Читать книгу: «Ein Land für Kinder?», страница 2

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Neue Freunde für Max

Als Max sich auf sein Fahrrad schwang, goss es in Strömen. Verdrossen trat er in die Pedale. Nur seine Augen und seine Nase lugten aus seinem Regencape heraus.

Aus einer Einfahrt schoss ihm von rechts ein anderer Radfahrer ins Vorderrad hinein. Völlig unvorbereitet kippte er mit seinem Rad um und schlitterte durch mehrere Pfützen. Nässe drang in seine Jeans ein. Der andere Radfahrer war ebenfalls gestürzt.

„Du Blödmann, kannst du nicht aufpassen“, knurrte Max. „Tut mir leid, ich habe dich nicht gesehen“, entgegnete der andere Junge.

„Paul, Paul, ist dir etwas geschehen?“ Paul rappelte sich auf und schaute zu seiner Mutter hoch, die sich mit einem Regenschirm über ihn beugte.

Plötzlich begann die Mutter zu lachen. „Ihr seht wirklich erbärmlich aus! Wenn ihr euch beide bewegen könnt, kommt bloß schnell ins Haus.“

Max spürte sein linkes Knie beim Aufstehen. Seine Hose war am Knie zerrissen und darunter war eine Schürfwunde. Sollte er weiter zur Schule fahren oder mit ins Haus gehen? „Kommt bitte“, erklang die Stimme der Mutter, „so kann ich euch nicht fahren lassen!“

Freundliche blaue Augen schauten ihn besorgt an, als er durch die Tür gehumpelt kam. Im Nu türmten sich die Regencapes zu Bergen im Hausflur auf, und die nassen Hosen der Jungen lagen als Häufchen auf dem Fußboden. Dann wurde Max’ Wunde erst einmal mit Pflaster versorgt, und er bekam eine Ersatzhose von Paul. Sie passte.

Nun schaute er sich ihn genauer an und stutzte, weil Mutter und Sohn sich so ähnlich sahen. Das heißt, Pauls halblange Haare klebten nass an seinem Kopf, und die Mutter hatte einen kessen blonden Kurzhaarschnitt. Blond mussten wohl auch Pauls Haare sein. Durch die Nässe wirkten sie bräunlich. Mutter und Sohn waren ihm sehr sympathisch. Jetzt wusste er auch, dass er Paul schon in der Schule gesehen hatte. Er war ein Schuljahr weiter als er.

So schnell ließ Pauls Mutter die beiden nun nicht gehen. Sie bekamen zunächst jeder eine heiße Tasse Kakao zusammen mit herrlichen Keksen. Nach einer Weile wurden sie schließlich mit dem Auto zur Schule gefahren. Die Mutter lieferte beide Jungen in ihren Klassen ab, indem sie der jeweiligen Lehrerin einige Erläuterungen zum Unfall gab.

Als Max sich auf seinen Platz setzte und aufschaute, blickte er in die nachdenklichen braunen Augen von Marie-Sophie. Er stutzte und erinnerte sich sogleich an die Bilder, die er bei Mercuriamam gesehen hatte. Superschick war sie wieder angezogen, neugierig sah er sie an und wunderte sich darüber, dass sie ihn ebenfalls neugierig musterte. Sie hatte ihn sonst doch nie beachtet. Sah er irgendwie komisch aus? Verunsichert drehte er sich ab.

Dann wurde seine Aufmerksamkeit vom Unterrichtsfilm angezogen. Es ging um Verhaltensweisen von Tieren und die seltsame Tatsache, dass geschlüpfte Gänseküken das Wesen, das sie nach dem Schlüpfen zuerst sehen, als ihre Mutter ansehen und ihm bedingungslos folgen.

Begeistert betrachtete er die Bilder, die zeigten, wie ein Gänseküken von einem Jungen aufgezogen wurde. Das Gänsekind sah entzückend aus mit seinen flauschigen, kurzen Daunen.

Wieso hielt es ein so völlig anders aussehendes Wesen für seine Mutter?

Der Junge berichtete über seine Aufzuchtserlebnisse und beschrieb, wie spannend es war, die Hauptperson für ein so kleines Wesen zu werden.

Tag und Nacht forderte es mit seinem Fiepen seine Aufmerksamkeit und Zuwendung und steigerte sich in große Angst, wenn er nicht sofort reagierte. Es wollte nie allein sein.

Die Aufzucht war unendlich spannend, aber auch sehr, sehr anstrengend.

Es war etwas Besonderes, für ein Lebewesen Verantwortung zu übernehmen. Vernachlässigung konnte den Tod bedeuten.

Als Max nach der Stunde am Platz von Marie-Sophie vorbeiging, saß sie nachdenklich da, hatte ihren Kopf in ihre Hände gestützt, starrte vor sich hin und schaute ihn plötzlich an.

„Ich glaube, ich sollte auch nicht aufhören zu fiepen und meinen Eltern zeigen, dass ich nicht gern allein bin“, sagte sie und wusste nicht, warum sie Max, mit dem sie bisher kaum ein persönliches Wort gewechselt hatte, ansprach.

„Aber, du hast doch immer eine Frau, die sich um dich kümmert, wenn deine Eltern arbeiten.“ Marie-Sophie stutzte. Woher wusste Max das? Sie hatte bisher noch niemandem aus der Klasse davon erzählt. Verwundert antwortete sie: „Ja, versorgt werde ich, aber ich spüre doch, dass ich meinen Eltern eine Last bin und sie mich oft auch gar nicht richtig wahrnehmen. So ein Gänsejunges macht es da doch richtig.“

„Meine Mutter würde nicht einmal mein Fiepen hören, denn sie ist meistens nicht da und sorgt höchstens dafür, dass im Kühlschrank etwas zu essen ist.“

Max zögerte, sah Marie-Sophie prüfend an und sagte: „Ich möchte dir ein Geheimnis zeigen, würdest du dich am Nachmittag mit mir treffen?“

„Heute kann ich nicht, denn ich habe Geigenunterricht, aber morgen werde ich den Spanischunterricht schwänzen.“

„Dann hole ich dich mit dem Fahrrad um drei Uhr ab. Hast du überhaupt ein Fahrrad?“ – „Na klar.“ Sie trennten sich und schauten sich für den Rest der Unterrichtsstunden nicht mehr an.

Nach der Schule fiel Max ein, dass sein Fahrrad bei Paul stand. Es hatte aufgehört zu regnen, und er machte sich auf den Weg. Da er sein Fahrrad nicht erblickte, klingelte er und wurde sogleich freundlich ins Haus gebeten.

Pauls Kopf lugte vom Esstisch der Küche durch die Tür. Vor ihm stand ein herrlicher Eierpfannkuchen. „Warten deine Eltern auf dich oder willst du mit uns essen?“ – „Auf mich wartet niemand.“ – „Dann lass dich nicht lange drängen, ich habe noch genügend Teig.“

Max nahm Platz und aß mindestens drei Pfannkuchen. So gut hatte es ihm schon lange nicht mehr geschmeckt.

Die kleinen Schwestern Lene und Anne mochten ihn leiden und begannen mit ihm zu toben. Gutmütig ließ sich Max von ihnen zerzausen. Pauls Mutter rettete ihn schließlich davor, zerdrückt zu werden und gab den Kleinen Malstifte und Papier.

Danach legten sich die beiden Jungen im Zimmer von Paul auf den Fußboden, hörten Musik und sprachen über Fußball. Paul musste um vier Uhr zum Training. „Willst du nicht auch spielen?“, fragte er. „Du hast doch so viel Ahnung.“ – „ Aber leider zwei linke Füße.“

Mit Bedauern verabschiedete sich Max und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause. Seine Hose hatte er gewaschen und geflickt dabei, und die geliehene sollte er zur Entschädigung auch behalten

Auf der Heimfahrt fing es wieder an zu regnen, und zwar so stark, dass er gezwungen wurde nach Hause zu fahren. Es war niemand da.

Max warf sich auf sein Bett. „Hallo Mercuriamam, mir geht es gut, ich bin satt, ich habe ein weiches Kissen und ein Dach über dem Kopf.“

Er griff nach dem Stein, den er unten in der Erdhöhle aufgesammelt hatte und der irgendwie in sein Bett gelangt war. Er legte ihn zwischen seine Handflächen.

Sehr glatt fühlte er sich an und wurde immer wärmer, doch plötzlich zappelte etwas in seiner Hand und drängelte sich heraus.

Ein Kopf mit großen Augen und wenigen Stoppelhaaren, mit schwarzen Stängelarmen und Beinen flutschte hervor, stellte sich vor ihm auf und quäkte: „Nun komm schon. Wie lange willst du noch auf der Erde bleiben? Folge mir mit in die Tiefe zur Großen Erdmutter.“ Erstaunt griff Max zu, um den hässlichen kleinen Spinnenkerl aus der Nähe anzusehen. Schwups hatte dieser seine Gliedmaßen eingezogen, und Max hatte wieder nur einen glatten Stein in der Hand. An Stelle der verschwundenen Gliedmaßen erschien eine Leuchtschrift auf dem Stein.

KOMM!

Sollte er wirklich sofort in die Erde hinabsteigen?

Draußen goss es in Strömen. Es wurde schon dunkel. Nein, heute hatte er kein Bedürfnis nach weiteren Erlebnissen. Er schaltete den Fernseher an. Wann immer sein Blick auf den Stein fiel, leuchtete ihm das „KOMM“ entgegen.

Seine Mutter kam um 19 Uhr nach Hause, um bald darauf eine Freundin aufzusuchen. Im Fernsehen lief inzwischen ein Film über Botswana.

Max hatte sich belegte Brote gemacht und aß sie, während er interessiert das Geschehen im Film verfolgte.

Eine Löwenmutter hatte sich mit ihren drei Jungen in den Busch verkrochen, um sie dort ungestört und gefahrloser aufzuziehen. Ergeben lag sie auf dem Rücken und ließ zu, dass sie als Kletterberg benutzt wurde. Die Kleinen tollten auf ihr herum, rutschten immer wieder runter, fielen hin und wieder übereinander her, bekamen ein Knurren zu hören, wenn sie es zu toll trieben, und legten schließlich ihre Mäuler an die Zitzen der Mutter. Zufrieden traten sie beim Saugen mit ihren Tatzen neben die Zitzen, rollten sich, als sie satt waren, dicht an die Mutter und schliefen ein. Auch die Mutter lag weiter dösend da. Bei einem knackenden Geräusch hob sie prüfend den Kopf. Aufmerksam starrte sie umher, bis ihre Sinne Entwarnung gaben.

„Löwenkind zu sein wäre auch nicht schlecht“, dachte Max, als er schließlich zu Bett ging.

Wie Kinder leben und sterben

Am nächsten Tag hatte es endlich aufgehört zu regnen. Der Himmel war allerdings immer noch grau verhangen. Die Fahrt zur Schule verlief für Max ohne Unfall. Als er an die Ausfahrt von Pauls Eltern kam, fuhr dieser ihn diesmal nicht an, sondern erwartete ihn an der Toreinfahrt. „Ich hatte doch gehofft, dich zu treffen“, meinte er. „Es wäre schön, wenn wir uns mal wieder verabreden könnten.“

Max war sehr erfreut. „Klar doch, dann könnte ich dir meine Hütte am See zeigen.“ Verlegen kratzte er sich am Kopf und verschob dabei seine Kappe, denn ihm war gerade noch eingefallen, dass er sich heute Nachmittag mit Marie-Sophie verabredet hatte. So sagte er dann auch: „Leider geht es heute nicht, aber, wie wäre es mit morgen?“ Paul war einverstanden und gemeinsam fuhren sie zur Schule.

Als sie dort ankamen, stieg gerade Marie-Sophie aus dem Auto, verabschiedete sich von ihren Eltern und wandte sich den Jungen zu. Sie kannte auch Paul schon vom Sehen und fand ihn richtig gut. Etwas schüchtern reichte sie ihm ihre Hand zur Begrüßung und warf dabei ihre langen Haare nach hinten. Danach trennten sie sich bald. Marie-Sophie und Max schlenderten gemeinsam in ihre Klasse. Sie sollten zuerst Deutsch haben.

Plötzlich hatte es Max eilig. „Ich muss schnell noch einige Sätze zur Inhaltsangabe hinzufügen, ich habe völlig vergessen, dass ich die Hausaufgaben noch nicht fertig habe.“

Nun wurde Marie-Sophie eifrig und holte schnell ihren Text hervor. Sie reichte ihn Max, und dieser begann sofort mit dem Abschreiben. Da er schon häufig ohne erledigte Aufgaben aufgefallen war und er jedes Mal eine schlechte Zensur dafür bekommen hatte, konnte er sich keine weitere leisten. Seine Versetzung stand auf dem Spiel. Auch wenn es ihm egal war, wie gut seine Schulleistungen waren, so wusste er doch, dass es gut war, wenigstens den Realschulabschluss zu bekommen.

Er kannte genügend ältere Jungen, die herumlungerten und keine Arbeit oder Lehrstelle bekamen. Sie wussten nichts mit sich anzufangen, trafen sich oft an bestimmten Plätzen, tranken Alkohol und pöbelten andere an. So etwas Sinnloses wollte er nicht tun. Er glaubte zwar daran, ganz auf sich gestellt in der Natur überleben zu können, wusste aber nicht, ob Deutschland der richtige Ort dafür wäre. Vielleicht sollte er einmal nach Kanada oder Australien auswandern.

Kurz nachdem er mit dem Abschreiben fertig geworden war, betrat Lehrer Steinbrech die Klasse. Und natürlich wurde Max als erster aufgefordert, seine Inhaltsangabe vorzulesen. Danach konnte er aufatmen, denn er wurde gelobt. Er drehte sich zu Marie-Sophie um und warf ihr lächelnd einen nicht zu dankbaren Blick zu. Und weil er nun einmal gut gestimmt war, beteiligte er sich auch am nachfolgenden Unterricht, obwohl ihn das, was sie zu lesen bekamen, unendlich wütend machte. Steinbrech hatte Zeitungsabschnitte gesammelt und befestigte sie mit Magneten an der Tafel.

Babyleichen in Blumentöpfen gefunden Säugling vom Balkon geworfen Schon wieder ein Kind in Wohnung der Eltern verhungert Säugling vor Babyklappe an Unterkühlung gestorben Säugling auf Tankstellentoilette zurückgelassen

Die Schüler kannten die Überschriften aus den Zeitungen. Seit 2006 hatte immer wieder eines dieser Ereignisse die Zeitungsseiten gefüllt. Die gefühlvolle Michaela äußerte sich sofort ganz spontan:

„Was geschieht da eigentlich hier bei uns, sterben wir bald aus, weil es keiner mehr schafft, sich um die Kleinen zu kümmern? Warum lieben diese Eltern ihre Kinder nicht, wie können sie sie so erbärmlich behandeln! Was sind das bloß für Menschen?“

„Und das Schlimmste ist“, sagte Marie-Sophie, „dass diese Menschen eigentlich ganz normal aussehen, nur irgendwie selbst auch oft etwas kümmerlich und krank.“

Es entwickelte sich eine aufgeregte Diskussion. Gründe für das Verhalten der Eltern wurden angedacht und nach Maßnahmen gesucht, die diese Katastrophen hätten vermeiden können.

Alle redeten sich die Köpfe heiß.

Schließlich griff Herr Steinbrech ordnend ein. Können wir etwas feststellen, was diese Fälle gemeinsam haben?

„Ja“, antwortete Max ganz spontan, „alle diese kleinen Wesen wurden nicht geliebt, sie waren lästig und unerwünscht.“ Sofort protestierten andere gegen diese Aussage. „Kinder können doch nicht lästig sein!“

„Aber man muss heute doch kein Kind bekommen, wenn man es nicht will, es gibt doch schließlich Verhütungsmittel“, rief nun auch Sonja in die Klasse. Sofort erhob sich ein Stimmengewirr, und alle redeten durcheinander. Der Pausengong wurde überhört, weil alle auf einmal ihre Meinung äußern wollten. Das Thema interessierte sie.

„Wisst ihr was, wir nehmen diese furchtbaren Fälle als Anlass, über Erziehung nachzudenken. Schreibt doch bitte einmal auf, wie ihr von euren Eltern erzogen werdet. Wie viel Zeit eure Eltern für euch aufwenden mussten für eure Versorgung und Betreuung als Baby und Kleinkind und welche Regeln und Verhaltensmaßnahmen sie euch mitgaben.“

Mit diesen Worten schloss Herr Steinbrech die Stunde und ließ eine emotional aufgewühlte Schar zurück.

Der Auftrag

Nach der Schule sauste Max gleich mit seinem Fahrrad zum Fabrikgelände. Prüfend schauten seine Augen zu den Grasbüscheln, unter denen die Eisenplatte verborgen war. Er legte eine Kante frei und schob seine Hand unter das Blech. „Es wird langsam Zeit, dass du dich sehen lässt“, hörte er eine Stimme neben sich sagen, und eilig entfernte sich ein Stein mit vielen schwarzen Beinen.

„Warte, dich kriege ich!“ Schnell flitzte Max hinter dem Spinnenstein her, ergriff ihn und – verschwunden waren die Spinnenbeine, und er hatte nichts als einen Stein in der Hand.

Nach kurzer Zeit leuchtete wieder das KOMM auf.

Max steckte den Stein oder was es sein sollte in seine Hosentasche und kehrte zur freigelegten Kante zurück. Er hob sie an und siehe da, sie ließ sich leicht heben.

Sollte er jetzt hinuntersteigen? Er fühlte fast einen Zwang, es zu tun. Nein, er hatte doch nur probieren wollen, ob sich die Eisenplatte bewegen ließ. Er würde jetzt Marie-Sophie abholen und mit ihr hierher zurückkehren.

Irgendwie wollte er, dass sie ihn begleitete. Zunächst einmal fuhr er in seine Wohnung, schaute in den Kühlschrank und futterte munter drauflos.

Während er aß, sah er sich als kleines Kind mit seiner Mutter kuscheln. Wie viel Zeit hatte sie mit ihm verbracht! Allein war er nie gewesen. Wenn sie nicht da war, waren seine Großeltern bei ihm oder Freundinnen seiner Mutter. Mit drei Jahren kam er in den Kindergarten, und die Mutter begann zu arbeiten. Von nun an hatte sie weniger Zeit für ihn, aber lieb hatte sie ihn weiter und oft mit ihm gespielt. Seit einigen Jahren kannte er allerdings schon nichts anderes mehr, als dass sie meistens fort war, zur Arbeit oder unterwegs bei Freunden. Es war eben so!

An die Hausaufgabe Steinbrechs denkend, schrieb er schnell auf:

„Als Säugling und Kleinkind bis zu drei Jahren wurde ich rund um die Uhr von meiner Mutter betreut. Sie verbrachte den ganzen Tag mit mir. Es müssen täglich zwölf Stunden gewesen sein. Jetzt mit zwölf Jahren sehe ich meine Mutter vielleicht zwölf Stunden in der Woche, weil sie arbeitet oder eigene Unternehmungen macht. Meine Mutter hat mir vieles beigebracht und auch erklärt, warum ich nett zu anderen Leuten sein sollte, und wenn sie mir etwas verboten hat, musste ich es auch befolgen, sonst wurde sie sehr böse.“

Der kurze Text musste genügen, denn es wurde Zeit, Marie-Sophie abzuholen.

Nicht lange danach standen sie gemeinsam vor der Eisenplatte auf dem Fabrikgelände. Die Sonne brach durch das Wolkengrau und ließ die Umrisse aller Gegenstände auf dem Gelände scharf hervortreten. Neugierig war Marie-Sophie ihm gefolgt, obwohl sie nichts von dem, was er erzählte, glauben konnte.

„Du wirst sehen, ich werde dir eine andere Welt zeigen. Es muss doch eine Bedeutung haben, dass ich dich dort gesehen habe“, sagte Max sich zu Marie-Sophie umwendend. „Folge mir die Treppe hinunter!“

„Sollte sie da hinuntergehen? Ja, das Ganze war zu spannend!“ Nie wäre sie jetzt auf den Gedanken gekommen umzukehren. Neugierig stieg sie mit Max die Stufen hinunter. Es war alles unbekannt für sie. Auf einem Fabrikgelände war sie noch nie gewesen. Konnte er ihr hier etwas Besonderes zeigen? Sie glaubte es nicht und war trotzdem mitgekommen.

Spöttisch gelacht hatte sie, als Max sich ein Grasbüschel auf einen Eisenstab gesteckt hatte und gemeint hatte, dass das ihre Lichtquelle auf der dunklen Treppe werden würde. Und wie staunte sie, als das Büschel zu glühen begann und ihren Weg graugrün ausleuchtete. „Sag, mal, hast du heimlich phosphoreszierendes Material besorgt?“

„Du wirst noch viel Ungewöhnliches sehen, das Gras ist nur das erste.“ Und schon begann um sie herum ein Hüpfen und Poltern. Viele Steine bewegten sich gelb leuchtend die Treppe hinunter bis in die Halle.

„Na, ihr habt lange auf euch warten lassen“, ertönte Mercuriamams warme Stimme.

„Na, ich bin reichlich unsanft weggeschickt worden, es zog mich nichts so schnell wieder hierher“, konnte Max noch sagen, und dann versank er wieder in Wärme und Weichem.

„Wir hatten erkannt, dass du am liebsten bei uns geblieben wärest, und das konnten wir dir zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlauben. Deshalb haben wir dich etwas grob in deine Welt zurückbefördert. Ich hoffe, du verzeihst uns, wenn du erfährst, was der Grund hierfür war. Wir brauchen nämlich eure Hilfe. Auch wenn wir alles verfolgen können, was auf der Welt geschieht, können wir nur sehr selten selbst eingreifen. Wie schön, dass du Marie-Sophie mitgebracht hast. Marie-Sophie, herzlich willkommen im Vorzimmer der Großen Erdmutter!“

Marie-Sophie starrte bewegungslos in das sanfte gelbe Licht, das eine unglaubliche aus- und einladende Person umgab. Sie sah nichts anderes als diese. Ihr Gesicht, das nicht voll ausgeleuchtet war, strahlte große Ruhe aus und wurde von grüngelben, strahlenförmig abstehenden Haaren umrahmt. Ihre ebenfalls grünlichen Augen schauten sie liebevoll an.

Kaum verstand sie die Worte, die an ihr Ohr drangen. Sie hörte nur eine Stimme, die ihr so melodiös und sanft erschien, dass sie immerfort hätte lauschen können, ohne auch nur begreifen zu wollen, was gesagt wurde. Schritt für Schritt näherte sie sich, wie magisch angezogen, und versank ebenfalls in der warmen und weichen Umarmung von Mercuriamam. Auch sie fühlte sich so glücklich, wie Max sich schon bei seinem ersten Zusammentreffen mit Mercuriamam gefühlt hatte.

Beide wussten nicht, wie lange sie in diesem Zustand des Wohlfühlens zugebracht hatten, als sie ein Räuspern hörten.

Sie schauten hoch und erblickten einen langen, dürren Mann mit einem schwarzen Holzkasten unter dem Arm. Von seiner Gestalt war nicht viel zu erkennen, da er ganz dunkel gekleidet war. Graugrün schimmerte sein Gesicht, und seine unglaublich langen Hände erinnerten an dürre Zweige. Er trug einen Hut, unter dem helles, grünliches Haar heraus spross.

Mercuriamams Arme umschlossen die beiden Kinder fester und sie sagte:

„Ich möchte euch unseren Berichterstatter Herrn Klarsicht vorstellen. Er ist einer unserer Verbindungsmänner zur Welt und ist ständig auf der Suche nach Kindern, die Hilfe gebrauchen können. Auf diese Weise haben wir auch euch gefunden.“

„Wieso uns?“, riefen beide aus einem Munde. Nun fing Herr Klarsicht an zu sprechen. „Nach meinen Aufzeichnungen werdet ihr zwar von euren Eltern versorgt, seid aber viel zu lange allein und seid beide im Augenblick in einer Krise.

Ihr beginnt zu zweifeln, ob eure Eltern alles richtig mit euch machen, und fragt euch, warum ihr öfter unglücklich seid. Mit Verstand und Gefühl versucht ihr, eure Situation zu beurteilen und in den Griff zu bekommen.

Solche Kinder brauchen wir. Ihr könnt uns helfen, Kindern, denen es viel schlechter geht als euch, aus lebensbedrohlichen Situationen zu befreien.“

Max hätte alles versprochen, wenn er sein Bleiben bei Mercuriamam noch verlängern konnte. Einerseits fühlte er sich etwas unwohl, dass seine Situation so auf den Punkt gebracht wurde, andererseits wusste er, dass er nur zu gern helfen wollte. Er schaute Marie-Sophie an und erkannte sofort, dass sie ähnliche Gefühle hegte.

„Willst du Herrn Klarsicht antworten?“, fragte er. Sie nickte und begann: „Wir helfen natürlich, wenn es möglich ist. Aber wie können wir anderen helfen, wenn wir unsere eigenen Verhältnisse nicht einmal ändern können?“

„Ihr werdet schon sehen, sehen, sehen“, dröhnte es in ihren Ohren. Und aus dem schwarzen Kasten quoll Bild auf Bild heraus.

Auf dem ersten Bild erblickten sie einen kleinen Jungen in seinem Bett hin und her schaukeln. Sein Bettbezug war über und über verschmutzt, dann lag er gekrümmt und regungslos da. Sein Blick starrte leer an die Wand neben seinem Bett.

In den folgenden Aufnahmen sahen sie die Wohnung, dann das Treppenhaus und schließlich schwenkte die Kamera auf die Straße.

Max und Marie-Sophie hielt es nicht länger in der Geborgenheit von Mercuriamam.

„Sollen wir das Kind aus der Wohnung seiner Eltern herausholen?“, rief Max. Und ohne die Antwort abzuwarten, fragten sie beide zugleich aufspringend: „Wohin sollen wir das Kind bringen?“

„Hierher natürlich!“, antwortete Herr Klarsicht.

„Der kleine vierjährige Junge heißt übrigens Steffen Seibold, und weil ihr schon steht, brauche ich euch nicht unsanft von mir zu stoßen. Beeilt euch, der Kleine ist in Lebensgefahr. Nehmt dieses aus unserem Reich mit, es könnte euch noch nützen“, ergänzte Mercuriamam die knappe Antwort von Herrn Klarsicht.

Darauf überreichte sie Max einige kurze Stöcke und einige Steine. Max steckte sie wortlos in seine Hosentasche. Als sie sich von Mercuriamam und Herrn Klarsicht verabschieden wollten, lag die Stelle, an der sich die beiden befunden hatten, im Dunkeln.

Hell erleuchtet lag jedoch die Treppe vor ihnen. Tausende von Leuchtsteinen standen Spalier und ermöglichten ihnen einen schnellen Aufstieg.

Oben angekommen, atmete Marie-Sophie tief, erfasste Max an beiden Armen und schüttelte ihn.

„Sag, haben wir das wirklich erlebt, oder hatten wir Halluzinationen? Was ist das nur für eine Welt, in der wir da waren?“

Als sie sich leicht schaudernd nach der Treppe umschaute, war diese verschwunden.

Auch Max schüttelte seine Benommenheit ab.

„Da haben wir wohl eine schwierige Aufgabe vor uns. Auf jeden Fall müssen wir uns das Haus, in dem Steffen wohnt, ansehen“, sagte er.

Es begann zu dämmern. „Wir sind ganz schön lange im Erdreich gewesen“, dachte Max. „Es ist mir aber sehr kurz vorgekommen.“

Die späte Zeit in der Wirklichkeit verlangte aber, dass sie sich trennten und schnell ihr eigenes Zuhause aufsuchten. Morgen würden sie über ihr Vorgehen nachdenken.

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