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Der kleine Nöck

Im Steinhuder Meer hatte ein Seeadler, es kann auch ein Fischadler gewesen sein, versehentlich einen kleinen Nöck gefangen. Er wollte damit seine Brut auf dem nahe gelegenen Brutbaum füttern. Nöcke sind Wassergeister, die von alters her unsere Seen, Bäche und Flüsse bewohnen und Schabernack mit den Menschen treiben, sie ins Wasser ziehen, unter Mühlrädern wohnen oder Flussfurten bewachen. Im Zeitalter der Brücken, Flussbegradigungen, elektrischen Getreidemühlen, Regenrückhaltebecken, und an Flüssen liegenden Atomkraftwerken ist ihre Zahl stark zurückgegangen. Sie stehen auf der Liste der bedrohten Geistarten, genauso wie Baumgeister, Luftgeister, Wichtelmänner und Kobolde, Gnome und Süntelgeister.

Unser Seeadler also wollte seine Beute zu seinem Horst bringen. Der kleine Nöck quengelte und schrie so sehr, auch weil er sein Element, das Wasser, entbehren musste, dass der Adler nicht unbedingt ein Einsehen hatte, aber den kleinen hässlichen Kerl wieder loswerden wollte. Er flog bis zum nicht weit gelegenen Springe, wobei er noch den Deister überqueren musste, warum, weiß der Chronist nicht zu sagen, und ließ den kleinen Kerl direkt über unserer Regentonne fallen. Es machte einen mittelheftigen Platsch, der aber im allgemeinen Gebrumm von Rasenmähern, dem Rauschen der nahen Bundesstraße und dem nie enden wollenden Hundegebell unterging.

Hier war er also: Der kleine Nöck, Arthur mit Namen, seine Freunde nannten ihn Atze, und saß nun im Regenfass fest. Seine Mutter, die Nixe Gwendoline, vermisste ihn wahrscheinlich schon. Sein Vater, der Wassermann, war schon vor langer Zeit unbekannt verzogen. Obwohl Arthur schon mehrere hundert Jahre alt war, war er doch noch ein Junge, in Menschenjahren noch keine sechs. Arthur hatte Hunger. Er öffnete sein Mäulchen mit den niedlichen, grünen Fischzähnchen, bekam aber nur ein paar winzige Mückenlarven zu fassen, die an der Wasseroberfläche zappelten und auf ihren ersten Flugtag warteten. Wasser war ja schon mal gut, aber zu wenig davon da. Was sollte nur aus dem Nöck werden? Die Tonne verlassen, ging nicht. Wassergeister sterben, wenn sie sich zu lange außerhalb ihres Elementes aufhalten. Also dableiben und Hungers sterben. Er malte sich schon die Schlagzeilen nach seinem Ableben in der Neuen Deister-Zeitung aus:

Seltsamer Kadaver in Regentonne gefunden! Experten vom Zoologischen Institut der Leibniz-Universität Hannover ratlos!

»Springe. Ein ungewöhnlicher Fund in der Regentonne einer angesehenen Springer Familie. Der Institutsleiter Professor Sigmund Callustus spricht von einem chimärischen Eigenschaftsgemisch. Die Obduktion des Springer Fundes ergab ein Mixtum compositum aus Säugetier, Reptil und Fisch. Der Kadaver kann noch keiner bekannten Lebensform zugeordnet werden.«

Arthur hatte eine ziemlich genaue Vorstellung von der Fantasielosigkeit deutscher Professoren. Arthur versuchte, seine negativen Gedanken einzufangen. Er suchte nach einem Ausweg. Was die wenigsten wissen: Wassergeister haben die Fähigkeit, willentlich in eine Art Hibernation, also Winterstarre, zu fallen, die über viele Jahre anhalten kann. Und so geschah es.

Da es in den vergangenen Wochen immer mal wieder geregnet hatte, gab es keinen Grund für irgendjemandem im Haus in die Regentonne zu schauen. Und so hatte Arthur seinen Stoffwechsel heruntergeregelt und verschlief viele Tage und Nächte. Eines Tages weckte er sich selber oder wurde geweckt – so genau weiß man das nicht – und hörte, wunderschön auf einem Piano gespielt, dessen Klänge aus einem geöffneten Fenster drangen, die Regentropfen-Etüde von Frederic Chopin. Nun sind Tanz, Gesang und Musik die Freude der Nixen. Etwas knackte und rauschte im Leib des Nöck, etwas streckte sich, seine Lungen weiteten sich, er tat einen tiefen Atemzug, er stieg triefend aus seinem Wasserfass, er hatte altmodische Schnürstiefel und lange Stricksocken an, eine Popeline-Hose und eine beige Strickjacke. Arthur ging vorsichtig und steifbeinig auf einen herrlich duftenden, tief blauen Phlox zu und schnupperte ehrfürchtig an den Blüten. Er sah aus wie ein altes Kind und stand plötzlich auf dem Rasen in meinem Garten (und tauchte in einer anderen meiner vielen Geschichten auf).

Die magische Trompete

Am späten Abend sah der junge Mann in der Unterführung des Hauptbahnhofes, da, wo der Urin noch frisch war und Lachen auf dem schmutzigen Boden gebildet hatte, eine alte Trompete am Boden liegen. Der junge Mann hob sie auf und schaute sich das Instrument aus Messing an. Der Schalltrichter war zerknittert, die Röhren waren verbeult und verbogen, doch die Mechanik funktionierte noch. Vielleicht war der unglückliche Besitzer, zornig über seine eigene Talentlosigkeit, auf ihr herumgesprungen und hatte die Trompete zertrampelt. So sah sie jedenfalls aus. Ein Mundstück gab es nicht. Der junge Mann beschloss, sie aus keinem bestimmten Grund mit nach Hause zu nehmen.

Der junge Mann hatte die Trompete auf den Küchentisch gelegt, als er endlich um drei Uhr in der Frühe nach Hause gekommen war. Sein Vater, der Kommissar, entdeckte sie am Morgen, verbeult und angelaufen wie sie war. Er musste nicht zum Dienst, denn es war Sonntag, und er hatte Bereitschaftsdienst. Sein Vater, der Kommissar, besaß als Erinnerungsstück an seine Jugend ein Trompetenmundstück. Er hatte in der Nachkriegszeit in der Tanzkapelle »Die Weiße Fünf« Trompete gespielt. Nun steckte er das Mundstück auf das havarierte Instrument, drückte probehalber die Ventile und blies »Il Silencio« von Nini Rosso. Die Trompete hatte einen schönen Klang, und durch das geöffnete Fenster drang die getragene Melodie in die sonntägliche Morgenstille des kleinen Dorfs. Das Wetter meinte es gut. Die Sonne schien, und die Luft war klar. Wer in der Umgebung noch nicht wach gewesen war, war es jetzt.

Natürlich gab es in diesem Dorf, wie in jedem in Deutschland, eine freiwillige Feuerwehr. Und diese freiwillige Feuerwehr hatte natürlich eine Feuerwehrkapelle. Auch Friedrich Hüper, Mitglied in dieser Kapelle, war erwacht und hatte wie gebannt der live gespielten Solotrompete gelauscht. Er spielte erstes Flügelhorn. Nachdem er die Herkunft der Töne geortet hatte, ging es wie ein Lauffeuer durch das Örtchen: Der Kriminalkommissar, der in der Landeshauptstadt seinen Dienst tat, konnte Trompete spielen. Es dauerte nicht lange, und eine Abordnung des kleinen Blasorchesters stand in Uniform vor der Tür. Die Männer hatten ihre Dienstmützen abgenommen, drehten sie in ihren Händen und fragten, ob der Kommissar vielleicht in der hiesigen Feuerwehrkapelle mitspielen wolle.

Immer, wenn der Kommissar auf seiner Trompete mit der zweifelhaften Herkunft spielte, die er sich notdürftig hergerichtet hatte, änderte sich fast unmerklich das Licht, es roch etwas sonderbar wie nach Mottenkugeln und aus purpurnen Wölkchen erschienen eine schwarze Katze und ein goldener Vogel. Sie sprachen zu ihm, sie seien zwei verwunschene Prinzessinnen. Nur er könne sie durch sein Spiel auf dieser Trompete erlösen, indem er den »Hummelflug« korrekt und in einer Zeit unter einer Minute spielte. Der Kommissar war ein Freund der Frauen, und so übte er, wann immer es möglich war, die Komposition von Nikolai Rimski-Korsakow aus der Oper »Das Märchen vom Zaren Saltan«. Sie war in Anwesenheit des Zaren Nikolaus II. am 3. November 1900 an der Solodownikow Privatoper in Moskau uraufgeführt worden. Und eben die verbeulte Trompete, die von dem bekannten Petersburger Instrumentenbauer und Trompetenmacher Alexander Wassilowitsch geschaffen worden war und die Uraufführung von Rimski-Korsakows Oper mitgemacht hatte, war über mehrere Generationen von Trompetenspielern schließlich in den Besitz des Kommissars gekommen. Der Trompeter der Uraufführung hatte sich an entscheidender Stelle verspielt und aus nicht mehr zu ermittelnden Gründen war der hochmusikalische Zar Nikolaus so erzürnt gewesen, dass seine Kaumuskeln schwer arbeiteten und er in seinem Zorn den Hofmagier rief, der in seinem Übereifer zwei anwesende Damen des Hofes versehentlich in eine schwarze Katze und einen goldenen Vogel verwandelte. Und so erschienen die beiden immer, wenn jemand auf der Trompete spielte. Ihr letzter Besitzer, der die Trompete in Amsterdam auf dem Flohmarkt gekauft hatte, hatte sich mit der Aufgabe, die die verwunschenen Prinzessinnen vortrugen, irgendwann überfordert gefühlt. Er hatte das Instrument zu Boden geworfen und war in einem Anflug von heißem Zorn auf ihr herumgesprungen, wobei er sich auch noch den linken Knöchel verstaucht hatte. Schließlich war sie im Hauptbahnhof liegengeblieben. So erzählten Katze und Vogel.

Der Dirigent der Feuerwehrkapelle hatte den Kommissar schließlich davon überzeugen können, in dem kleinen Blasorchester mitzuspielen. Das war nicht allzu schwer, denn der Kommissar war schon ein bisschen geschmeichelt, dass er gefragt worden war und er liebte es auch, im Rampenlicht zu stehen und wenn es nur die Bühne des Dorfkrugs war. Und er hatte eine funkelnagelneue Trompete zur Verfügung gestellt bekommen. So ging der Kommissar jeden Donnerstag zum Üben in den Saal des nahegelegenen Dorfkrugs, um mit den Kameraden flotte Märsche, Schlager und arg vereinfachte Arrangements von Glenn-Miller-Stücken zu spielen. Anschließend wurden immer Biere und Schnäpse getrunken, was dem musikalischen Kriminalisten auch entgegenkam.

Nicht vergessen war die flehentliche Bitte des goldenen Vogels und der schwarzen Katze, den »Hummelflug« perfekt zu spielen, um sie von ihrem Zauber zu befreien und sei es nur, dass sie in Ruhe sterben konnten. So übte der Kommissar und übte. Er hatte schon seine ganze Umgebung mit den chromatisch angeordneten Sechzehntelnoten, wobei die Viertelnoten in 180 Schlägen pro Minute gespielt werden mussten, terrorisiert und gegen sich aufgebracht: Seine Frau Brigitte, seinen Sohn, seine kleine Tochter und die übrigen Hausbewohner. Nun übte er im Keller und hatte auf den zerknitterten Trompetentrichter einen Schalldämpfer montiert. Aber so sehr er sich auch anstrengte, seiner Flatterzunge gelang es nicht, die hochvirtuose Komposition nur annähernd korrekt wiederzugeben. Entweder klang es zu breiig, oder er schaffte die vorgeschriebene Geschwindigkeit nicht. Nach einer unendlichen Reihe von Versuchen gab er auf und verstaute die Trompete im Kleiderschrank hinter den Pullovern und vergaß sie. So gingen die Jahre ins Land, und niemand dachte mehr an die verbeulte, bejahrte Trompete. Nur als der alte, pensionierte Kommissar schließlich starb, hörte man gedämpfte, klagende Trompetentöne aus dem Kleiderschrank, die um zweierlei trauerten, den Kommissar und die unerlösten russischen Prinzessinnen Svetlana und Anastasia.

Das alte Kind

Plötzlich stand das alte Kind in unserem Garten. Einen Augenblick vorher war nichts an dem Ort, wo es auftauchte. Das erste, was mir an ihm auffiel, waren die altmodischen braunen Schnürstiefel, die bis über die Knöchel gingen, und über der Doppelschleife begannen graue, grob gestrickte Wollstrümpfe, die bis in die Kniekehlen reichten. Hosenbeine aus Popeline reichten bis kurz über die mageren Knie, so dass ein zwei Zentimeter breiter, brauner Streifen der Oberschenkel zu sehen war. Eine beigefarbene Strickjacke über der Hose lag eng an dem schmalen Brustkorb, und am Hals schaute ein spitzer Hemdkragen aus der Jacke. Es war ein Junge. Ein schmales, blasses Gesichtchen über dem Kragen, eine schmale, ernste Nase, dunkle Augen, von denen nicht zu sagen war, welche Farbe sie hatten. Die Arme hingen seitlich am Körper, es ging etwas Melancholisches von dem alten Kind aus. Das Alter des Jungen schätzte ich auf acht Jahre. Ich fragte ihn: »Wo kommst du denn her?« Außer einem Zucken der dünnen Lippen gab es keine Reaktion. Wie heißt du? Nichts. Ich wusste nicht recht, was ich mit dem Kind anfangen sollte. Es hob den dünnen Arm. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigte es erst auf den geöffneten Mund, dann auf seinen Magen. Es schien Hunger zu haben. Ich ging auf den Jungen zu, wollte ihn an der Hand fassen; das ließ er nicht zu. Ich ging über die Terrasse ins Haus und bedeutete dem alten Kind, mir zu folgen, was es auch tat. Wir gingen in die Küche. Behutsam setzte es die Füße und machte kleine vorsichtige Schritte. Ich bot ihm einen Stuhl an unserem Küchentisch an und holte Brot aus dem Küchenschrank, schnitt zwei Scheiben vom Gersterbrot ab, holte Butter, Leberwurst und Käse aus dem Kühlschrank und stellte alles vor dem Jungen auf den Tisch. Er beobachtete mich mit ernsten, aufmerksamen Augen. Ich holte ein Glas hervor und ein Tetrapak Apfelsaft, schließlich ein Messer. Ich überlegte, ob ich ihm ein Brot schmieren oder ob ich schauen sollte, wie er damit zurechtkam. Ich dachte schon, dass ein Junge seines Alters, wenn meine Vermutung denn zutraf, selber ein Brot schmieren konnte. Er griff schließlich zum Messer, machte eine schnelle, waagerechte Bewegung damit vor seiner Kehle und begann dann, sehr sorgfältig Butter auf seiner Brotscheibe zu verstreichen, so dass nach einiger Zeit überall eine gleichmäßig dünne Schicht Butter verteilt war. Die Leberwurst im Darm schob er mit angeekeltem Blick zur Seite. Er griff zum Gouda, schnitt sich mehrere makellose Scheiben ab und legte sie auf sein Butterbrot. Mit großem Appetit, fast gierig, biss er in seine Stulle und kaute mit sichtlichem Behagen. Ich dachte, er solle noch etwas Frisches zu seinem Käsebrot haben und holte eine Tomate aus meiner Schüssel, die für Früchte, Knoblauchknollen aber auch Tomaten vorgesehen war und legte sie ihm auf seinen Teller. Mit fettigen Fingerspitzen hob er sie an, hielt sie in Augenhöhe und untersuchte sie mit hoch konzentriertem Blick. Rot und nahezu kugelförmig, am unteren Ende ein kleiner Krater, wo die alten Kelchblätter gesessen hatten. Er war fasziniert. Pfeffermühle und Salzstreuer ignorierte er. Er rollte die Tomate über den Tisch. Ich hielt die Hand etwas unterhalb der Tischplatte und fing die Frucht auf. Ich nahm die Tomate, dann das Messer und zerteilte sie in Viertel. Eins davon aß ich. Der Junge sah mich erstaunt an, tat es mir aber dann nach und aß ein bisschen schmatzend die restliche Tomate auf. Ich goss meinem Gast ein Glas Apfelsaft ein, das er in einem Zug leerte. Nachdem er die zwei abgeschnittenen Scheiben Brot gegessen hatte, machte er dieselben Gesten, die er schon im Garten gemacht hatte. Nachdem er das halbe Gersterbrot gegessen und den Tetrapak ausgetrunken hatte, schien er fürs erste gesättigt. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und sah mich unverwandt an. Es war dunkel geworden, und ich hatte keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich beschloss, dass er bei mir übernachten sollte. Ich hatte ein kleines Gästezimmer, in dem ein Bett und ein Schrank standen. Ich zeigte ihm das Zimmer, nachdem ich ihm zu verstehen gegeben hatte, dass er mir folgen sollte. Ich deutete auf das Bett, legte die Hände katholisch aneinander und hielt sie dann an eine Wange. Sofort war ihm anzusehen, dass das Angebot gar nichts für ihn war. Er rannte los zur Terrassentür, zerrte daran, ohne sie öffnen zu können und sah mich verzweifelt an. Ich machte die Tür auf und das alte Kind verschwand in meinem dunklen Garten. Ich trat hinaus, ich rief, aber es gab keine Anzeichen, wo der Junge abgeblieben sein konnte. Etwas beunruhigt machte ich meine Abendtoilette und ging ins Bett. Der Tag hatte mich angestrengt und nach ein paar verwaschenen Gedanken an das Kind schlief ich ein. Am nächsten Morgen wurde ich durch ein drängendes Klopfen geweckt. Nachdem ich mich orientiert und auf den Wecker geguckt hatte, wusste ich, woher der Lärm kam. Das alte Kind klopfte an die Terrassentür. Es war früh, halb sieben. Wir frühstückten zusammen. Kein Wort von meinem Gast, nur viel Kauen und genüssliches Essen. Nach dem Frühstück wandte ich mich meiner gewohnten Zeitungslektüre zu und schaltete das Radio ein. Deutschlandfunk. Radio hören fand der Junge gut. Konzentriert hatte er den Kopf dem Apparat zugewandt. Musik fand er besser als Wortbeiträge, wie ich bei meinem unauffälligen Schielen über den Zeitungsrand feststellte. Der zarte Körper und das schmale Köpfchen bewegten sich im Takt der Musik. – Mein Gast müffelte. Ich überlegte, wie ich ihn von Körperhygiene überzeugen konnte. Ich verschob meinen Plan aber. Ich konnte mich an seine heftigen Abwehrreaktionen von gestern Abend erinnern, als ich ihm das Gästebett angeboten hatte. Ich ging hinaus in den Garten, der Junge hinter mir her. Er hatte sich eine Plastikplane unters Gesträuch am Grundstücksende gespannt und sich ein Lager aus Blättern bereitet. Dort also hatte er die Nacht verbracht. Das würde er auch zukünftig tun und ich sah keinen Grund, ihn davon abzuhalten.

Wir hatten jetzt schon einige Tage miteinander verbracht. Das alte Kind hatte immer noch nichts mit mir gesprochen. Wir aßen regelmäßig zusammen, es blieb stumm. Wir hörten häufig Musik aus meiner CD-Sammlung. Einmal hörten wir Peer Gynt von Edward Grieg. Das alte Kind war bei Ases Tod besonders berührt. Tränen schimmerten in seinen geheimnisvollen, dunklen Augen, so dass ich es fortan Peer nannte. Wenn sich der Junge unbeobachtet fühlte, tat er etwas total Ungewöhnliches. Er übte, sich aufzulösen. Mal verschwand eines seiner dünnen Ärmchen, mal war nur noch der halbe Kopf zu sehen, mal war der mittlere Teil seines Körpers verschwunden. Peer sprach immer noch nichts, aber er konnte verblüffend gut zeichnen. Einmal zeigte er mir eine Zeichnung, auf der er und eine Wand zu sehen waren, in der er halb verschwunden war.

Die gestromte junge Katze aus der Nachbarschaft liebte ihn. Sie genoss sein Streicheln und folgte ihm ständig mit in den Himmel gerecktem Schwanz und zeigte ihre rosige Katzenrosette.

Einmal stand ich an der Supermarktkasse, vor mir zwei Frauen aus meiner Nachbarschaft. Sie hatten mich nicht gesehen. Ich hörte Gesprächsfetzen. »Neffe aus Hamburg, so, so.« »Ich sage dir, Pädophilie!« Ich fragte mich, ob ich mich in ihr Gespräch einmischen sollte, aber es verstummte von ganz allein, als sie mich sahen und sich dann ganz abrupt »Schönen Tag, noch!« wünschten.

In der Nacht hatte sich ein heftiges Sommergewitter gebildet. Ich stand am geöffneten Fenster. Der Regen trommelte auf die Ziegel der Gaube, die Luft vibrierte vom Krachen der einschlagenden Blitze. Ich liebe die Geräusche, die dem eigentlichen Donner vorangehen. Das Bersten, Knacken, Knattern, Knistern. Als kleiner Junge hatte ich mich vor Gewitter immer sehr gefürchtet. Die Blitze warfen meine mächtige Silhouette auf die Wand. Ich meine auch, Peers Schatten im Garten gesehen zu haben. Am nächsten Morgen war er verschwunden und blieb es auch. Ich hatte mich so an es gewöhnt, das alte Kind.

Der freundliche Riese

Ganz oben, sehr zurückgezogen, gleich unterhalb des Deisterkammes, lebt der freundliche Riese. Er haust in einer geräumigen Felsenhöhle, deren Eingang er immer sehr sorgfältig tarnt, wenn er ausgeht, um Wildschweine am Schinken zu zwicken oder Wanderer und Mountainbiker zu erschrecken. Er ist fünf Klafter hoch und wiegt dreizehn Doppelzentner. In letzter Zeit hat er etwas zugelegt. Das liegt an der Angst der Menschen, die rund um den Deister wohnen und von deren Angst er lebt. Angst vor der Zukunft, Angst um den Euro, Angst um den Partner und um die Kinder, Angst vor der Angst. Die Angst wird mit dem Wind die Hänge herauf geweht, und der Riese ernährt sich von ihr. Er nimmt sie über seine gewaltige Körperoberfläche osmotisch auf, denn meistens, wenn es die Witterung zulässt, bewegt er sich mit freiem Oberkörper durch den für ihn eigentlich zu kleinen Wald. Wenn man die Klitschko-Brüder aufeinanderstellte und dann noch mit drei malnähme, hätte man einen Eindruck von der Größe des Riesen. Aber nur die wenigsten haben ihn je gesehen und denen schenkt man wenig Glauben. Sein rundes Haupt ist bedeckt von semmelblondem Haar, das golden in der Morgensonne leuchtet. Er hat ein freundliches Gesicht, und Kinn und Wangen sind von einem mächtigen Seemannsbart bedeckt, den ihm die Deistertrolle regelmäßig kurz scheren und ihre Kissen und Betten damit füllen. Dann ist auch sein krauses Brusthaar fällig. Der freundliche Riese legt sich für die Prozedur auf den Rücken und genießt das Kribbeln und Krabbeln der emsigen kleinen Kerle.

Stets trägt er ein Lächeln im Gesicht und in alten Zeiten half er den Forstgesellen und deren schwer arbeitenden Rückepferden, ohne dass sie es bemerkten. Oft erledigte sich die Fron wie von Zauberhand und die Holzknechte murmelten dann ehrfurchtsvoll: Das muss wohl Sigmar, der freundliche Riese gewesen sein. Mit Rübezahl, seinem übellaunigen weitläufigen Verwandten aus dem Riesengebirge hat er charakterlich nur wenig zu tun. Ursprünglich hatten die Bergleute, die im Deister Kohlegruben unterhielten, nur Spott für die Holzknechte. Doch manch wundersame Rettung aus Bergnot ging auf das Konto des freundlichen Riesen, der Schächte vorm Einstürzen bewahrte und Kinder, die sich verlaufen hatten, auf den rechten Weg zurückführte.

Wenn er lacht, und das tut er oft, grollt es wie dunkler Donner durch den dichten Wald, und es gibt an jedem Baumstamm ein Echo. Sein Schritt lässt den Waldboden erbeben, so dass das Reisig immer ein wenig emporgeschleudert wird. Den alten Mütterchen lüpfte er früher heimlich die Reisigbündel, damit sie es nicht so schwer hatten beim Tragen, denn er konnte auch leise ein, wenn er wollte. Die Vögel des Waldes mögen ihn und singen immer besonders innig, wenn sie seiner gewahr werden.

Er hat Fäuste wie Basketbälle, was sag’ ich, wie Medizinbälle, und kann Bäume samt Wurzelwerk aus dem Waldboden ziehen, wenn er übermütig ist und sich einen Spaß machen will. Er kann auch Felsbrocken mehrere hannoversche Meilen weit werfen. Dann pfeift die Luft, und die Leute sagen: Sigmar übt wieder Weitwurf. Nicht in böser Absicht, er will nur spielen.

Manchmal, bei sehr schlechtem Wetter, trägt er ein wasserabweisendes Gewand aus Buchenrinde. Er hat einen Wanderstab, den er sich aus einem Fichtenstamm schnitzt, der ihm aber leicht zerbricht wie unser einem ein hölzerner Zahnstocher. Wenn er in seltenen Fällen ein bisschen schlechte Laune hat, steckt er Bikern Äste zwischen die Speichen der sich drehenden Räder, die für ihn aussehen wie rotierende Swastiken, nein, nicht Spastiker, wie das Schreibprogramm meint. Wanderern zieht er auch mal das Schuhband auf und kann sich darüber fast geräuschlos schlapp lachen, so dass es sich anhört, als ob der Wind in den Baumkronen saust.

Seine Eltern waren normalwüchsige Springer, die Sigmar, den Riesen, unter allerdings merkwürdigen Bedingungen gezeugt hatten. Fritz und Dorchen hatten ihn während Not und Krieg bekommen, die fast das gesamte Denken und Fühlen der Menschen eingenommen hatten. Sie hatten ihn als kleinen Jungen unter Tränen im Wald ausgesetzt. Gab es schlimme Zeiten, so war die Angst groß vor Hungersnot, Überschwemmungen, Atomkrieg, Terrorismus, 11. September, Al Qaida. Eigentlich war die Angst immer groß, so dass der freundliche Riese stets groß und gut genährt war.

Ob er noch lebt? Ich weiß es nicht. Doch man hört immer wieder von Wanderern, denen das Schuhband aufgeht oder von vom Rad fallenden Bikern. Das kann eigentlich nur Sigmar, der freundliche Riese gewesen sein.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
171 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783934900516
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