoi oder Tschechow?“ – Der Junge liest, auf der Holzbank gemurmelt: „Würde es nicken, das Rätsel, der Zeuge selber gezeugt!“ – Auf der Bank, wie zwei Tage in Liebe – ihre Legende gewebt –, vor den Läden in Melichowo am Teich, um zu baden hinter dem Zaun: „Stände ich immer darum!“ – Als wäre Poljana ein Zaun! – ist offenliegend wie Fläche – eine Natur –, geht in die Natur, über die Teiche und Lücken – wie in Melichowo die Hecke, der Graben. Ein Stück entreißt sich davon, veredelt – edel und gut. „Melichowo ist edel, Poljana ist gut.“ Der Garten und unendlich Gut, Land wie es ist, Land wie es sein könnte, real und über real, zusammengefasst wie im Zuge – der Junge, das Mädchen zusammen gefasst jetzt. Gorki im Buche. „Wie viel hat er geschrieben? Und wie viel auch nicht?“

Im Wagen schlafen sie schon, und leicht wiegen sie weit wie im Bett unter den Rädern, das Gesehene einstampfend allzeit: Räder zum Wiegen. –

Schwer überkippend am Kutusow-Prospekt wohnen die Herren der Herren, und salzig wie Speck stützen sie in die Kraftautos sich. Sie splittern glatt über die Straße – ohne Kante und Krume –, wo Wege normal sind wie ausgetretene Schuhe. Ein Lackstiefel ist’s für die schwarzsargigen Limousinen mit den Regeln wie für die Katz und auch für den Mann mit der Datscha in der selbigen Richtung. Dieser Mann aber ist schon ein Mann, denn die Sommerhäuser dort liegen nicht einfach so auf der Straße. Freilich, er ist nach dem Gesetz – die schwarzen Insassen neben ihm nur liegen daneben.

Zuerst passieren die Bullaugen ihn, die mit dem dreifachen Guckscheibenspalt, dann die größeren, die richtigen Fenster, alsdann die Möwen und Wolgen. Darnach – langtrottend, atemanhaltend im Abstand – folgen die Autos zum Zählen. Manchmal fährt ein Diplomatenschild schnell wie ein Haase und duckt sich gewagt an den Ecken, die vollgesät sind mit Posten, weißsteife Manschetten um die salutierenden Arme gestreift. Moschaiskoje, Rublowskoje Chaussee. Hier biegen die gezogenen Gardinen nach rechts. Ihre Häuser bläken wie Kalk. Ein Wochenende beginnt. Die anderen suchen das Weite, freuen sich, dass sie was sind, und fahren zum Nikolas Berg. Ein Mächtiger hatte dort parzelliert und schenkte göttlich den „Nicht-Jeden“ einen Fetzen von Land. Die Kinder sind Kinder von ihm, aus seinem Schädel gesprungen und springen nicht weit. Sie haben die Wohnung im Zentrum der Stadt und das Haus am sauberen Knie dieses Flusses.

Das Mädchen bezahlt für das Taxi – ist doch weiter kein Weg –, und sie werden die Stiefel benutzen. Rechterhand auf die Halbinsel gestellt, rasten die Pferde in Rasse. „Bis hier darf ich. Nicht weiter“, konstatiert Martin. Die Moskauumgebung ist an ihre Grenze gestoßen, ist Umgebung inoffiziell, ist inoffizielle Schönheit drum rum.

Die beiden schielen an der Moskwa vorbei, die Eisstücke treibt, kurven links in den Acker und laufen dem Staatsgute zu.

„Wo bellen die Hunde?“ – Quer mit dem Finger zeichnet Larissa über die Furchen, und sie folgen dem Finger auf Tritt. An seinem Ende heben sich Berge, glattgekämmt wie ein Wall, als wären sie nur so auf die Felder geschüttet, um sich zu verstecken vor wem. Dicht steigen sie an – zum Halsbrechen steil! –, und vom Kamm lauschen künstliche Augen: „Dorthin kommt nichts ungesehen geahnt.“ Das Mädchen birgt an einen Baum, lehnt hinten sich an, die Arme um seinen Jungen, der sich ziert wie die Tanne. „Wir müssen so tun, als wäre es ob!“, küsst sie ihn, „ohne ist es gefährlich.“ – Und sie umarmen sich „ob“ – wie lang ist’s her? Ist er nicht Geist geworden, Kunstgeist, Gespenst, hat Enthaltung gepriesen, Kasteien, war in dem Kasten mit der Liebsten gepackt, und nichts ist passiert? War es ein Selbstexperiment? Ein Resultat, geistvoll oder vergeistigt? Oder war es Geistesentschluss, Geistesverschluss und Versagen? „Gelegenheit macht Schwachköpfe draus.“

Er küsst sie – nicht unwohl steht ihm die Rolle: Er ist wie ein Fischbein an Land –, küsst sie, als sei es Befehl von ganz oben. Freilich, ihre Lippen sind nicht danach, sind weich wie die Wonne und gehen von unten ins Fleisch. Glücklich hält der Baum das Mädchen in Weise, und es sinkt in die Krone, presst den Leib an den aufbäumenden Sinn: „Wie hab’ ich’s gemisst!“ – Er fühlt sie im Zeh und denkt mit dem Finger; seine Schwüre sind hin. Sie kreist ihm den Hals über den Kopf, und er flüstert ihr zu: „Die können uns sehen!“

„Sie können“, atmet sie ihn, „und benachrichtigen ihre Zentrale.“ „Benachrichtigen?“

„Sie schicken eine Streife zu uns. Hier ist alles verboten.“ „Verboten?“ – Weiß stößt Martin sich ab: „Du bist wohl verrückt! Komm von hier fort.“

„Es ist doch bloß so!“, küsst sie ihn wieder. „Wir müssen nicht fallen.“ – Sie streift die Verbindung, die Bindung, den inneren Bund, den ihr Mantel verdeckt, deckt lange und ruhig aneinandergedrückt den Mund in den Mund. Ihren Herzschlag indes kann gar niemand sehen, von außen ist alles normal. Ihre Hand ist am Band schwerfingerspitzig errötend – alles normal, ein Liebespaar, ein Bund, eine Hand, ein weitlieblich Paar. – Ein weicher Faden läuft über die Elle, und sie zieht das Blut in den Mund bis der Kopf sich gegen die Baumrinde wirft, sinnlos, besinnungslos, Blindreiz. Dann rutschen langsam ihre Beine ins Knie, sinken zusammen ins Lot.

Alles im Rechten! Bloß schlecht ist dem Mädchen geworden. Der Junge kümmert sich schon, hebt es auf und stützt, zu einem Stumpfe es schleppend. Dort erholt es sich rasch.

„Siehst du das Fenster? Das Dach?“, fragt sie nach einer Pause und schaut vorbei in die Höhe. „Dort hat Gorki gewohnt. – In Gorki ist Gorki geboren, und in Gorki ist Gorki gestorben. Nischni war zu Gorki geworden und dies Gorki war immer schon Gorki: wie Gorki 1, Gorki 2, Gorki l0, wie Gorki, wo Lenin seine Geistesumnachtung austagte.“

„Wie Gorki aus ‚Bergen‘ besteht“, belehrt sie der Deutsche.

„Alle Berge sind ‚Gorki‘ im Deutschen, und nur die namenlosen davon sind Gorki geblieben, als die Häuser sich setzten auf sie. ‚Gorki‘ ist auch ‚bitter‘ in Deutsch. Der Bittere war in Gorki, und Gorki im ‚Bitter‘, und ‚bitter‘ in ‚bitter‘. In Bitter ist der Bittrige gestorben.“

„Worden.“

„Eine bittrige Sache: Gorki wurde sein Lebensabend versalzen!“ – „Gorki hatte seinen Vorschlag gemacht, und damit war für Jahrzehnte alles gesagt“, spielt Martin ins Horn. „Da war für viele nichts mehr zu sagen. Die Erde war aufgeteilt: schwarz oder weiß.“

„Romantischer Realismus“, sagt das Mädchen, „positives Märchen: Es wird einmal sein.“

„Dann wurde ‚Sozialismus‘ anstelle gesetzt, Dreieinigkeit – Glaube, Hoffnung und Liebe.“

„Gorki hat es so gar nicht gemeint“, widerspricht ihm das Mädchen.

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