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Warum müssen eigentlich ausgerechnet Tauben das Symbol für den Frieden sein?

Es klingelte am frühen Montagabend. Eine Nachbarin aus dem Vorderhaus stand vor der Tür. Ich überflog die kleine Armada der in unserem Flur lagernden Pakete, konnte aber ihren Namen nirgendwo entdecken. »Tut mir leid, ich glaube, wir haben nichts für dich«, wollte ich sie gerade enttäuschen, aber sie kam mir überraschend zuvor und meinte, sie wolle diesmal gar kein Päckchen abholen, sondern vielmehr mich. Ich schaute überrascht auf. Sie war wirklich nett und sah gut aus, wir hatten ein paar Mal nett geplaudert, aber diese stürmische Entwicklung überraschte mich nun doch ein wenig. Bei ihr im Vorderhaus säße im Flur eine Taube, erklärte sie mir. »Damit habe ich nichts zu tun!«, wehrte ich schnell ab. Weil ich mich mit Reptilien beschäftige, glaubt immer jeder Nachbar, ich sei für jedwedes tierische Leben im Umkreis von einem Kilometer persönlich verantwortlich. Ich sollte schon einmal eine Ratte aus einem Badezimmer treiben, eine gerade flügge gewordene Amsel aufziehen, die bei ihren ersten Flugversuchen über die Straße getorkelt war, ich musste eine Katze vom Balkon einer unbewohnten Wohnung locken und ein vermeintlich ekliges Rieseninsekt aus einer Küche bergen. Gut, da war mir wohl tatsächlich eine meiner Madagassischen Riesenfauchschaben entkommen, aber natürlich wies ich empört jede Verantwortung von mir. Kurzum: Ich bin der Professor Grzimek des Wedding.

Jetzt also eine Taube. Da hatte ich nun allerdings wirklich keine Lust drauf. »Ach, die findet schon von allein wieder raus«, versuchte ich, die Nachbarin abzuwimmeln. Doch die war hartnäckig. Die Taube säße so merk­würdig da, ich solle doch mal gucken. Meine Söhne, die inzwischen hinzugeeilt waren, drängten mich nun ebenfalls: »Geh doch gucken, Papa, und wenn die Taube nicht mehr fliegen kann, dann mach sie schnell wieder heile.« Dabei gibt es doch ohnehin viel zu viele Tauben, aber was soll’s.

Ich folgte also der Nachbarin ins Vorderhaus und ließ mir den Pechvogel zeigen. Er saß auf dem Boden und sah eigentlich ganz normal aus. Wenn man mal davon absah, dass sein Kopf um etwa 90 Grad nach links gedreht war, der Hals dafür aber um 180 Grad nach unten, sodass die Schädeldecke des Tiers auf dem Holzboden auflag. Und bis auf den ausgerenkten Flügel, der schlaff und leblos nach unten baumelte. Aber sonst sah die Taube ganz OK aus.

Ich betrachtete sie nochmal eingehend, dann teilte ich der Nachbarin meine fachliche Expertise mit: »Die ist völlig in Ordnung. Die muss sich nur mal kurz ein bisschen ausruhen. Spätestens morgen früh ist sie wieder weg.« Ich hoffte insgeheim auf die Katze aus dem vierten Stock. Die würde das Problem schon lösen.

Die Nachbarin wirkte nicht überzeugt. Sie beugte sich zu dem Vogel hinunter, der sich erschreckte, drei Schritte nach links hüpfte, dabei ins Wanken geriet, umfiel und auf dem Rücken landete. »Siehst du«, sagte ich, »die will sich einfach nur ein bisschen hinlegen. Wir lassen sie am besten rasch in Ruhe.« Nun begann die Taube, wild mit den Beinchen zu strampeln und mit dem rechten, offenbar noch fest im Rumpf verankerten Flügel herumzuschlagen. Dabei gab sie jämmerliche, kehlige Laute von sich. Die Nachbarin sah mich vorwurfsvoll an. Verdammt, dabei fand ich sie wirklich nett. Was sollte ich jetzt machen? »Die schafft es nicht mehr«, stellte die Nachbarin völlig zutreffend fest, »wir müssen sie erlösen.« »Na gut, dann erlösen wir sie mal«, gab ich ihr zähneknirschend Recht. Wir schauten uns beide ratlos an. »Ich fürchte, ein Tierarzt hat nicht mehr auf«, gab sie schließlich zu bedenken. »Vielleicht sollten wir sie einfach in einen Karton setzen und bis morgen ein paar Brotstückchen anbieten?«, überlegte ich. Die Taube riss derweil den Schnabel auf, würgte und gurgelte heftig, schlug wie wild mit dem noch funktionstüchtigen Flügel und bollerte wie ein frisch losgelassener Kreisel von einer Hauswand vor die nächste. Wir seufzten. »Soll ich ihr einfach auf den Kopf treten?«, fragte die Nachbarin. Das wäre zweifellos das Beste, dachte ich. Aber erst, wenn ich wieder weg bin.

Der Blick der Nachbarin verriet mir allerdings, dass diese Variante auch nicht ihrer Erwartungshaltung entsprach. Dann sagte sie: »Du bist doch so was wie ein Biologe, oder?« Verdammt, jetzt hatte sie mich. Ich ergab mich in mein Schicksal. »Ich glaube, Kopfzertreten ist nicht ganz state of the art«, sagte ich also. »Ich geh mal kurz in mein Büro und schaue, wie man das machen muss, OK?« Sie sah mich zweifelnd an und fragte: »Und wie schaut man so was nach? Einfach googlen nach: Wie mache ich eine Taube tot?« »Ach was«, wehrte ich ab, »das steht im Tierschutzgesetz, das ist sogar für jede Tiergruppe einzeln vorgeschrieben, wie man das machen muss. Ich bin mir nur nicht mehr ganz sicher, ob bei Vögeln durch Genickschlag oder durch Kopfabtrennen.« »Klingt ja beides ganz gut«, sagte die Nachbarin, »ich passe dann mal solange auf die Taube auf.« »Ja, pass gut auf, dass sie nicht abhaut.« Die Taube lag weiter auf dem Rücken und zuckte mit den Beinen.

Ich schlich mich in die Wohnung, setzte mich an den Computer und googelte: Wie mache ich eine Taube tot? Kurz darauf war es traurige Gewissheit: Wenn keine Betäubung zur Verfügung steht, muss man dem Geflügel den Kopf mit einem gezielten Schlag abtrennen. Ich seufzte erneut, schnappte mir eine Plastiktüte und ging zurück ins Vorderhaus. »Und?«, fragte die Nachbarin. »Kopf ab«, sagte ich. »Oh«, sagte die Nachbarin.

Ich griff die Taube entschlossen mit der Tüte. »Ich gehe dann mal kurz in den Keller.« Sie nickte und flüsterte: »Ich warte hier.« Im Keller schnappte ich mir ein scharfes Messer, legte die Taube auf die Arbeitsplatte und schlug zu. Einen Moment später war das Drama beendet. Man hört ja immer so Geschichten, dass Hühner mit abgeschlagenem Kopf noch weiter durch die Gegend laufen. Das kann ich für Tauben nicht bestätigen. Dafür allerdings wollte sie den Schnabel immer noch nicht halten. Immerhin hatte er aufgehört, die merkwürdigen Laute zwischen Gurgeln und Gurren von sich zu geben, ohne Kehlkopf geht das vielleicht aber auch einfach nicht mehr so gut. Lautlos öffnete sich der Schnabel noch ein paarmal, bis endlich Ruhe war.

Ach was, Professor Grzimek – ich war der Dennis Cus­pert der Seestraße. Immerhin, die Taube hatte es hinter sich, sie war den Märtyrertod gestorben. Mögen im Him­mel 72 jungfräuliche Weißbrote auf sie warten. Ich räumte sie in die Tüte, nahm mein blutbeflecktes Werkzeug mit, um es oben in der Wohnung zu säubern, und ging wieder raus in den Innenhof. Die Nachbarin schaute mich mit großen Augen an, ich nickte ihr beruhigend zu. Es war geschafft. Wir gingen zu den Mülltonnen, und ich wollte schon den großen Container öffnen, aber sie schüttelte den Kopf und hob den Deckel der Bio-Tonne an. »Das sind wir ihr schuldig«, flüsterte sie.

Wir verabschiedeten die Taube und sahen uns an. Ich stand vor der Nachbarin, in der Hand das blutverschmierte Messer. Sie hauchte: »Vielen Dank. Das war sehr männlich von dir.« Ich schluckte. Männlich! Sie hatte wirklich männlich gesagt. Verdammt! Wenn ich das doch nur früher gewusst hätte! All diese mühevollen vergeblichen Jahre, und jetzt, wo ich es gar nicht mehr brauchte, endlich die Lösung: So also flirtet man im Wedding!

Als ich zurück in die Wohnung kam, hörten die Kinder mich und fragten, was mit der Taube denn nun gewesen sei. »Ach«, sagte ich, »keine Sorge. Die ist schon wieder weg.« Na ja. Richtig gelogen war das ja immerhin nicht.

Fotoshooting

Als vor einigen Jahren das erste Mal eine Zeitung einen Artikel über mich schreiben wollte, fand die Redakteurin, dass es eine originelle Idee sei, mich beim Essen einer Portion Pommes vor dem Imbiss zur Mittelpromenade zu fotografieren. Der kommt in einigen meiner Geschichten vor, außerdem sei der »im Wedding total authentisch«. Als einige Zeit später eine andere Zeitung einen Artikel über mich schreiben wollte, fand die diesmal zuständige Redakteurin, dass es eine besonders originelle Idee sei, mich beim Essen einer Portion Pommes vor dem Imbiss zur Mittelpromenade zu fotografieren. Pommes wirkten einfach »total authentisch, zumal im Wedding!« Als der lokale Fernsehsender wiederum einige Zeit später einen Beitrag über mich für sein Kulturmagazin drehen wollte, fand die Filmautorin, dass es geradezu zwingend sei, mich beim Essen einer Portion Pommes zu filmen, weil Pommes nun einmal für Weddinger Authentizität stünden. »Gut, gehen wir zum Imbiss zur Mittelpromenade«, ergab ich mich in mein Schicksal. »Nee, bloß nicht, das ist nicht originell genug«, sagte die Frau zu meiner Überraschung, »Sie nehmen die Portion Pommes und stellen sich damit an eine Zapfsäule bei Aral.« »Was?« »Sie haben doch mal über die Aral-Tankstelle geschrieben, oder?« »Ja, schon ...« »Na also, das passt doch super.« »Aber bei Aral gibt’s doch gar keine Pommes.« »Genau. Wir brechen die Erwartungshaltung der Zuschauer. Wir sind schließlich ein Kulturmagazin! Weddinger Authentizität wird gespiegelt durch ein Symbol der Moderne!«

Was folgte, war einer der unwürdigsten Auftritte meines Lebens. Ich stand mit einem Papptablett voller Pommes vor einer Zapfsäule von Aral und sollte so tun, als würde ich auf eine aufgespießte Fritte starren und dabei nachdenken. »Ich soll was?« »Na, nachdenken. Auf die Pommes gucken und nachdenken. Du bist doch Schriftsteller.« Das war natürlich ein schlagendes Argument. Also spießte ich eine Pommes mit meinem grün-trans­parenten Plastikpieker auf, drehte sie nachdenklich nach links, drehte sie nachdenklich nach rechts und dachte darüber nach, was zum Teufel ich falsch gemacht hatte in meinem Leben.

Ich war also nicht besonders überrascht, als der Fotograf der Zeitung, die eine Geschichte aus meinem letzten Buch »Im wilden Wedding« abdrucken wollte, der Meinung war, dass es zur Illustration ein besonders gutes Motiv sei, mich mit einer Portion Pommes in der Hand zu zeigen. »Gut«, sagte ich resignierend, »wo machen wir’s? Tankstelle, U-Bahnhof, City-Toilette?« »Nee, ich dachte eher an eine Pommesbude.« Gute Idee! Ich war erfreut.

Der Diensthabende vom Imbiss zur Mittelpromenade ist Routinier. Klar, Foto beim Bestellen, gerne doch. Foto beim Rausfischen der Boulette aus dem Sud, selbstverständlich. Wir sind nicht die ersten Mediengestalten, die irgendwas über den Wedding »machen«. Ghettoisierung, der kommende In-Bezirk, sozialer Brennpunkt, Gentrifizierung – irgendwas ist ja immer. Und wir sind auch ganz offensichtlich nicht die Ersten, die finden, nichts sei dazu passender zur Versinnbildlichung als der Imbiss zur Mittelpromenade. Den Mann bringt nichts aus der Ruhe.

Nicht einmal seine eigene Kundschaft: An einem der Stehtische steht ein älteres Paar, das uns argwöhnisch mustert. Am zweiten Tisch steht eine Dreiergruppe, von der einer laut ruft: »Fotze! Fotze! Arschloch! Tourette-Syndrom, vastehste?« Mir erschließt sich zunächst nicht, ob er daran leidet oder seinen Begleitern nur sehr lebhaft zu erklären versucht, was das ist.

Ich schaue zum Imbisswirt. Die Boulette, das erkenne ich sofort, ist immer noch genau so eklig wie vor Jahren, als ich meine erste Geschichte darüber geschrieben habe. Sehr gut, ich bin erleichtert. Unsere Bastion gegen die Gentrifizierung steht. Selbst wenn die Hipster jeden noch so absurden Quatsch plötzlich Kult finden: Ein Gang zum Imbiss zur Mittelpromenade bringt die Dinge wieder ins Lot. So angesagt retro können die gar nicht sein, als dass nach einer der hiesigen Bouletten nicht rasch wieder klare Verhältnisse herrschen würden: Die Trend-Deppen sind mit Darmverstimmung rasch wieder verschwunden, während die wahren Weddinger die schleimig-homogene Masse, die mit Fleisch so viel zu tun hat wie ein Tofu-Bratling mit einem T-Bone-Steak, widerspruchslos mit ungerührter Miene abschlucken. Wer hier mit dem Mundwinkel zuckt oder sonst eine menschliche Regung zeigt, ist draußen. »Arschkrampe! Wichser! Fotze!«, grölt es vom hinteren Tisch. Es klingt geradezu enthusiastisch. Jetzt bin ich sicher, dass der Typ Tourette nur spielt, um es seinen Begleitern zu demonstrieren. Das gibt es ja immer mal wieder, dass Leute glauben, irgendjemand habe davon noch nichts gehört. Dann können sie endlich mal ohne schlechtes Gewissen all die schlimmen Wörter sagen, die sonst streng geächtet sind. Das habe ich schon oft erlebt und ich frage mich, ob dieses Verhalten nicht vielleicht schon längst als Meta-Tourette-Syn­drom in der Fachliteratur beschrieben ist.

»Tablett oder Teller?«, fragt der Imbisswirt. Ich schaue ihn verwundert an. »Hä?« »Na, hier: Papptablett oder«, er zeigt auf einen Geschirrstapel hinter sich, »Porzellanteller.« Ich bin verblüfft. »Seit wann habt ihr denn Geschirr?« »Tja«, strahlt er, »ist neu. Gut, oder?« »Papp­tablett, bitte«, sagt der Fotograf, »soll ja authentisch nach Wedding aussehen.«

»Was wird denn das, machste mit bei Deutschland sucht den Superstar, oder was?«, fragt der Mann vom Stehtischchen neben uns. »Nee, wir sind von der Zeitung«, erläutert der Fotograf. »Von der Zeitung? Na, dann schreibense in Ihre Zeitung mal rin, dass wir von Ausländern überrollt werden!« »Genau«, sekundiert seine Begleiterin, »das müssense da mal rinschreiben! Aber das trauta euch ja nich. Das dürfta ja nich. Befehl von janz oben, wa?« Dann dreht sie sich zum Imbisswirt und ruft ihm zu: »Nicht wahr, Turgut? Das dürfen se nich!« Der Imbisswirt nickt ruhig. Ihr Begleiter bekräftigt noch einmal: »Geht doch alles den Bach runter hier. Nur noch Ausländer! Bald sind wa alle Islam. Und dann noch die Sache mit dem Euro!« »Allerdings!«, ruft die Frau, »die Sache mit dem Euro ooch noch. Der wird uns noch alle ruinieren, nicht wahr, Turgut?« Turgut steht ungerührt in seiner Bude und spritzt Mayonnaise auf die Pommes. »Ich hab die Schnauze voll«, tut der Mann jetzt kund, »ich hau hier ab. Ein Jahr und zwee Monate noch, dann bin ich durch, dann mach ich die Biege. Majorka, schön. Da hab ich ’n Häuschen. Da isset schön. Schreibense das ma inne Zeitung: Dass hier bald alle abhauen, wenn das so weitergeht mit die Ausländer und dem Euro.« »Arschficken! Fotze, Fotze!« Der Typ einen Tisch weiter kriegt sich gar nicht wieder ein vor Begeisterung. »Nach Mallorca«, sagt Turgut ruhig und mit nur leicht spöttischem Unterton, »wegen den Ausländern und dem Euro.« Es ist keine Frage, es ist eine Feststellung. Der Mann antwortet trotzdem: »Ja, schreibt das mal inne Zeitung. Aber das trauta euch ja wieda nich. Lügenpresse!«

Ich nehme unser Tablett entgegen, der Fotograf blitzt, Turgut fragt: »Brauchen Sie eine Quittung?« Ich schaue ihn überrascht an. »Na, die anderen Pressetypen wollen immer eine Quittung.« Wahrhaftig: ein echter Profi. »Nee, schon gut«, sagt der Fotograf. »Arschlecken!«, brüllt es vom Tisch hinten.

Dann wechseln wir die Bahnsteigseite, weil der Fotograf den Imbiss in der Komplett-Ansicht im Hintergrund haben möchte und deshalb einen größeren Abstand braucht. Außerdem will er eine einfahrende Straßenbahn mit einfangen. Ich soll mich also auf den Straßenbahn-Bahnsteig stellen, in der einen Hand das Papptablett und in der anderen eine Pommes aufgepiekt in die Luft halten und sie wie ein richtiger Schriftsteller nachdenklich anschauen. Der Fotograf fährt dazu großes Gerät auf, Spiegelreflexkamera, Stativ, externer Blitz. Schon blitzt es los. Unzufrieden guckt er auf das Display. Wir brauchen noch einen Aufhellblitz. Der besteht aus einer großen weißen Leinwand, die auf einem etwa anderthalb Meter hohen Metallgerüst installiert und über irgendeinen Kas­ten mit roten und grünen Leuchtdioden mit dem Blitzgerät synchronisiert ist und dann noch zusätzlich ein bisschen mitblitzt.

Das alles ist, vorsichtig gesagt, nicht gerade diskret. Wir haben mitten auf dem Tram-Bahnsteig ein komplettes Fotostudio aufgebaut, es ist 18 Uhr, ein großes Gewimmel an Leuten steigt hier ein und aus, ich stehe natürlich allen im Weg. Die Leute drücken sich vor und hinter mir vorbei, leise fluchend, ärgerlich äugend, kopfschüttelnd, während Blitz und Aufhellblitz stroboskopartig durch die weit fortgeschrittene Dämmerung blitzen. Ich versuche, so ungerührt wie möglich inmitten des Tumults zu stehen, halte mein Tablett tapfer fest, starre extrem nachdenklich auf meine Pommes und schelte mich selbst einen Idioten, weil ich selbst jetzt den inneren Drang nicht abstellen kann, möglichst unauffällig wirken zu wollen.

Bald hat sich eine Gruppe migrantischer Teenager um uns versammelt, die kichern und uns mit ihren Handys filmen. Sie wollen wissen, was wir hier machen. Der Fotograf erklärt es. »Zeitung? Ich will auch in die Zeitung!«, ruft einer. Dann hüpfen sie giggelnd immer mal wieder ins Bild. Ich konzentriere alle meine Sinne auf das Pommesstäbchen auf meinem Pieker, das ich anschaue, als versuchte ich, es zu hypnotisieren. »Möselecken! Arschficken!«, schallt es vom anderen Bahnsteig begeis­tert zu uns herüber. Einer der Adolszenten ruft: »Ey, ich hab voll Starpotenzial, bring mich in die Zeitung.« »Dann musst du aber die Boulette hier essen«, versuche ich ihn abzuwimmeln. »Ist da Schwein drin?« »Ich glaub nicht mal, dass da überhaupt Tier drin ist«, mutmaße ich. »Da ist bestimmt Schwein drin!« »Wenn du in eine deutsche Zeitung willst, musst du auch Schwein essen.« »Verarsch mich nicht. Du isst das Ding doch selber nicht«, zeigt er sich jetzt als guter Beobachter, »du guckst nur nachdenklich auf deine Pommes, als wärst du so was wie ein Schriftsteller.« »Arschlecken!«, hallt ein fernes Echo.

Dann ist plötzlich Schluss mit dem Geblitze, verwirrt löse ich mich aus meiner Trance, die Menge um uns herum murrt leise und enttäuscht. Eine Straßenbahn fährt ein, zwei Minuten später stehen wir fast wieder allein auf dem Bahnsteig. Der Fotograf packt seine Ausrüstung ein.

Eine ältere Frau tritt an uns heran und zeigt auf mein Tablett: »Essen Sie das noch?« »Äh, also eigentlich ... eher nicht.« »Darf ich?«, fragt sie. »Ist aber schon kalt«, sage ich, als ich ihr das Tablett gebe. Sie erwidert nichts und beginnt umstandslos, das Zeug in sich hineinzuschlingen, während sie wortlos weiterzieht.

»Und?«, fragt der Fotograf mich, als er alles verstaut hat, »was meinen Sie? Geht es hier jetzt als Nächstes los mit der Gentrifizierung?« »Ich weiß nicht so recht«, sage ich, »immerhin hat der Imbiss zur Mittelpromenade jetzt richtiges Geschirr.«

Um die Breite einer Nuss

Man wird ja immer nervöser allmählich. Freie Wohnungen gibt es auch im Wedding schon lange nicht mehr, die Mieten steigen unaufhaltsam, und jetzt hat auch noch die Bio Company eine Filiale in der Müllerstraße eröffnet. Bei uns gegenüber hat eine von amerikanischen Hipstern via Crowd Funding gegründete Micro Brewery namens Vagabund aufgemacht, direkt daneben laden langbärtelige, behornbrillte Zottelhipster in eine neue Kulturkneipe namens »Nussbreite«, die von donnerstags bis sonntags geöffnet hat und deswegen ihr Donnerstagsprogramm das »Nuss-Montagsprogramm« nennt, weil der Montag schließ­lich der erste Tag der normalen Woche ist und eben der Donnerstag der erste Tag der Nussbreiten-Woche, wie ich dem »Nussletter« entnehme, für den ich mich offenbar eingetragen habe, als ich da neulich nachts mal einen Nusslikör zu viel getrunken hatte.

Solche langbärteligen, behornbrillten Zottelhipster sind das also. Aber ich muss zugeben, dass es dort sehr schön ist. Wahnsinnig nette, junge Menschen, über die man natürlich leicht lästern könnte, weil sie erstens so jung und zweitens so nett sind und drittens auch noch anders aussehen als wir damals, als wir noch jung und nett waren. Mit dem Alter wächst allerdings die Einsicht in die wiederkehrenden Kreisläufe des Lebens, und man ahnt allmählich, warum wir in unserer Jugend fanden, dass die Älteren so seltsame Sachen sagen: dass die jungen Leute ja auch immer bescheuerter werden und so. Und jetzt ertappt man sich zunehmend dabei, wie man selbst genau solche seltsamen Sachen denkt wie die Älteren damals, aber mir bleibt noch ein Rest von Erinnerung an das, was ich damals zu so etwas gedacht habe, und der lässt mich vermuten, dass wir damals einfach Recht hatten und es tatsächlich scheiße war, was die Älteren gesagt haben und was ich heute fast gedacht hätte. Deswegen verbiete ich mir jeden lästerlichen Gedanken über das Aussehen der jungen, wahnsinnig netten Leute und rufe vielmehr generationenübergreifend dazu auf, alle Menschen zu ächten, die meinen, sich zum Aussehen anderer abfällig äußern zu müssen.

Folgt mir auf die Barrikaden gegen die Modediktate und Trendvorstellungen der Bescheidwisser, gegen die »Geht gar nicht«- und »Must have«-Sager! Und dabei ist es scheißegal, ob die »Geht gar nicht«- und »Must have«-Sager »geht gar nicht« und »must have« in den Kicherkolumnen neofeministischer Topcheckerinnen-Blätter oder im bieder-bräsigem Klassenbewusstsein irgendwelcher Mode-Blogs von Brigitte oder Welt-online sagen. Es ist doch ganz einfach: Wer meint, sich darüber mokieren zu müssen, wie andere sich anziehen oder welche Frisur sie tragen, ist ein spießiges Arschloch, ganz egal, ob er nun grün oder links wählt oder bei Pegida mitmarschiert. Und wo, wenn nicht im Wedding, sollte die Revolution gegen diese Modefaschisten beginnen. Sie darf nicht eher ruhen, bis sie alle am Kleiderhaken baumeln, die Stil-Kolumnistinnen und -Kolumnisten, ganz egal ob vom Missy Magazin, von Men’s Health, von der Gala oder der Bunten!

So sinnierte ich beim Nusslikör in der Nussbreite vor mich hin, während um mich herum junge, hübsche Frauen und Männer in fremdartigen Körperkluften und mit interessanten Hüten auf dem Kopf lachten, tranken und parlierten, auffallend oft auf Englisch.

Wie es überhaupt sehr rätselhaft ist, wo plötzlich all die englischsprachigen Menschen herkommen. Ich wohne seit 1991 im Wedding, und ich bin mir sicher, dass ich dort bis etwa 2010 nicht ein einziges Mal einen englischsprachigen Menschen irgendwo auf freier Wildbahn angetroffen hätte, so etwas gab es hier einfach nicht. Und jetzt hat mich neulich der türkische Dönermann beim weit-nach-mitternächtlichen Imbiss müde angesprochen mit: »Do you want Döner? Which sauce, Knoblauchkräuterscharf?« Ich habe ihn fassungslos angestarrt und vorsichtig »Aber ich bin es doch!« gewispert. Da hat er die Augen noch mal aufgemacht und gemurmelt: »Tschul­digung, Großer. Sind so viele mit Englisch hier jetzt. Überall Englisch. Hab ich vorhin ganz normal zu Kunde gesagt: willstu Döner?, hat der mich so voll komisch angeguckt, weißtu, und hat er gesagt: Do you have an English menu?« Er schüttelte empört den Kopf.

Neben der neuen Nussbreite hat jetzt ein noch neueres Café aufgemacht. Es heißt »Lichtsauger«. Im Schaufenster steht ein uralter Computer mit grünem Bildschirm, der den Schriftzug »Lichtsauger« zeigt. Es gibt biologisch zusammengeschraubten Käse aus ausgesuchten italienischen Gebirgsstöcken und vegane Sonntagsbrunches. Ob der Wedding dafür schon bereit ist?

Bei der Bio Company bin ich mir da ja auch nicht so sicher. Der Öko-Supermarkt wirkt jedenfalls bislang noch weitgehend verwaist, die Weddinger eilen hastig an ihm vorbei auf ihrem Weg zum Netto oder zum Lidl. Ich bin ebenfalls skeptisch. Vor allem gegenüber meiner eigenen Kaufmotivation. Bislang war ich aus Bequemlichkeitsgründen meist beim Kaiser’s oder Reichelt einkaufen gegangen. Das ist nicht ganz so schäbig wie Aldi oder Lidl, aber doch halbwegs bodenständig. Und: Irgendwie habe ich mich dort sehr gut dabei gefühlt, nach Möglichkeit die Bioprodukte aus dem Regal zu fischen. Ja, ich war ein bewusster Konsument, ich griff nicht einfach zur billigsten Nudeltüte, sondern auch schon mal direkt daneben zur ökologisch korrekten, und ich konnte mich fortwährend darüber wundern, warum es überall Bio-Milch gibt, aber nirgendwo Bio-Butter, obwohl das doch vom Ausgangsprodukt dasselbe ist, oder kriegt man Bio-Milch nicht so gut zu Butter geschlagen? Egal, ich fühlte mich jedenfalls gut beim Einkauf, und ja, es ist ein niederes Motiv, aber ich kam mir wie ein besserer Mensch vor, als ich die Bio-Milch in den Einkaufswagen gelegt habe.

Aber jetzt in der Bio Company? Wo alles voll ist mit den absonderlichsten Vollwert-Produkten? Wo es nicht nur ganz selbstverständlich Bio-Butter gibt, sondern auch Bio-Müsli, Mango-Macadema-Likör, Bio-Meersalz-Pe­pe­roni-Schokolade und vegane Kondome? Und mal unter uns: Diese Bio-Müslis schmecken einfach nicht, ich hab’s probiert. Da lobe ich mir Kellog’s Frosties. Mit Original Industriezuckerguss. Und sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich zwischen den Regalen herumschleiche, mit diesem albernen Handkorb, mit dem dort alle herumlaufen, weil ein ordentlicher Einkaufswagen vermutlich ein schlechtes Karma bringt, wegen zu viel Konsum und so, selbst im Öko-Discount-Supermarkt muss man schließlich gegen zu viel Konsum sein, und ich komme mir vor wie der letzte Wedding-Proll, wenn ich die wenigen anderen Gestalten im Geschäft sehe, die mit heiligem Ernst die Inhaltsstoffe veganer Brotaufstriche vergleichen oder merkwürdige Vollkornbratlinge kaufen.

Es ist nicht zu leugnen: Sobald ich die Bio Company betrete, werde ich umgehend wieder zu dem schlechten Menschen, der ich immer schon war, da hilft es gar nichts, dass ich jahrelang beim Kaiser’s Bio-Milch gekauft habe. Ich glaube, ich geh beim nächsten Mal gleich zu Aldi.

Ich bin jedenfalls skeptisch, was den neuen Wind hier angeht. Zugegeben, die Gegend war insgesamt in den letzten Jahren ganz schön heruntergekommen. Da freute man sich durchaus, wenn mal ein brauchbarer neuer Laden eröffnete. Trotzdem: Bio Company, Vagabund, Nuss­breite, Lichtsauger – alles schön und gut, aber jetzt könnte auch mal wieder ein richtig schönes Nagelstudio aufmachen, ein neuer 1-Euro-Shop oder ein ordentlicher Spielautomatenladen!

Als ich neulich nachts noch auf einen Absacker in die Nussbreite einkehrte, lief dort Tocotronic. Die ganz alten Sachen, von »Digital ist besser«. Dann die Sterne, Huah! und Die Regierung. Meine Musik! Erst war ich ganz begeistert, dann beunruhigt. »Sag mal«, fragte ich den jungen Mann mit dem eindrucksvollen Bartwuchs hinter dem Tresen, »ist das jetzt etwa schon retro?« Ich fühlte mich alt und schwach. Er sah mich überrascht durch seine monströse Hornbrille an: »Nein, wieso retro? Das ist einfach nur meine Lieblingsmusik!«

Ach, das ist ja schön, dachte ich. Und in das große Steakhaus an der Kreuzung Müllerstraße zieht jetzt ein brandneues Wettbüro ein. »Hattrick – Sportwetten und Spielautomaten«, verspricht das Schild im Schaufenster. Vielleicht ist der Kampf ja noch nicht verloren.

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9783862872022
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