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Читать книгу: «Sturm im Zollhaus», страница 2

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3.

»Über zehn Jahre Arbeit – alles zum Teufel.« Die kräftige Frau mit den kurzen braunen Haaren war sichtlich erschüttert. »Sie glauben gar nicht, was wir hier alles an Arbeit reingesteckt haben. Und an Geld natürlich auch.«

Roman Sturm glaubte es durchaus, denn er hatte das Zollhaus gesehen, als die Sanierung nach fünfzehn Jahren Leerstand eben erst begonnen hatte. Hunderttausende waren verbaut worden, bis man das Dach neu gedeckt, Klos und Bühnen eingebaut und überhaupt alles so weit hergerichtet hatte, dass in dem denkmalgeschützten Gründerzeitbau gefahrloses Leben und Feiern denkbar war. Anfangs hatte es in dem siebzig Meter langen Gebäude nur einen einzigen Wasserhahn gegeben. Allein das gläserne Foyer und der Fahrstuhl im Kranturm hatten fast hundertzwanzigtausend Euro gekostet. Eine beachtliche Leistung, sicher, aber Roman hatte keine Lust, jetzt die gesamte Umbaugeschichte über sich ergehen zu lassen. Zum Glück kriegte Vera Reifschneider die Kurve.

»Wer hat uns das bloß angetan? Haben Sie schon eine Spur?«

Sie schien so felsenfest von einer Brandstiftung überzeugt, dass Roman überrascht die Stirn runzelte.

»Es kann sich genauso gut um einen technischen Defekt …«, begann er, doch die Vertreterin des Zollhausvereins schnitt ihm das Wort ab.

»Wir haben alle Brandschutzbestimmungen erfüllt, fragen Sie im Rathaus nach! Bis auf die Rauchabzugsklappen im Dach war alles fertig.«

Genau diese Klappen hätten vielleicht verhindert, dass das Treppenhaus zur Todesfalle wurde, dachte Roman. Vielleicht hätten sie aber auch die Luftzirkulation so angekurbelt, dass der Brand noch schneller und noch heißer gelodert hätte. Die Kinder wären dann nicht erstickt, sondern verbrannt.

Roman dachte an den Eisbären und seinen kleinen Besitzer, der im Kreiskrankenhaus noch immer bewusstlos auf der Intensivstation lag, und spürte Wut hinter seinen Lidern prickeln. Scharf fragte er: »Und Sie wollen mir tatsächlich weismachen, Sie hätte nicht gewusst, dass eine mehrköpfige Familie in Ihrem Fetenschuppen wohnte?«

Lükka warf ihm einen warnenden Blick zu. »Frau Reifschneider ist zwar Mitglied im Vorstand des Zollhausvereins, aber nicht die Einzige, die fürs Zollhaus zuständig ist. Ich meine: war«, sagte sie ruhig.

»Das hätte ich nicht treffender formulieren können«, konterte die Frau spitz. »Nein, ich hatte keine Ahnung«, wandte sie sich wieder an Roman. »Wahrscheinlich wusste auch sonst keiner von uns was davon. Sie müssen unbemerkt ins Haus gekommen sein.«

Schwer vorstellbar, fand Roman. Bei Wüstenspringmäusen war das möglich und auch schon geschehen. Aber Kinder? Und dann gleich so viele? Eher nicht.

»Wir haben zwei der Kinder im Dachgeschoss gefunden«, berichtete er.

Vera Reifschneider schob die Unterlippe vor. »Da oben ist das Radio untergebracht und natürlich unser Theater und die Besuchertoiletten.« Sie hatte sich eindeutig noch nicht mit der Vergangenheitsform abgefunden. »Und nach hinten raus haben wir die Seminarräume eingerichtet. Die werden jetzt in den Ferien natürlich nicht genutzt. Sonst ist da nur noch unsere Rumpelkammer mit Gerümpel und Requisite.« Sie überlegte. »Wenn ich irgendwo unterschlüpfen wollte, würde ich da wahrscheinlich reingehen. Wir wollten in den Räumen irgendwann eine Hausmeisterwohnung einrichten.«

Lükka hatte mitgeschrieben und klappte ihr Notizbuch zu. Als hätte sie nur auf dieses Signal gewartet, erhob sich Vera Reifschneider. »Wenn wir so weit durch sind, gehe ich jetzt wieder an die Arbeit. Sie haben sicher Verständnis – ich habe noch viel zu regeln. Unsere Chefin und die anderen Vorstandsmitglieder müssen informiert werden, sofern sie nicht noch im Urlaub sind. Den überregionalen Zeitungen muss ich mitteilen, dass die Thedighausen-Ausstellung nicht stattfindet, und mir überlegen, was ich mit den Leuten mache, die schon Karten für die nächste Veranstaltung gekauft haben.«

Sie eilte aus dem Zimmer und Roman sah ihr nach, das Kinn auf die zur Faust geballte Linke gestützt.

»Warum lässt du mich so auflaufen?«, fragte er und funkelte Lükka aus seinen mandelförmigen Augen an, die vor Ärger fast schwarz wirkten. Seine schwarzen Haare, die er in der Mittagspause nach dem Duschen mit der Papierschere von den verkohlten Spitzen befreit und damit auf Schulterlänge gestutzt hatte, umrahmten sein dunkles Gesicht. Lükka hatte einen Moment lang die Vision eines Apachen, der gleich das Kriegsbeil ausgraben würde oder wenigstens den Klappstuhl wie Comanchen-Häuptling Listiger Lurch im Schuh des Manitou. Dabei waren seine Vorfahren keine Indianer. Er hatte ihr mal erzählt, dass sein Großvater von Hawaii stammte und als amerikanischer Soldat in Deutschland stationiert war. Da hatte er offenbar mit einer Ostfriesin angebandelt. Mittlerweile kannte sie Roman gut genug, um sich von seinem finsteren Blick nicht einschüchtern zu lassen. Sie wusste auch, dass sie seine Frage nicht zu beantworten brauchte, denn im Grunde kannte er die Antwort. Er war unnötig scharf zu einer Zeugin gewesen, die gerade buchstäblich vor den Trümmern ihrer Existenz gestanden hatte.

Trotzdem hätte sie mehr Interesse an den Kindern zeigen können als an ihrem verdammten Kulturzentrum. Aber vielleicht stand sie ja unter Schock.

4.

Wer hat einen Vorteil? Wenn du einen Täter suchst und er dir nicht den Gefallen tut, dir gleich vor die Füße zu stolpern, ist das die wichtigste Frage. Hast du das Motiv, kannst du meistens deinen Kunden bald einsacken. Schulbuchwissen aus dem ersten Semester Fachhochschule, sicher, aber Roman hatte das schon oft bestätigt gefunden. Und die verbreitetsten Motive waren Eifersucht und Habgier, bei Brandstiftung gern in der Form von Versicherungsbetrug. War das denkbar? Roman beschloss, sich zunächst um diese Frage zu kümmern und das Projekt »Zollhaus« und die Situation des Vereins unter die Lupe zu nehmen, während Lükka sich durch die Vermisstenkartei klickte.

Auf den ersten Blick deutete nichts darauf hin, dass der Verein sich durch einen warmen Abbruch aus der Gülle ziehen wollte. Finanzielle Probleme hatte es in der Vergangenheit genügend gegeben; um das herauszufinden, war nicht viel Recherche nötig, nur ein Blättern im Zeitungsarchiv. In der letzten Zeit hatte das landesweite Rauchverbot auch die Zollhausumsätze geschmälert. Der Versuch, alle Türen aufzumachen und dadurch den Raum zu einer überdachten Freifläche zu machen, war vom Ordnungsamt rasch beendet worden.

Trotzdem lief seit der letzten Bürgermeisterwahl offenbar alles rund. Der Verein hatte der Stadt den alten Kasten abgekauft und bezahlte jetzt die Kreditraten, die Finanzlöcher wurden alljährlich mit satten Zuschüssen aus dem städtischen Haushalt gestopft und die vielen Großfeten spülten anscheinend genug Geld in die Kasse, um die Kultur zu finanzieren, mit der Vera Reifschneider so gerne begründete, warum das Zollhaus mit Steuergeldern gefördert werden musste. Roman seufzte, es wäre ja auch zu einfach gewesen.

Dirk Baukloh roch er, bevor der Kollege vom Rauschgift sich durch die Tür schob und »Moin, Kollegen« trompetete, denn Baukloh war vor Dienstbeginn wie üblich in einen Bottich mit Rasierwasser gefallen. Entweder waren seine Geruchsnerven durch den Dauerkontakt mit Marihuana und anderem Dope abgestumpft oder er war Opfer des Werbefernsehens und versprach sich von der chemisch-animalischen Note eine höhere Trefferquote bei Frauen.

»Seid ihr an dieser Brandsache dran oder surft ihr nur wieder im Internet?« Baukloh beugte sich über Lükkas Schulter und lehnte sich wie unabsichtlich gegen sie. Lükka drehte ihren Stuhl gerade so weit, dass Dixi Baukloh aus dem Gleichgewicht geriet. Auf seinen Wangenknochen erblühten scharlachrote Flecken, die überhaupt nicht zu seinen kupferfarbenen Locken passten, aber er schlenderte betont lässig zum Regal hinüber. »Ist doch ganz easy, wieso haltet ihr euch überhaupt so lange mit dieser Kiste auf?«

»Erleuchte uns, oh Allwissender!« Roman verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich bequem zurück. Das war das Schöne an diesem Stinker: Er war er immer für unterhaltsame zehn Minuten gut. Schließlich war Dixi Baukloh der Größte, der Superbulle aus der großen Stadt und überhaupt nur deshalb noch nicht beim LKA, weil er die Provinzkollegen nicht so nahe der holländischen Grenze mit den Drogenschmugglern alleine lassen konnte. Na gut, eine Nase für Shit hatte er, aber die hatte der Cockerspaniel Hermann schließlich auch und der kam bei den Kolleginnen zudem deutlich besser an.

»Die kleinen Eselstreiber haben es sich da drin richtig gemütlich gemacht wie zu Hause in Anatolien oder wo diese Ölaugen auch immer herkommen«, verkündete Baukloh. »Und dann haben sie ein Lagerfeuer angezündet, um eine Familienportion Hammelhoden zu grillen. Und dann – baff.« Beifallheischend sah er sich um. »Ist doch klar, oder?«

»Sonnenklar«, entgegnete Lükka, die gerade den Posteingang ihrer Mailbox studierte. »Und weil das in Anatolien so üblich ist, haben sie das Feuerchen mit ein paar Litern Nitroverdünner angezündet. Deswegen haben Katenhusen und Müller auch eben gemailt, dass sie im Schutt größere Mengen Brandbeschleuniger nachgewiesen haben.« Sie schlug sich auf die Oberschenkel, griff ihre Zigarettenschachtel und erhob sich. »Ich für meinen Teil brauche dringend ein bisschen frische Luft!«

5.

Als Roman die Wohnungstür hinter sich zuzog, fühlte er sich wie ein Hähnchen im Backofen. Noch auf dem Weg zur Balkontür zog er das durchgeschwitzte T-Shirt aus und ließ es achtlos fallen. Er streifte die verschmorten Sandalen ab und fühlte den stacheligen Nadelfilz des Teppichbodens unter seinen Füßen, die in einem wenig besseren Zustand als die Schuhe waren. Fast kam es ihm vor, als kräuselten sich die Haare auf seinen Armen in der Hitze, und die Haut in seinem Gesicht schien sich in prickelnden Blasen abzulösen, sogar den Duft von gebratenem Fleisch glaubte er zu riechen.

Er schüttelte sich und die Blasen verwandelten sich gnädig in beißende Schweißtropfen, die in seine Augen rannen. Hastig zog er die Rollläden hoch, mit denen er wie jeden Tag vergeblich versucht hatte, die Hitze auszusperren, und öffnete die Balkontür. Was hatte er anderes erwartet? Im Sommer war es in dieser Wohnung unter dem Dach nicht auszuhalten. Schon ein paar Sonnentage reichten, um die Raumtemperatur auf fiebrige vierzig Grad hochzutreiben. Nur vergaß er das regelmäßig, während er im Büro schmorte und sich seine zwei Zimmer mit Küche und Bad kühlträumte.

Aber er kam zumindest regelmäßig an die Luft, frisch oder nicht.

Unterm Dach in der Rumpelkammer des Zollhauses war es bestimmt nicht weniger heiß gewesen. Wie hatten die Kinder das ausgehalten? Und wie lange? Weder er selbst noch Lükka waren heute einen Schritt weitergekommen. Die Vermisstenkartei hatte nichts hergegeben, nicht in Niedersachsen und auch nicht in den anderen Bundesländern. Vor Dienstschluss hatten sie noch eine Anfrage an die niederländische Polizei abgeschickt, aber ohne große Hoffnung. Niemand schien die drei Kinder zu vermissen, niemand auch nur von ihrer Existenz zu wissen.

Angenommen, sie waren tatsächlich unbemerkt ins Zollhaus gekommen. Weiter angenommen, sie hätten sich wirklich da oben auf dem Dachboden zwischen eingestaubten Möbeln und alten Klamotten mucksmäuschenstill verhalten, was für so kleine Kinder eine reife Leistung wäre, so blieb doch eine Frage offen: Wovon hatten sie gelebt?

Wasser war weiter kein Problem, das konnten sie auf der Besuchertoiletten des Theaters holen. Aber irgendjemand musste sie mit Essen versorgt haben, ob mit Dirk Bauklohs Hammelhoden, mit Dosenravioli oder auch nur mit Brot und Käse.

Roman bemerkte auf einmal, wie hungrig er war. Der Bratengeruch, den er seit dem Betreten seines Wohnofens in der Nase hatte, war real. Er drang aus der Küche des Restaurants im Erdgeschoss nach oben, das Gyros und Souflaki für den Abend auf Vorrat produzierte, und Romans Magen knurrte. Der Kühlschrank gab willkommene Kälte frei, die Roman länger genoss, als die Inspektion seiner Vorräte es rechtfertigte. Drei kaum verschrumpelte Knoblauchzehen. Ein Eckchen Camembert, das Roman nach kurzer Betrachtung in den Mülleimer fallen ließ. Ein Becher Joghurt, immerhin, nur eine Woche überfällig, dafür mit einem Aludeckel, dessen Wölbung eine kurz bevorstehende Explosion verhieß. Trotzdem öffnete Roman den Becher und tunkte die Fingerspitze in die weiße Pampe. Das Zeug prickelte auf der Zunge und gesellte sich ohne weitere Umwege zum Käse.

Also zwei Optionen: Bis acht mit knurrendem Magen warten und dann unten in einen Grillteller investieren oder doch noch einkaufen. Roman entschied sich fürs Einkaufen, zumal auch der Kaffeevorrat für morgen früh nur noch eine dünne Plörre hergeben würde. Romans Laune verschlechterte sich. Ohne Fahrrad würde das eine echte Expedition werden, denn Leer hatte die vermutlich einzige Innenstadt, in der es seit Jahren keinen Supermarkt mehr gab. Romans Auto stand passenderweise gerade in der Werkstatt und wartete auf ein neues Getriebe.

Nach drei Kilometern zu Fuß, mit einem halben Dutzend leerer Flaschen im Rucksack, hatte Roman im Geist alle Varianten schwarzer Pädagogik durchgespielt bis hin zur Prügelstrafe für Fahrraddiebe. Seine finsteren Gedanken mussten ihm anzusehen sein, denn der rundliche Junge in der Leergutannahme zuckte zusammen und starrte ihn mit großen, erschrockenen Augen an, als Roman die Flaschen auf den Tresen stellte.

Romans Gewissen regte sich, legte sich aber sofort wieder ins Körbchen, als er unter dem blauen Kittel einen rotgeflammten Hemdkragen hervorblitzen sah. Sieh mal einer an, das war doch der kleine Mistkerl von heute früh, der sein Fahrrad geklaut hatte! Mit einiger Anstrengung unterdrückte Roman den Impuls, den Burschen am Kragen zu packen und kräftig zu schütteln. Statt dessen fragte er ganz ruhig: »Wo ist mein Rad?«

»Draußen im Fahrradständer.« Der Junge richtete sich auf und sah Roman halb schuldbewusst, halb trotzig an. »Ich wollte es heute Abend zurückbringen. Wirklich. Ich bin doch kein Dieb!«

»Ach nein? Deswegen hast du mir auch das Fahrrad geklaut, weil du so ein braver Junge bist.«

»Ich hatte es eilig.«

Genau das war der Punkt, der Roman interessierte, aber hinter ihm ballte sich inzwischen eine Traube von Einkaufswagen und darin begann es ungeduldig zu grummeln. Sichtlich erleichtert reichte der Junge Roman den Pfandbon und wandte sich den Bierkästen des Blümchenkleides zu, das sich jetzt unnachgiebig wogend zwischen Roman und den Tresen drängte.

Achselzuckend drehte Roman sich um und schlängelte sich zwischen den anderen Wartenden hindurch. Um den Jungen würde er sich später kümmern, er wusste ja jetzt, wo er ihn finden konnte. Und dann würde er ihn nicht nur nach dem Fahrradklau fragen. Bevor der Polizist heute früh auf den Jungen zugesteuert war, hatte der es schließlich gar nicht eilig gehabt, sondern mit den anderen Gaffern das Feuer beobachtet. Entweder wusste er etwas über den Brand oder er hatte etwas anderes ausgefressen, denn an einer Uniformallergie litt er vermutlich nicht.

Im Markt war noch erstaunlich viel los, die Verlängerung der Öffnungszeit bis neun Uhr zahlte sich offenbar aus. Immerhin hatte der Inhaber des Ladens schon mal davon gehört, dass Eigentum verpflichtet, und steckte einiges in soziale Projekte, kümmerte sich um Kinderschutz, Behinderte und Kultur. Gehörte er nicht sogar dem Zollhausverein an? Doch, ziemlich sicher sogar.

Auf dem Weg durch den Supermarkt ließ Roman den Blick durch die Gänge schweifen, aber ausgerechnet heute war der Chef nicht zu sehen, nicht einmal in der Weinabteilung.

Dafür sah er den Jungen wieder, der mit einer großen Plastiktüte den Stand mit den türkischen Spezialitäten verließ. Wenigstens hatte er ihm nicht auch noch das letzte Fladenbrot vor der Nase weggeschnappt, wie Roman beruhigt sah. Das packte ihm der nette Iraker bedächtig wie immer in eine Tüte, füllte ein Schälchen mit Zaziki und wartete gelassen, bis Roman sich für eine besonders rücksichtslose Olivensorte entschieden hatte – gefüllt mit ganzen Knoblauchzehen, Lükka würde sich morgen nicht freuen.

»Da habe ich heute ja gerade noch Glück gehabt.« Er schenkte dem Iraker sein freundlichstes Strahlen. »Ich dachte schon, der Junge aus der Flaschenannahme hätte das letzte Brot geholt. Wie heißt er noch mal? Ahmed, oder?«

Der älteste Trick, aber der Händler fiel darauf rein, obwohl er, wie Roman wusste, in seiner Heimat zwanzig Jahre lang als Lehrer gearbeitet hatte. Trainingsrückstand, eindeutig.

»Chalid? Nein, der hat nur ein Brot mitgenommen.« Er hatte den Beutel mit Romans Einkäufen ordentlich zugeknotet, knipste den Kassenzettel an die Tüte und reichte sie über die Theke.

»Wissen Sie, wo ich ihn erreiche, wenn er nicht arbeitet?«, fragte Roman im Plauderton. Der andere blickte ihn scharf an, dann lächelte er entschuldigend, sagte freundlich: »Ich spreche nicht gut Deutsch, Herr Kommissar«, wünschte einen schönen Abend und machte sich geschäftig daran, die Reste seiner Waren zusammenzupacken.

*

Der große Platz neben dem Postamt war nicht wiederzuerkennen. Das ganze Gelände umgab ein zwei Meter hoher Bauzaun aus rostigen Eisengittern, hinter dem die Spurensicherung den Tag über im Schutt gewühlt hatte, um zwischen Unmengen von Ziegelsteinen, verbogenen Eisenträgern, verschmorten Möbeln und Elektronik alles auszugraben, was sie der Brandursache und dem Brandstifter ein Stück näher bringen konnte. Roman wagte keine Prognose, wie lange es dauern würde, alles auszuwerten. Schon ein ganz normales Wohnhaus brauchte seine Zeit, und die Reste des Zollhauses waren entmutigend.

Detlev Katenhusen, der sich eben aus seinem weißen Papieranzug schälte, sah Roman aus rotgeränderten Augen an und schüttelte auf die Frage nach neuen Erkenntnissen müde den Kopf.

»Du kannst keine Wunder erwarten, mehr als arbeiten können wir nicht.« Er wies auf den riesigen Schuttberg. »Dass wir Brandbeschleuniger entdeckt haben, weißt du ja schon. Aber das ist ja eine unserer leichtesten Übungen. Was es genau war, findet das Labor in den nächsten Tagen heraus. Auf alle Fälle haben wir an verschiedenen Stellen was gefunden. Geht gleich morgen früh mit dem Kurier nach Hannover.«

»Also gibt es keinen Zweifel, dass das Feuer gelegt wurde«, stellte Roman fest, während er Katenhusen half, Werkzeug und Spurenkoffer im Auto zu verstauen.

»Wahrscheinlich nicht. Aber drüben auf der Südseite sind auch noch Farbdosen und so’n Scheiß.«

Die grafische Werkstatt, erinnerte sich Roman. »Kann so was auch von alleine zu brennen anfangen?«

»Klar, möglich ist alles. Wenn es warm genug ist, geht auch mal ein Putzlappen voll Firnis ab wie ein Molli.« Katenhusen ließ sich auf den Fahrersitz fallen und schlug die Tür zu. »Wenn wir was Neues rausfinden, erfährst du es, versprochen. Aber für heute habe ich die Schnauze voll, ich brauch auch mal Feierabend. Mein Sohn nennt mich schon Onkel, so selten bin ich zu Hause.« Er drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor an. »Vielleicht gibt es ja in Leer militante Kunstgegner oder eine autonome Gruppe zur Reinhaltung ostfriesischer Kultur.« Aus einer Klappkiste, die auf dem Beifahrersitz stand, zog er einen beschrifteten Plastikbeutel. Der Stofffetzen darin war mit etwas Fantasie als Rest einer Leinwand zu erkennen. Noch mehr Fantasie brauchte Roman, um das blaurosa Farbgewimmel als Teil eines Bildes zu identifizieren. Vage fühlte er sich an Aufnahmen des Hubbleteleskops erinnert, wenngleich Hubble vermutlich noch keinen Spiralnebel fotografiert hatte, der einem Paar kopulierender Schweine so ähnlich sah.

»Verrat mir eins«, forderte Katenhusen im Wegfahren. »Wer malt bloß so was?«

Mittwoch

6.

Das Haus war leicht zu finden, in dem Joachim Thedinghausen das herstellte, was Vera Reifschneider mit ehrlicher Begeisterung als »kompromisslose, tief empfundene Kunst« geschildert hatte, »transzendental, vor allem in der Farbgebung, doch von einer geradezu bestürzenden Diesseitigkeit.«

Bestürzend fand Roman zunächst vor allem, wie stinknormal das Domizil des gefeierten Künstlers in der Nähe des Ditzumer Hafens wirkte. Unter den blütenweißen Halbgardinen standen Geranientöpfe auf den weißlackierten Fensterbrettern, mit leuchtend roten Blüten, die auf den ersten Blick beinahe echt wirkten. An den Wänden hingen keine kompromittierenden Spiralnebel, sondern kolorierte Drucke, die bei näherer Betrachtung verdächtig nach Kalenderblättern aussahen. Irmgard Thedinghausen, die Lükka und Roman tatsächlich Tee aus einer bauchigen Kanne mit Ostfriesenrose eingoss, trug zwar weder Dutt noch Kittelschürze, sondern ein beiges Leinenkostüm und einen schwarzen Pagenkopf, in dem eine breite weiße Strähne ihr das Aussehen einer Dohle gab, dafür knisterte der Kandis vorschriftsmäßig in den kleinen, dünnwandigen Tässchen.

»Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, was dieses schreckliche Unglück für meinen Mann bedeutet«, sagte sie leise. »Ich mache mir große Sorgen um ihn. Seit er von dem Feuer erfahren hat, habe ich ihn kaum noch zu Gesicht bekommen. Er vergräbt sich richtig in seinem Atelier.«

»Sie haben ihm doch gesagt, dass wir hier sind?«, fragte Lükka zur Sicherheit, denn Thedinghausen ließ sich immer noch nicht blicken. »Am besten zeigen Sie uns, wo wir ihn finden.« Sie erhob sich.

»Vielleicht haben Sie recht. Obwohl er es gar nicht mag, wenn Fremde ihn bei der Arbeit stören …« Zögernd stand Irmgard Thedinghausen auf und führte ihre Besucher durch die ordentliche Küche in einen kleinen, dunklen Flur. »Vorsicht, Stufe«, warnte sie und stieß eine grün gestrichene Holztür auf.

Staunend trat Roman in einen weißgekalkten Raum, geräumig wie ein Wohnzimmer, aber bei weitem nicht so anheimelnd. Die Fenster waren klein und altersblind und ließen wenig Licht herein. Von der hohen Decke baumelte ein daumendickes Seil aus gedrehtem Stahl, an dessen unterer Schlaufe ein S-förmiger Haken in Augenhöhe gefährlich blinkte. Das Seil führte zu einer großen Winde an der Stirnseite, neben der aufgerollt ein altmodischer roter Gartenschlauch hing. Eine fußbreite Rinne zog sich durch die ganze Länge des Raumes bis zu einem Gully an der Rückwand. An einem armdicken runden Balken, den zwei starke Ketten etwas über Kopfhöhe hielten, gab es noch mehr dieser spitzen Haken. Die meisten waren leer, doch mitten im Raum hing ein blitzendes Beil, dessen Klinge so lang war wie Romans Unterarm. Unwillkürlich zog er den Kopf ein.

»Was in aller Welt ist das hier?«, entfuhr es Lükka. »Ihre private Folterkammer?« Angewidert sah sie hinüber zu einem großen, grob gezimmerten Holztisch, auf dessen speckig glänzender Platte weitere Messer lagen.

»Gruselig, nicht wahr?« Irmgard Thedinghausen lächelte halb stolz, halb verlegen. »Normalerweise hängen hier im Schlachthaus die Bilder meines Mannes. Aber jetzt hat er sie ja alle nach Leer gebracht zu dieser unglückseligen Ausstellung. Meinen Sie, die Kunstwerke sind noch zu retten?«

Roman dachte an Katenhusens Sammlung von Plastikbeuteln, stellte sich die Reste der Nebelschweine hier an den Fleischerhaken vor und wandte sich ab, um ein sehr unpassendes Grinsen zu verbergen. Lükka hatte es natürlich trotzdem bemerkt und räusperte sich.

»Ich würde mir da keine allzu großen Hoffnungen machen«, sagte sie vorsichtig und Roman flüchtete sich in einen Hustenanfall, der ihm die Tränen in die Augen trieb.

»Ja ja, im Sommer erkältet man sich leicht! Kommen Sie mal schnell weiter, hier zieht es immer so.« Durch die Tür am anderen Ende des Schlachthauses ging Irmgard Thedinghausen voraus auf einen sauber gepflasterten Hof. Gegenüber stand ein kleines gläsernes Gewächshaus, aber sie wies nach links hinüber zu einem Nebengebäude. »Da ist das Atelier, gehen Sie ruhig rein.« Sie verschwand so schnell wieder im Haus, als habe ihr Mann die üble Angewohnheit, Eindringlinge mit der Schrotflinte auf Distanz zu halten. Entsprechend überrascht war Roman, in dem geräumigen Stallgebäude, dessen Dach überwiegend aus Glas zu bestehen schien, einen zierlichen, grauhaarigen Mann anzutreffen, der sie müde, aber freundlich anlächelte. Er erhob sich aus einem bequemen Bürostuhl, der vor einem großen, hellen Kieferntisch stand, und schüttelte den Polizisten nacheinander die Hand wie lang ersehnten Gästen. Er ließ ihnen Zeit, sich in dem lichtdurchfluteten Raum umzusehen. Auf hellen Regalen standen Flaschen mit Farbe, aus einem alten Gurkenglas ragte ein Büschel verschieden dicker Pinsel und bunter Zahnbürsten mit farbverklebten Borsten, ringsum an den Wänden und den Mäuerchen ehemaliger Schweinekoben lehnten Leinwände und bemalte Sperrholzbretter jeder Größe. Nicht auf einem erkannte Roman etwas, das auch nur entfernt an paarungsbereite Spiralnebel erinnerte. Er trat näher an eine Staffelei, auf der das Bild eines Kutters im Ditzumer Hafen zu sehen war.

»Hübsch«, sagte Lükka.

Thedinghausen nickte, wirkte aber nicht geschmeichelt.

»Ja, hübsch. Mehr aber auch nicht.« Er lächelte entschuldigend. »Die Kunst geht nach Brot, wie man so sagt. Diese Auftragsarbeiten bringen die Butter aufs Brot, aber das Eigentliche, das, was wirklich zählt, ist das hier.« Er deutete auf den Schreibtisch. »Sie sehen, ich schwelge in Erinnerungen.« Er nahm einen Packen Fotos und breitete sie vor Lükka und Roman auf dem Tisch aus. »Das ist alles, was mir von meinem Lebenswerk geblieben ist.« In allen Farbschattierungen zwischen Nachtblau, Violett und strahlendem Rosa schillerten auf den Fotografien Sternenhaufen und Galaxien, schwarzbunte Kühe grasten am Rande der Milchstraße, grotesk verdrehte Mühlenflügel verwirbelten Spiralnebel, das Schweinepärchen vergnügte sich im Schwarzblau eines fernen Sonnensystems. Lükka Tammling erbleichte.

Auch wenn er die Bilder schauderhaft fand, war Roman doch fasziniert von der skrupellosen Verbindung, die Thedinghausen zwischen dem unendlichen Weltall und seiner ostfriesischen Umgebung geschaffen hatte.

»Ja, Sie spüren es, das merke ich sofort«, stellte der Künstler befriedigt fest. »Wir alle sind ein Teil des großen Ganzen, des allumfassenden Kosmos, der sich ständig selbst neu erschafft.« Versonnen betrachtete er eine Gruppe von Staphylokokken, die gemeinsam mit dem großen Bären um den Polarstern kreisten.

»Womit malen Sie eigentlich?«, fragte Roman, teils aus Mitleid mit Lükka Tammling, deren Blässe jetzt eine leicht grünliche Note angenommen hatte, teils aus echtem Interesse. Er war schon in einigen Künstlerateliers gewesen, und in jedem hatte es intensiv nach Leinöl und Terpentin gerochen. Warum roch es hier einfach nach frisch gestrichener Wohnung?

»Ach, das ist ganz verschieden«, erklärte Thedinghausen. »Für das Zeug da drüben«, er zeigte mit einer weit ausholenden Handbewegung auf die Staffelei und die anderen Bilder, »nehme ich oft Pastellkreide, manchmal wollen die Leute auch lieber ein Aquarell haben. Aber am liebsten male ich mit Acryl, das ergibt einfach das schönste Leuchten.«

»Kein Öl?«, fragte Roman überrascht.

Thedinghausen schüttelte indigniert den Kopf. »Manche mögen das ja. Aber das nimmt einem Künstler jegliche Spontaneität. Ewig muss man die Farben und Malmittel anmischen, dann wochenlang warten, bis eine Schicht durchgetrocknet ist, ehe man weitermalen kann. Ganz zu schweigen von der Sauerei, bis man alles wieder saubergemacht hat.« Er lachte. »Und meine liebe Frau würde sich bedanken, wenn ihr ganzes Haus nach Terpentin und Verdünnung stinken würde!«

Lükka hatte ihren Blick inzwischen an einem Aquarell festgehakt, das ganz diesseitig zwei Windmühlen vor strahlend blauem Sommerhimmel zeigte, und sich dabei genug erholt, um Thedinghausen zu fragen, ob er sich vorstellen könnte, wie es zu dem Feuer gekommen war.

Erwartungsgemäß schüttelte der Maler den Kopf. »Nicht jeder mag meine Bilder.« Er sah Lükka etwas vorwurfsvoll an. »Aber sie zu verbrennen – wer sollte so weit gehen?«

Die Kommissarin sah aus, als fielen ihr dazu eine Menge Leute ein, aber sie sagte nur: »Vielleicht ging es ja gar nicht um Ihre Ausstellung. Wer kann etwas gegen das Zollhaus selbst gehabt haben?«

»Ach so.« Thedinghausen überlegte. Offenbar war er noch nicht auf die Idee gekommen, der Brandanschlag könnte etwas weniger Wichtigem als seiner Kunst gegolten haben. »Nun ja, Künstler haben immer Gegner. Und Erfolg lockt die Neider an wie ein Misthaufen die Fliegen. Und Frau Reifschneider hat Erfolg mit ihrem Projekt. Auf das Gebäude waren ja damals auch andere Leute scharf. Fragen Sie die doch mal, wo sie vorletzte Nacht waren.«

Roman nickte. Er erinnerte sich an das lange Tauziehen um die Zukunft des Zollhauses. Manches war einfach nur noch ein Stück aus dem Tollhaus gewesen. Der hartnäckigste Konkurrent hatte während der Renovierung den Dachdeckern die Schieferplatten quasi unter dem Hintern weggeklaut, um sie für später einzulagern. Wann immer es Zoff ums Zollhaus gab, sprang Ferdinand Bungeroth unweigerlich aus der Deckung, um sein Interesse am Kauf des Hauses anzumelden.

»Nicht, dass ich irgendjemandem die Schuld in die Schuhe schieben will«, beteuerte der Maler. »Aber wenn Sie sagen, dass es Brandstiftung war, muss es ja einer gewesen sein, oder?«

Er sah Roman Sturm an, von dem er sich sichtlich mehr Verständnis erhoffte als von seiner Kollegin, die dekorativen Kommerzkitsch der wahren Kunst vorzog.

»Sicher, wenn es Brandstiftung war, hat jemand das Feuer gelegt«, bestätigte Roman. »Aber meine Kollegin hat nichts davon gesagt. Sie wollte nur wissen, ob Sie sich erklären können, wie das Feuer entstanden ist, mehr nicht.« Mit leiser Genugtuung registrierte er Thedinghausens verblüffte Miene. Er ließ ihm keine Zeit, sich davon zu erholen, sondern setzte nach: »Wo waren Sie eigentlich vorletzte Nacht?«

»Vorletzte Nacht? Sie meinen: Von Montag auf Dienstag? Da war ich oben an der Küste, auf Motivsuche. Montagvormittag habe ich noch die letzten Arbeiten an der Ausstellung erledigt. Anschließend habe ich dann zu Hause das Wohnmobil abgeholt und bin nach Norddeich gefahren. Fragen Sie meine Frau. Gestern Mittag hatte ich dann noch einen Termin in Greetsiel.«

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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
243 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839265246
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