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Kapitel 6

Julian

In meiner Zelle ging ich bis zum Fenster und starrte hinaus, wie ich es immer tat, wenn ich eingeschlossen wurde. Zu groß war die Gefahr, dass mir jemand die Panik ansah.

„Bis morgen, Julian. Vielen Dank für Ihre Hilfe heute.“ Ihre Stimme klang unsicher. Gern hätte ich nochmal ihre Hand genommen und ihr gesagt, dass alles in Ordnung war, sie sich keine Sorgen machen muss, aber dazu musste ich mich umdrehen und das ging momentan nicht.

„Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Frau Larsen.“ Ich konnte sie hier drin nicht Nina nennen. Hier, an dem Ort, an dem ich meine Schuld bezahlte, war dafür kein Platz.

Sie bemühte sich, die Tür leise zu schließen, aber heute machte das keinen Unterschied. Sobald sich der Schlüssel im Schloss drehte, keuchte ich. Schlimmer als seit Monaten überfiel mich die Panik. Mein von Sauerstoff überschwemmtes Gehirn machte mich so schwindelig, dass mir übel wurde. Ich brach auf dem Zellenboden zusammen und Todesangst mischte sich mit dem beruhigenden Gefühl, dass ich jetzt das bekam, was ich verdiente. Ich schaffte es nur knapp bis zur Toilette und übergab mich, bis Magen und Speiseröhre brannten. Dann schleppte ich mich aufs Bett und fiel in die Abgründe meiner Albträume.

Froh, dass niemand meinen kleinen Zusammenbruch bemerkt hatte, kam ich wieder zu mir. Ich setzte mich schwerfällig auf den Stuhl. Die Hände zitterten vor Anspannung, die innere Unruhe war kaum auszuhalten. Bestrafung durch Liegestütz fiel heute aus, ich bekäme keine fünf zusammen. Aber ich wusste, wie ich für den Nachmittag mit Nina bezahlen konnte.

Mühsam rappelte ich mich auf und schleppte mich zum Schrank. Aus dem obersten Fach nahm ich einen Karton mit Briefen und Fotos und stellte ihn auf den Tisch. Mit zitternden Händen öffnete ich den ersten Umschlag und starrte auf das Foto von Jessica. Es war ein Bild aus dem Skiurlaub. Sie lachte glücklich in die Kamera und ich konnte mich genau an den Tag erinnern, an dem ich es aufgenommen hatte. Der altbekannte Knoten aus Schuldgefühlen und Trauer ballte sich in meinem Magen zusammen und ich öffnete das zusammengefaltete Blatt, das mit einer kleinen, schwer lesbaren Handschrift bedeckt war. Ich hatte drei Stunden mit Nina gearbeitet, also würde ich jetzt drei Stunden die Briefe lesen.

*

Es war kurz vor zehn, als jemand an die Zellentür klopfte.

„Einen Moment bitte“, rief ich und ärgerte mich über meine zitternde Stimme. Schnell wischte ich die Tränen fort und stellte mich so vor den Tisch, dass man die ausgebreiteten Briefe, die ich wieder und wieder gelesen hatte, von der Tür aus nicht sah.

„Kommen Sie rein“, rief ich, als die Tür nicht ohne Aufforderung geöffnet wurde. Es musste Nina sein, kein anderer Wärter wartete auf eine Einladung, um meine Zelle zu betreten.

„Hey Julian, ich wollte nur sehen, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist, bevor ich gehe.“ Sie kam lächelnd in die Zelle, stockte dann aber, als sie mein Gesicht sah. Wahrscheinlich sah ich aus, wie die verweichlichte Heulsuse, die ich ja auch war. Es war mir peinlich, dass sie das sah, aber wie immer konnte ich an dem, was mit mir hier passierte, nichts ändern.

„Ja, ich denke, ich werde jetzt schlafen gehen. Ich hab schließlich einen anstrengenden dreistündigen Arbeitstag hinter mir“, versuchte ich es mit einem Scherz, der aber nicht zündete. Nina kam mit besorgtem Blick näher und blieb dicht vor mir stehen.

„Was haben Sie gerade getan.“

Ich schüttelte den Kopf und straffte die Schultern, versuchte, mich möglichst groß zu machen, damit sie nicht auf den Tisch sah. Dumm von mir, das fiel ihr natürlich sofort auf.

„Treten Sie bitte zur Seite, Herr Kanter, ich möchte mich in Ihrer Zelle umsehen.“

„Bitte, tu das nicht“, bat ich mit rauer Stimme.

„Wenn es Ihnen lieber ist, hole ich Herrn Tellmann, damit er das erledigt.“ Ihre Stimme war weich, beinah ein Streicheln. Ich schloss die Augen und trat beiseite.

„Ist das Ihre Freundin?“, fragte sie und mir war klar, dass sie jetzt gleich völlig falsche Schlüsse ziehen würde, aber ich würde sie nicht korrigieren.

„Meine Frau, Jessie.“

„Oh, ich wusste nicht, dass Sie verheiratet sind.“

„Ich war verheiratet, jetzt bin ich es nicht mehr.“

„Es ist schön, dass sie Ihnen trotzdem noch schreibt. Sie vermissen sie wohl sehr.“

„Ich wünsche mir nichts mehr, als dass sie noch hier wäre.“ Als ich fühlte, wie ihre Hand über meinen Oberarm strich, sah ich auf.

„Es wird besser, Julian. Irgendwann kommen Sie hier raus und dann bringen Sie es wieder in Ordnung. Sie müsste blind, taub und herzlos sein, wenn sie Ihnen nicht wenigstens zuhörte.“

Ich wollte ihr diese Seite von mir nicht zeigen, aber ich war nach dem Lesen der Briefe so am Ende, dass ich nicht anders konnte. Tränen liefen über meine Wangen und ich zog sie in die Arme. Zögernd legte sie die Hände an meine Taille und ich atmete ihren süßen Geruch ein.

„Tut mir leid, ich wollte nicht, dass Sie mich so sehen“, murmelte ich, ließ sie aber nicht los. Zu gut fühlte sich ihre Nähe an. Liebevoll strich sie mit den Händen über meinen Rücken.

„Schon gut. Wir haben alle mal einen Durchhänger, ich verstehe das besser, als Sie vielleicht denken.“

„Danke für das hier. Ich weiß, dass Sie sich in fünf Minuten darüber ärgern werden, dass Sie schon wieder ein Tabu gebrochen haben.“

„Nein, das werde ich nicht.“

„Lügnerin.“

„Okay, vielleicht ein bisschen. Aber es fühlt sich trotzdem richtig an.“

Ich zwang mich, die Umarmung zu lösen und schob sie vorsichtig von mir.

„Gehen Sie nach Hause. Machen Sie einen drauf und genießen Sie ihr Leben. Sie sollten sich nicht von mir runterziehen lassen.“

„Sie ziehen mich nicht runter. Ich bin so froh, dass Sie sich entschieden haben, mit mir weiterzuarbeiten und Fortschritte machen. Manchmal muss man eben nochmal einen Schritt zurück treten, bevor es dann wieder zwei nach vorn geht.“

„Berufsoptimismus?“

„Weisheit, schließlich bin ich schon achtundzwanzig Jahre alt.“

„So jung?“

„Wie alt sind Sie denn?“

„Fünfunddreißig, aber manche Jahre davon zählen für zehn.“

„Gute Nacht, Julian, wir sehen uns morgen.“ Sie legte ihre Hand an meine Wange und ich lehnte mich in die Berührung und dann war sie fort. Ließ mich allein mit den Fotos von Jessie und den Briefen, die ihr Gift in meinen Adern verteilten. So, wie es sein sollte.

Nina

Auch wenn es für Julian wieder eine Nacht mit wenig Schlaf wurde, bat ich die Kollegen von der Nachtschicht, regelmäßige nach ihm zu sehen. Tom hörte mit gerunzelter Stirn zu und schrieb dann einen offiziellen Auftrag ins Wachbuch. Lebendkontrollen alle zwei Stunden.

„Kanter geht dir unter die Haut“, stellte Tom fest, als wir gemeinsam zum Parkplatz gingen.

„Ja, das tut er.“

„Pass auf dich auf und halt emotionalen Abstand. Du tust ihm keinen Gefallen, wenn du seine Freundin spielst.“

„Das mache ich doch gar nicht. Wir reden nur und er öffnet sich langsam.“

„Und warum sorgst du dich dann heute so um ihn, dass du ihn die ganze Nacht überwachen lässt?“

„Es kann einen fertigmachen, über Dinge zu reden, die einen berühren. Aber wenn man da durch ist, geht es einem besser. Das kennst du doch bestimmt auch.“ Er schnaubte abfällig.

„Ich bin ein Kerl. Wir gehen mit den Kollegen was Trinken und am nächsten Morgen ist der Kater unser einziges Problem.“

„Ja klar, rede dir das nur ein.“

„Du könntest es ja mal auf meine Weise probieren. Komm, wir gehen was trinken.“

„Danke für das Angebot, aber ich gehe jetzt lieber nach Hause. Ich hab morgen Frühschicht.“

„Dann sehen wir uns morgen.“ Tom wartete, bis ich in mein Auto stieg, bevor er zu seinem Wagen weiter ging. Er war wirklich ein netter Kerl und hatte eine Chance verdient, aber ich konnte mich im Augenblick nicht auf ihn einlassen.

Kapitel 7

Nina

Als ich Julians Zelle am nächsten Morgen zur Frühstücksausgabe aufschloss, stand er wieder direkt hinter der Tür. Mit schlechtem Gewissen nahm ich die dunkeln Schatten unter seinen Augen zur Kenntnis, aber er lächelte mich an.

„Guten Morgen, Frau Larsen, hatten Sie einen schönen Abend?“

„Guten Morgen, Herr Kanter. Damit ich es um sechs zum Dienst schaffe, muss ich leider früh schlafen gehen.“ Ich ließ ihn aus der Zelle und er ging ein Stück Richtung Essensausgabe, dann drehte er sich nochmal um.

„Nach dem Frühstück machen wir doch weiter, oder?“

Ich nickte. „Ich hole Sie ab.“

*

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese unruhige Nacht beschert habe, aber ich habe mir Sorgen um Sie gemacht“, sagte ich, als wir allein in der Bibliothek waren und Julian den Rechner hochfuhr.

„Sie müssen sich keine Sorgen um mich machen.“

„Es ist nicht lange her, dass Sie uns allen Grund zur Sorge gegeben haben.“

„Das war dumm und wird nicht mehr vorkommen.“

„Warum haben Sie es sich anders überlegt?“

„Das wäre zu leicht… Aber wenn die Lämmer wieder schweigen, bin ich mit einer Frage dran.“

„Fragen Sie, Agent Julian.“

„Warum ist ihre Verabredung mit Tellmann kein Date? Er mag Sie.“

Das zu meinem gestrigen Vorsatz, mein Liebesleben nicht mit Häftlingen zu diskutieren.

„Er ist mein Boss und außerdem ist mir noch nicht wieder nach einer neuen Beziehung.“

„Wer hat Ihnen das Herz gebrochen. Ich merke mir den Namen und statte ihm einen schmerzhaften Besuch ab, wenn ich entlassen werde“, sagte er und lächelte mich an.

„Danke für das nette Angebot, aber ich habe ihn verlassen, nicht er mich. Kein Grund also, ihn leiden zu lassen.“

„Und warum dann die Zurückhaltung bei dem schönen Tom?“

„Sie sind ja ganz schön neugierig heute. Was ist aus der Regel geworden, dass wir abwechselnd Fragen stellen?“

„Spielverderberin! Jetzt, wo es interessant wird.“

„Warum interessiert Sie mein Liebesleben?“

Er sah mir direkt in die Augen und dieses beunruhigende Kribbeln breitete sich wieder in mir aus.

„Willst du das wirklich wissen, Nina?“ Er beugte sich zu mir rüber und ich wich ein Stück zurück.

„Nein, ich glaube, ich sollte das lieber nicht wissen.“

Er schmunzelte, als er sich wieder zurücklehnte.

„Dann fragen Sie etwas anderes“, forderte er mich auf.

„Was ist Ihre Lieblingsfarbe?“

Er lachte.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie die Erste sind, der es zu persönlich wird. Also, ich habe keine Lieblingsfarbe. Ich mag alle Farben, außer Blau.“ Er sah zuerst an seiner blauen Anstaltskleidung hinunter, dann schaute er auf meine blaue Uniform. Ich nickte verständnisvoll.

„Warum haben Sie ihren Freund verlassen?“, fragte er.

Ich sah ihn empört an.

„Ich stelle so eine leichte Frage und Sie kommen mit so einem Hammer?“ Er sah mich unschuldig lächelnd an und ich stöhnte.

„Also gut. Ich war mit meinem Freund Marc acht Jahre zusammen. Ich wusste immer, dass es ihm schwerfiel, Gefühle zu zeigen, aber als meine Eltern starben und ich ihn gebraucht hätte, war er nicht für mich da und das hab ich nicht akzeptiert.“

„Es war richtig, zu gehen. Sie verdienen etwas Besseres als diesen Schwachkopf.“

„Da bin ich mir manchmal nicht so sicher.“

„Sie sind eine tolle Frau. Lassen Sie sich bloß von niemandem etwas anderes erzählen.“

Ich sah ihn skeptisch an.

„Sogar ihr Boss gräbt Sie nach nur drei Wochen schon an.“

„Das ist kein Date!“

„Weiß er das auch?“

Ich zuckte unschuldig mit den Schultern.

„Biest“, sagte Julian und grinste.

„Ich bin wieder dran. Womit haben Sie ihr Geld verdient, bevor Sie hier gelandet sind?“

Julians Blick verdüsterte sich und ich befürchtete schon, er würde nicht antworten, aber dann schien er es sich doch anders zu überlegen.

„Ich war Architekt.“

„Angestellt oder selbständig?“

„Selbständig. Zusammen mit meinem Freund Martin Hoffmann“, sagte er und betonte das Wort Freund auf eine merkwürdige Art.

„Gibt es Ihre Firma noch?“

„Martin führt sie weiter.“

„Und wenn Sie rauskommen?“

„Weiß ich noch nicht.“

„Warum arbeiten Sie nicht von hier aus? Sie können zwar an keinen Baubegehungen teilnehmen, aber Sie könnten Entwürfe machen. Wenn Sie wollen, spreche ich mit der Anstaltsleitung, ob Sie sich einen Laptop mit den notwendigen Programmen bringen lassen dürfen. Internet werden sie nicht genehmigen, aber wir finden sicher einen Weg, wie Sie mit ihrem Kompagnon kommunizieren können.“

„Ich kommuniziere aber nicht mehr mit Martin.“

„Hat er Sie nie besucht?“

„Er hat es versucht.“

„Und Sie wollten ihn nicht sehen?“

Er schüttelte verneinend den Kopf.

„Wann hatten Sie den letzten Besuch?“

Er sah mich nur an, antwortete aber nicht.

„Haben Sie überhaupt schon mal einen Besuch zugelassen?“

„Nein.“

„Julian, warum denn nicht? Kontakte nach draußen sind wichtig. Sie werden doch nicht ewig hier sein.“

„Darüber denke ich nicht nach.“

Ich sah ihn fassungslos an, als mir ein anderer Gedanke kam, der mir bei keinem anderen Häftling realistisch erschienen wäre.

„Sie haben die Hälfte ihrer Strafe jetzt abgesessen, nicht wahr?“

„Ja.“

„Haben Sie schon einen Antrag auf Gewährung einer Halbstrafe gestellt?“

„Nein, wozu?“

Ich hob ungläubig die Hände.

„Sie könnten auf Bewährung entlassen werden! Sie könnten hier raus, Ihr Leben weiterführen, Jessie zurückgewinnen.“

Er zuckte unter meinen Worten zusammen.

„Warum, zum Teufel, wollen Sie nicht hier raus? Und jetzt kommen Sie mir nicht wieder damit, dass Sie das nicht verdienen.“

Er sah mich schweigend an.

„Los! Reden Sie mit mir“, forderte ich.

„Ich darf ja nicht sagen, dass ich keine Entlassung verdiene.“

Frustriert rieb ich meine Stirn.

„Wir sollten noch ein paar Bücher erfassen, sonst werden wir nie fertig“, sagte er und griff nach einem Buch.

„Kommt gar nicht in Frage. Sie versprechen mir jetzt sofort, dass Sie morgen Kontakt mit ihrem Anwalt aufnehmen und den Antrag auf Halbstrafe stellen!“ Ich legte meine Hand auf das Buch, damit er den Titel nicht lesen konnte.

„Sie können mich hier zu fast allem zwingen, aber dazu nicht.“

„Julian, bitte!“

„Warum ist Ihnen das so wichtig?“, fuhr er mich an. Ich zog meinen Stuhl näher zu ihm und sah ihn eindringlich an.

„Weil ich Sie mag, verdammt! Sie müssen vielleicht gar nicht mehr hier sein und ich sehe doch, wie sehr Sie unter der Haft leiden. Meinen Sie, ich merke nicht, wie Sie jedes Mal zusammenzucken, wenn jemand eine Tür abschließt? Klaustrophobie, stimmt’s? Aber Sie sind natürlich viel zu stur, um jemandem davon zu erzählen.“

„Warum stellen Sie Fragen, wenn Sie alle Antworten schon kennen?“

„Ich will, dass Sie mir sagen, ob ich damit recht habe.“

Er sah mich wütend an und stand auf. Mit beiden Händen fuhr er durch seine Haare und starrte die Wand an. Als er sich wieder umdrehte, brannten zurückgehaltene Tränen in seinen Augen.

„Ja, verdammt noch mal. Natürlich haben Sie recht. Jetzt zufrieden?“

Ich ging zu ihm, wollte ihn umarmen, ihn trösten, so wie gestern Abend, aber er hob abwehrend die Hände.

„Nicht, das ertrage ich jetzt nicht.“

„Warum nicht? Weil du meinst, du verdienst nicht, dass jemand nett zu dir ist?“

Er sah mich verbittert an und ich wusste, ich hatte genau ins Schwarze getroffen.

„Julian, du bist der netteste Mensch, den ich seit Langem kennengelernt habe. Du verdienst es, glücklich zu sein, so wie jeder andere auch.“ Ich machte einen weiteren Schritt auf ihn zu und er stieß mit dem Rücken gegen das Regal.

„Wehr dich nicht dagegen, dich auch mal gut zu fühlen.“ Ich öffnete einladend die Arme und wartete ab. Gequält sah er mich an, gab dann aber doch nach und schloss seine Arme um mich. Ich fühlte, wie er zitternd einatmete und es dauerte eine ganze Weile, bis die Spannung in ihm nachließ.

„Du bist verrückt. Warum tust du das?“, flüsterte er.

„Weil du mir wichtig bist.“ Er lehnte sich zurück, um mich anzusehen. Dann strich er eine Haarsträhne zurück, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatte und sein Blick wanderte von meinen Augen zu meinen Lippen. Er würde mich küssen, wenn ich mein Gesicht jetzt hob und ich wollte genau das. Ich wollte es so sehr. Aber das konnte ich einfach nicht tun. Es wäre weder ihm gegenüber, noch mir selbst gegenüber fair, also löste ich mich sanft aus der Umarmung. Um seinen Mundwinkel zuckte ein bitteres Lächeln.

„Stell den Antrag auf Halbstrafe und kämpf dich hier raus. Dann komm zu mir“, sagte ich und ging zurück zu dem Bücherkarton, aus dem ich heute noch keine drei Bücher kontrolliert hatte. Er setzte sich an den Computer und nach ein paar Minuten hörte ich das Klappern der Tastatur.

Nina

Am nächsten Tag hatte Julian einen Termin beim Anstaltspsychologen, daher fiel die Arbeit in der Bibliothek aus und ich war froh über diese Pause. Unser Frage und Antwort-Spiel zehrte nicht nur an Julians Nerven. Ich sah ihn nur kurz, als er mit den anderen Gefangenen zum täglichen Hofgang hinunterging. Er sah mir in die Augen, als er an mir vorbeiging, sagte aber nichts. Wie immer hielt er sich gerade und verzog keine Miene, aber ich kannte ihn mittlerweile besser und konnte die Anzeichen, wie die dunklen Schatten unter seinen Augen, deuten. Es ging ihm nicht gut.

*

Als ich am Freitag zur Frühschicht kam, war Tom bereits im Wachraum.

„Nina, du musst mir heute beim Verwaltungskram helfen, die Bibliothek kann warten“, sagte er, sobald ich zur Tür hereinkam. Misstrauisch sah ich ihn an. Hatte er den Verdacht, dass mein Verhältnis zu Julian nicht so war, wie es sein sollte? Aber als ich die E-Mail der Anstaltsleitung mit den Fragen zum Budget des kommenden Jahres las, beruhigte ich mich wieder. Tom hatte nur eine lästige Aufgabe erhalten und suchte jemand, der ihm dabei half.

„Ich sage Kanter, dass wir erst Montag weitermachen, vielleicht geht er ja in den Gemeinschaftsraum.“

„Na dann, viel Erfolg“, sagte Christian spöttisch. Ich lief den Gang hinunter und klopfte an Zelle sieben. Als ich sein „Herein“ hörte, schloss ich auf. Julian stand lächelnd vor mir, aber das Lächeln wirkte auf mich nicht überzeugend. Ich schob ihn rückwärts in den Raum und lehnte die Tür hinter mir an.

„Hey, Julian, ich muss mit dir reden.“

Mit finsterem Blick wies er auf den Stuhl und setzte sich aufs Bett.

„Hat Tellmann verboten, dass wir in der Bibliothek arbeiten?“, fragte er. Die Verärgerung war seiner Stimme deutlich anzuhören.

„Nein, warum sollte er?“

„Weil er eifersüchtig ist.“

„Wie kommst du darauf?“

„Er hat mich gestern in der Spätschicht persönlich gefilzt.“

Ich legte meine Hand auf seine.

„Das ist sein Job. Nicht nur ich mache mir Sorgen um dich.“

„Wenn du das sagst.“

„Ich muss heute Papierkram erledigen, aber am Montag machen wir weiter, versprochen.“

„Ja natürlich. Du musst mich nicht wie ein Kleinkind behandeln.“

„Das weiß ich. Aber ich würde mich trotzdem freuen, wenn du heute in den Gemeinschaftsraum gehst.“

„Ich bleibe hier, danke.“

„Bitte. Du hast gestern schon nicht gut ausgesehen, verkriech dich nicht in deiner Zelle.“

„Mir geht es gut“, beteuerte er, aber ich glaubte ihm kein Wort.

„Hast du schon deinen Anwalt angerufen?“

„Nein.“

„Gib mir seinen Namen, dann mache ich einen Termin für dich aus.“

„Das geht dich nichts an. Versteh das doch!“

„Willst du mich bestrafen, weil ich dich vorgestern nicht geküsst habe?“, fragte ich.

Er atmete tief durch und schloss die Augen.

„Ich hätte dich gern geküsst, aber es war richtig, mich aufzuhalten. Ich entschuldige mich für mein Verhalten und bin dir natürlich nicht böse.“

„Geh zu deinem Papierkram, sonst muss ich bei der nächsten Begegnung mit Tellmann wieder die Hosen runterlassen.“

Ich stand auf, als er zu mir aufsah, strich ich durch seine dunklen Haare.

„Du könntest einen Haarschnitt vertragen. Darf ich dir wenigstens einen Termin beim Friseur machen? Der Anstaltsfriseur ist heute da.“

Er lächelte und nickte.

„Ich verabschiede mich, bevor ich gehe.“ Als ich mich an der Tür nochmal zu ihm umdrehte, sah er mir regungslos nach und ich wünschte so sehr, dass er sich helfen ließe.

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