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Bruder Anselm atmete erleichtert auf. Lucs geschultes Auge erkannte auf den ersten Blick: Der Finanzminister des Klosters Mariafeld wollte oder musste unbedingt verkaufen. Ein Plan reifte in Windeseile in ihm, eine Möglichkeit, sein zweifelhaftes Image als profitgieriger Finanzhai aufzupolieren.

»Wenn Sie möchten, kann sich unsere Juristin den Verkaufsvertrag ansehen, bevor Sie etwas unterschreiben. Sie hat große Erfahrung im Umgang mit solchen Konzernen. Das würde Sie natürlich nichts kosten.«

Das unerwartete Angebot erschreckte den braven Mönch. Sein Mund klappte auf und zu. Ihm fehlten die Worte. Luc stand auf.

»Überlegen Sie sich‘s. Ich bin ja noch bis morgen Nachmittag da.«

Damit zog er sich in die Zelle zurück, um den nächtlichen Ausbruch vorzubereiten.

Am nächsten Morgen schritt Pater Raphael unruhig in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Fünf Schritte hin, fünf Schritte her, mehr waren nicht möglich. Jeden Augenblick würde sein Cellerar anklopfen, und er wusste noch immer nicht, wie er entscheiden sollte. Gab es überhaupt eine Alternative? Umschuldung, den teuren Kredit umwandeln – vielleicht war das eine Möglichkeit, die Zeit bis zum Verkauf der Ernte zu überbrücken. Der Gutsverwalter rechnete nach der Missernte im letzten Jahr heuer mit gutem Ertrag. Er dankte dem Herrn für diesen Hoffnungsschimmer.

Bruder Anselm klopfte an und trat ein, leichten Fußes, mit entspanntem Lächeln im Gesicht, wie er es bei ihm seit Langem vermisst hatte.

»Gestern Abend habe ich ein interessantes Gespräch geführt«, platzte er heraus.

»Ich höre.«

»Ich habe mich mit einem unserer Gäste unterhalten, Luc Kaiser. Er ist Finanzspezialist, und es stellte sich heraus, dass er die NAPHTAG sehr gut kennt.«

Der Prior horchte auf. »Rein zufällig nehme ich an.«

»Na ja – ich habe den Konzern wohl erwähnt wegen der Bohrung.«

»Und weiter?«

»Herr Kaiser hat mir bestätigt, dass die NAPHTAG einen makellosen Ruf genießt. Ich schließe daraus, dass wir uns auf die Aussagen und Zusicherungen des Konzerns voll und ganz verlassen können.«

»Können wir uns denn auch auf diesen Herrn Kaiser verlassen?«

Bruder Anselm nickte zuversichtlich. »Er ist ein ausgewiesener Fachmann.« Nach kurzer Pause fügte er an: »Und er macht einen durchaus ehrlichen Eindruck.«

»Hoffen wir, dass du dich nicht täuschst, Bruder Anselm. Du möchtest also verkaufen?«

»Wir würden das Richtige tun.«

Er war noch nicht überzeugt und erwähnte die Idee mit der Umschuldung. Anselm wiegelte sofort ab.

»Ich habe diese Möglichkeit zuallererst durchgerechnet. Wir müssten einen hohen Preis bezahlen und würden trotzdem weiter auf den Schulden sitzen, sollten wir überhaupt einen neuen Kredit erhalten. Und was passiert, wenn die Zinsen wieder anziehen? Nein, das ist leider keine Lösung.«

Die Vorstellung, den Schuldenberg und die Zinslast durch den Verkauf mit einem Schlag loszuwerden, war bestechend. Da musste er dem Cellerar zustimmen. Obwohl er innerlich entschieden hatte, zögerte er mit der Antwort. Schließlich sagte er:

»Ich möchte mir selbst ein Bild über Herrn Kaiser machen, bevor ich dem Verkauf zustimmen kann.«

»Gut, tu das, Bruder, aber du musst dich beeilen. Die Gäste reisen nach dem Mittagessen ab.«

Luc blickte dem Prior verwundert nach. Die Unterredung mit dem alten Herrn hatte keine drei Minuten gedauert und im Wesentlichen aus forschenden Blicken bestanden. Sollte es eine verkappte Standpauke sein wegen des Ausflugs nach Konstanz, obwohl er nichts dergleichen angedeutet hatte? Er wurde nicht schlau aus diesem Heiligen. Es war Zeit zu packen. Auf dem Flur fing ihn Bruder Anselm ab.

»Ich möchte mich bedanken«, sagte er.

»Wofür?«

»Für Ihren Rat gestern Abend. Der Prior hat sich jetzt doch entschlossen, das Stück Land an die NAPHTAG zu verkaufen – vorausgesetzt, seine Exzellenz der Bischof stimmt zu.«

»Rechnen Sie mit der Zustimmung des Bistums?«

»Oh ja, das ist nur eine Formalität. Schließlich geht es um die Zukunft des Klosters.«

»Sie werden also das Geschäft durchziehen?«

Bruder Anselm nickte lächelnd.

»Das freut mich, obwohl es mich eigentlich gar nichts angeht.«

»Ohne Ihren Rat …«

Den Rest sprach der Mönch nicht aus. Luc wollte sich verabschieden, doch Anselm zögerte.

»Darf ich auf Ihr Angebot zurückkommen, Herr Kaiser?«

Luc schmunzelte. »Die Anwältin – selbstverständlich, das Angebot steht.«

Anselm dankte beinahe unterwürfig. »Wir sind manchmal etwas weltfremd hinter den Klostermauern«, gab er zu. »Es wäre in der Tat äußerst hilfreich, wenn uns jemand beraten könnte, der sich auskennt. Zum Beispiel über den fairen Preis.«

Die Anwältin Heike Sommer kannte sich in Land- und Immobilienpreisen, Gesetzen und anderen Dingen aus, die sich der gute Bruder Anselm in seinen wildesten Träumen nicht vorstellen konnte.

»Darf ich fragen, wie viel die NAPHTAG zu zahlen bereit ist?«

Anselm antwortete ohne Zögern:

»Hundert Euro pro Quadratmeter. Es geht um 20‘000 Quadratmeter.«

»Das ist nicht sehr viel.«

Anselm erschrak. »Wie bitte?«

»Land in dieser Gegend für profitable industrielle Nutzung müsste eigentlich teurer sein.«

»Aber …«

Sein Einwand hatte den Bruder sichtlich erschüttert.

»Sie müssen pokern«, sagte er mit ernster Miene. »Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das zuwiderläuft, aber es geht nicht anders. Die NAPHTAG wird es auch tun. Verlangen Sie einen deutlich höheren Preis, sagen wir 120 Euro.«

Bruder Anselm wusste nicht, wohin mit den Augen. Sein Argument stürzte den Gottesmann in einen schier unlösbaren Gewissenskonflikt. Das Kloster brauchte dringend Geld, stand auf seinem Gesicht geschrieben. Feilschen – was für ihn als Händler tägliches Brot war, musste dem Mönch wie ein Elixier des Teufels erscheinen. Plötzlich streifte Luc ein verwegener Gedanke.

»Es könnte natürlich sein, dass die NAPHTAG auf den hundert Euro beharrt«, fuhr er fort. »In diesem Fall rate ich Ihnen, in NAPHTAG Aktien zu investieren.«

Damit hatte er Anselm endgültig überfordert. Bevor der Mönch die Sprache wieder fand, erläuterte er den Plan:

»Ich will damit nicht sagen, sie sollen Aktien kaufen. Es gibt einen viel eleganteren Weg. Vereinbaren Sie ein Paket Gratisoptionen. Bitte entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Er ging in seine Zelle, schaltete das Handy ein und hielt es aus dem Fenster, wo ein Empfang möglich war. Nach wenigen Klicks kehrte er zu Anselm zurück, hielt ihm den Bildschirm hin und erklärte die Zahlen:

»Diese Anzahl Kaufoptionen auf NAPHTAG Aktien entsprechen aus heutiger Sicht einem Wert von rund 200‘000 Euro. Die NAPHTAG würde Ihnen also die zwei Millionen Cash bezahlen für das Land plus 200‘000 Euro in Form von Optionsscheinen. Da der Kurs der Aktie unterbewertet ist, wird der Wert der Optionen binnen kurzer Zeit steigen. Sie können ohne Weiteres mit einer Verdoppelung in den nächsten zwei Wochen rechnen. Heißt im Klartext: Sie werden die Optionen für 400‘000 Euro verkaufen oder ausüben können. Insgesamt hätte Ihnen die NAPHTAG also 2.4 statt zwei Millionen bezahlt, was einem Preis von 120 Euro pro Quadratmeter entspricht. Können Sie mir folgen?«

»Rechnerisch schon, aber wo ist der Haken?«

»In diesem Fall gibt es eigentlich keinen. Ihr einziges Risiko ist, dass es bei den zwei Millionen Cash bleibt, die Ihnen der Konzern geboten hat. Die Optionen könnten wertlos verfallen, falls der Aktienpreis wider Erwarten sinkt, aber Sie haben ja auch nichts dafür bezahlt, also verlieren Sie nichts.«

Eine lange Pause entstand, bis Anselm misstrauisch fragte:

»Und Sie glauben, die NAPHTAG lässt sich auf diesen Handel ein?«

»Wenn meine Anwältin verhandelt, bestimmt«, antwortete er grinsend.

KONSTANZ WOLLMATINGEN

Eine neue Nachricht tropfte auf den Bildschirm des Laptops. Das Ge-räusch erinnerte verblüffend an den Wassertropfen aus einem undichten Hahn, der in die Blechwanne fällt und zerplatzt. Maria Herzog fand ihre Wahl des Geräuschs für die Chats mit Emma genial. Der tropfende Hahn war die perfekte akustische Metapher für den stundenlang locker vor sich hin tröpfelnden Austausch kurzer Textmeldungen in den Nächten, die sie nicht zusammen verbringen konnten. Sie steckte die pH-Messsonde auf den Glaszylinder, bevor sie Emmas Text las.

»Julian schläft endlich. Vermisse dich.«

»Solltest du auch – schlafen meine ich«, tippte sie als Antwort. »Morgen gibt es etwas zu feiern.«

Wieder fiel ein Tropfen. »Bist du sicher?«

Sie kontrollierte den pH-Wert. 4.05: Zu sauer, stellte sie fest und wollte korrigieren, doch ein Knacks schreckte sie auf. Sie wähnte sich allein im Haus. Die Kollegen hatten das Labor und die Büros längst verlassen. Außer dem Licht ihrer Tischlampe herrschte stockfinstere Nacht. Das fremdartige Geräusch war vom Flur ins Labor gedrungen. Sie schaltete die Deckenbeleuchtung an.

»Felix, bist du das?«

Wer sonst sollte um diese Zeit im Haus sein? Das Geräusch wiederholte sich, diesmal lauter, gefolgt vom vertrauten Knarren einer Tür. Es kam von draußen. Das Kippfenster zum Hof stand offen. Jemand machte sich an der Tür des Schuppens zu schaffen. Sie rannte ums Haus. Das Schloss des Lagers für Stroh und unbedenkliche Chemikalien wie Alkohol war aufgebrochen. Der Strahl einer Taschenlampe strich über die Regale. Das Licht erlosch sofort, als sie die Tür aufstieß.

»Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!«, rief sie, weil ihr im ersten Schreck nichts anderes einfiel.

Ihr Herz wollte aus der Brust springen. Es blieb ruhig. Sie nahm allen Mut zusammen und rief noch einmal:

»Kommen Sie heraus!«

Vorsichtig trat sie in die Öffnung, um den Lichtschalter zu betätigen. Die Tür schlug ihr ins Gesicht und schleuderte sie hinaus. Sie fiel auf den rauen Teer, sah aus den Augenwinkeln, wie eine schwarze Gestalt davonrannte. Sie hörte eine Autotür zuschlagen, Motorengeräusch, dann kehrte unheimliche Stille ein. Ächzend erhob sie sich. Der linke Ellenbogen schmerzte. Als sie darüber strich, spürte sie Blut. Im Licht der Lampe des Schuppens besah sie sich den Schaden. Eine Schürfwunde, nicht weiter schlimm. Trotzdem schmerzte der Arm, als wäre er gebrochen.

Im Schuppen fehlte auf den ersten Blick nichts, aber das Schloss musste ausgetauscht werden. Es gab nichts wirklich Wertvolles im Lager, jedenfalls keine Drogen oder Chemikalien, die man zur Herstellung von Crystal Meth oder Ähnlichem benutzen könnte. Beim Alkohol handelte es sich um Industriesprit. Er war mit Pyridin versetzt und völlig ungenießbar – und alle Flaschen waren noch da. Was wollte der Kerl? Sie hatte einen Mann gesehen, dessen war sie sich ziemlich sicher: kräftige Statur, kein Teenager im Hoodie. Der Gedanke, die Polizei zu rufen, streifte sie nur kurz. Sie hatte den Einbrecher rechtzeitig in die Flucht geschlagen, und für eine Fahndung würden ihre Angaben sowieso nicht reichen. Sie wollte sich und dem Staat das Anlegen einer weiteren sinnlosen Akte ersparen. Dennoch prüfte sie genau, ob der nächtliche Besucher auch Spuren im Haus hinterlassen hatte. Die Schlösser waren alle intakt. Kein Wunder, denn sie ließ die Türen stets unverschlossen, während sie allein im Labor arbeitete. Es war eine Vorsichtsmaßnahme. Falls ihr wider Erwarten etwas zustieß bei der Arbeit, sollten Feuerwehr und Rettung ungehinderten Zugang haben. Das galt natürlich auch für ungebetene nächtliche Besucher. War der Kerl im Haus gewesen? Hatte er sie heimlich beobachtet?

Fröstelnd setzte sie sich wieder an den Computer. Der virtuelle Wasserhahn tropfte jetzt beinahe ohne Unterlass.

»Was ist los? Schläfst du? Wach auf! Ist alles in Ordnung? Soll ich vorbeikommen? WZTWD?«

Emmas Texte füllten den ganzen Bildschirm. Sie beantwortete die letzte Frage – wo zum Teufel warst du? – nicht, schrieb nur:

»AKLA« – »Alles klar.«

Der Timer am Bioreaktor piepste. Sie stieß eine Verwünschung aus, sprang auf und entnahm mit zittriger Hand eine Probe zur Untersuchung. Hoffnungslos, dachte sie ärgerlich, als sie ein paar Tropfen der gelblichen Flüssigkeit aus dem Reaktor auf den Objektträger des Chromatografen träufelte. Durch das Intermezzo mit dem Einbrecher hatte sie vergessen, den pH-Wert rechtzeitig zu korrigieren. Nur um auch diesen Versuch sauber abzuschließen, schaltete sie das Gerät ein. Das Resultat interessierte sie kaum. Sie wandte sich wieder dem Chat zu, bis ein leises Klingeln das Ende der Analyse ankündigte. Sie drückte automatisch auf die Taste, um die Grafik auszudrucken, die der Chromatograf berechnet hatte. Sie warf einen flüchtigen Blick darauf, und ihr Herz blieb stehen. Dann begann es zu pochen, als stünde sie zwei Einbrechern mit Krummsäbeln gegenüber. Was sie sah, war unmöglich. Es musste ein Irrtum sein.

Hastig überprüfte sie die Versuchsanordnung, kontrollierte Zusammensetzung, Temperatur, chemische und physikalische Eigenschaften des Gemischs aus Nährstoffen, Enzymen und Mikroben im Tank. Sie las die Messwerte ein zweites und drittes Mal ab und fand keinen Fehler außer dem falschen pH-Wert. Es musste am Chromatografen liegen. Sie nahm sich die Zeit, das empfindliche Gerät vollständig neu zu kalibrieren. Die Grafik, die es danach produzierte, war identisch mit der ersten Analyse. Der Gedanke, keinen Fehler zu finden, schmerzte wie ihr Ellenbogen. Vielleicht sollte sie eine Nacht darüber schlafen und das Ganze morgen in Ruhe wiederholen – aber wer wollte schlafen bei diesem Output? Die banale Zeichnung aus farbigen Kurven, die nur Fachleute verstanden, war es wert, einst auf ihrem Grabstein verewigt zu werden wie Diracs Gleichung der Quantenmechanik in der Westminster Abbey. Die Kurven behaupteten nichts Geringeres, als dass ihre programmierten Bakterien das Stroh vom Mariafeld zu 85 Prozent in Bernsteinsäure umgewandelt hatten, also praktisch vollständig. Dieser Wirkungsgrad entsprach dem Doppelten aller bisherigen Versuche – und war zwanzigmal besser als alles, was die Konkurrenz je zustande gebracht hatte.

Obwohl der digitale Hahn des Chats zu tropfen aufgehört hatte, begann sie wie besessen auf die Tastatur zu hämmern. Sie fühlte sich leicht und frei wie nie, befreit, als wäre sie am Ende eines langen Tunnels angelangt, träte zum ersten Mal nach jahrelanger Suche in der Finsternis wieder ins grelle Tageslicht und atmete frische Luft. Die Suche war zu Ende, nichts weniger behauptete das Blatt Papier aus dem Chromatografen. Sie versuchte, die Bedeutung der Entdeckung in Worte zu fassen, die ihre Geliebte verstehen konnte, und war froh, sie nicht am Telefon zu haben. Schreibend konnte sie sich besser konzentrieren, drückte sich präziser aus. Die Erzeugung der wichtigen Grundchemikalie Bernsteinsäure aus nachwachsenden Rohstoffen war nun nicht nur möglich, sondern auch wesentlich kostengünstiger als die klassische Herstellung in der chemischen Industrie. Kunststoffe, Farben und Baumaterialien aus Stroh, unabhängig von Erdöl, Erdgas und Fracking – der Abschied von der Petrochemie begann in dieser Nacht in ihrem Labor.

Kaum war sie fertig mit dem Tippen ihrer Erfolgsgeschichte, fiel der nächste Tropfen.

»Was willst du mir eigentlich sagen?«

»Ach Emma«, seufzte sie, »es gäbe noch so viel zu sagen.«

Lächelnd sandte sie einen letzten Text übers Wasser ins Paradies:

»Schlaf gut, Liebes.«

KAPITEL 4

KONSTANZ

Emma Kaiser klappte den Computer zu. Die Lust auf Arbeit war ihr vergangen, nachdem sie die Berichte über den Polizeieinsatz auf der Reichenau im Internet gelesen hatte. Es stand zwar nicht in den amtlichen Nachrichten, aber die Tweets ließen keinen Zweifel daran: Die Polizei suchte jetzt auch die geheimnisvolle Judith. Den Gedanken, sich zu stellen, wischte sie unwirsch beiseite. Wer würde ihrer Unschuldsbeteuerung glauben nach so langer Zeit? Wo zum Teufel versteckte sich Barbarossa? Nur mit ihm als Zeugen hätte sie eine Chance, sich einigermaßen heil aus der Affäre zu ziehen. Zudem durfte sie nicht riskieren, dass Einzelheiten ihrer Arbeit zu früh an die Öffentlichkeit gelangten, nicht jetzt, kurz vor dem Ende. Sarahs Stimme unterbrach das Grübeln.

»Solltest du nicht schon weg sein?«

Ihre Schwester lehnte lasziv im Türrahmen, in ein neues Nachthemd aus Satin und Spitzen gehüllt, wirres Haar, als hätte sie in der ganzen Wohnung keinen Kamm gefunden.

»Willst du den kleinen Julian verführen?«, fragte sie ärgerlich.

»Gefällt‘s dir?«

»Sieht ziemlich unverschämt aus.«

Ihre kleine Schwester seufzte. »Ich nehme es mal als Kompliment.«

»Meinst du nicht, du überforderst ihn?«

Sarah erschrak. »Was willst du damit sagen?«

»Erst machst du auf keusche Studentin – und dann so etwas.«

»Du bist nur neidisch. Hast du schon auf die Uhr geschaut? Maria wartet schon seit zehn Minuten.«

Sarah lenkte vom Thema ab, aber es stimmte: Sie kam zu spät. Sie eilte ins Bad, kontrollierte das Haar, tupfte etwas Parfüm an die Ohrläppchen und küsste Sarah zum Abschied. Die Kleine war verliebt, kein Zweifel. Sie wünschte ihr im Stillen viel Glück dabei. Bisher war es zweimal schiefgegangen, soweit sie sich erinnerte. Sarah war nicht nur scheu und introvertiert, sie besaß auch ein ziemlich anstrengendes Mundwerk, wenn sie einmal den Mund öffnete. Emma hätte sich allerdings kein zuverlässigeres Kindermädchen für Julian vorstellen können. Nur das zählte an diesem Abend. Schlemmen mit Maria im Gourmettempel gleich um die Ecke, fünf Gänge mit leidenschaftlichem Nachtisch in Wollmatingen! Sie war versucht, die High Heels auszuziehen, um schneller im Restaurant anzukommen.

Maria saß auf der Terrasse am See, ein Glas Sekt vor sich und ein seliges Lächeln im Gesicht. Sie trug das blaue Sommerkleid mit den Ärmeln aus durchscheinender Stickerei, zu dessen Kauf sie die Geliebte einst überredet hatte.

»Du scheinst mich gar nicht zu vermissen«, scherzte sie.

Die innige Umarmung war ein kurzer Moment unbeschwerten Glücks. Sie hatte schon fast vergessen, wie es sich anfühlte in Marias Armen. Seit der unseligen Nacht in Überlingen stand sie unter Hochspannung, selbst im Schlaf, dem unerschöpflichen Reservoir an Albträumen.

»Entschuldige die Verspätung. Sarah hat mich aufgehalten«, flunkerte sie. »Stell dir vor, meine kleine Schwester ist verliebt.«

Maria lachte. »Wie Felix.«

»Was, der auch? Unglaublich, ich dachte, dein Kollege interessiere sich überhaupt nicht für Menschen.«

»So kann man sich täuschen.«

»Wie heißt die Glückliche?«

»Das wüsste ich auch gerne«, sagte Maria schmunzelnd. »Er macht ein großes Geheimnis daraus.«

Maria sprach weiter, doch sie hörte nicht mehr zu. Sie hatte das hässliche Pflaster an Marias Ellenbogen entdeckt.

»Was ist passiert?«, unterbrach sie erschrocken.

»Nichts.«

Sie bedeckte die Verletzung instinktiv mit der Hand.

»Wozu dann das Pflaster?«

»Ich – bin gestolpert. Es ist nur ein Kratzer, das ist alles.«

»Ist es gestern Nacht passiert, als du plötzlich nicht mehr geantwortet hast?«

Die Bedienung fragte nach den Wünschen. Maria gab ihre Bestellung auf und sah sie fragend an. Ohne einen Blick auf die Karte zu werfen, sagte sie:

»Für mich das Gleiche.«

Maria stellte eine Frage zu Sarah. Wie ihre Schwester wollte sie vom Thema ablenken. Diesmal ließ sie nicht locker.

»Du bist nicht einfach hingefallen. Erzähle mir, was letzte Nacht geschehen ist.«

Maria zögerte, bevor sie leise antwortete. »Ich möchte nicht, dass du dir unnötig Sorgen machst.«

»Das ist genau das, was mich jetzt beruhigt.«

Sie kannten sich lange genug. Maria wusste, dass sie nicht ruhen würde, bis sie die Wahrheit erfuhr. Was sie hörte, versetzte ihr einen Schock, obwohl Maria den Vorfall zu verharmlosen versuchte.

»Ein Einbrecher! Bist du wahnsinnig, dich auf so eine Begegnung einzulassen? Mein Gott, du könntest tot sein.«

Maria lachte sie aus. »Komm wieder runter. Der hatte mehr Angst vor mir als ich vor ihm.«

»Wie sah er aus, welchen Wagen hat er gefahren, Kennzeichen?«

Maria zuckte die Achseln. »Wieso willst du das wissen?«

Nun war sie an der Reihe, zu schweigen. Sie fragte sich ohnehin, was sie von Sarahs Beobachtung halten sollte. Die Schwester glaubte, einen Typen in einem fremden Auto mehrfach lange vor dem Haus im Paradies gesehen zu haben. Sie hatte nicht gewagt, sich zu nähern, um sich das Kennzeichen zu merken. Jedenfalls erschrak sie neuerdings beim leisesten Geräusch hinter ihrem Rücken. Standen sie alle unter Beobachtung? Feinde gab es genug. Bisher hatte sie allerdings angenommen, in der Wohnung im Paradies sicher zu sein. Stand der Einbruch bei Maria damit in Zusammenhang? Gefährdete sie die Geliebte mit ihrem obsessiven Enthüllungsjournalismus? Sie schauderte unwillkürlich.

»So tragisch ist der Zwischenfall nun auch wieder nicht«, sagte Maria lächelnd. »Du solltest die Linguini versuchen, bevor sie erkalten, statt dir unnötig Sorgen zu machen.«

Damit war das Thema aus ihrer Sicht abgeschlossen. Während sie aßen, malte Maria die gemeinsame Zukunft in den buntesten Farben aus. Die Begeisterung über den endgültigen Durchbruch bei der Forschung an den Mikroben, die wie Rumpelstilzchen Stroh in Gold verwandelten, kannte keine Grenzen. Emma war mit den Gedanken woanders.

»Du freust dich ja gar nicht«, sagte Maria beleidigt.

»Doch, natürlich – ich kann mir einfach die Konsequenzen deiner Erfindung noch nicht vorstellen.«

»Entdeckung, meine Liebe, keine Erfindung. Wir verwenden zwar gentechnisch veränderte Bakterien, aber früher oder später könnte sich diese Mutation auch völlig natürlich entwickeln. Wir haben also nur entdeckt, was die Natur bisher vor uns versteckt hat, und das wird den Unternehmen der Petrochemie gar nicht gefallen.«

»Zum Beispiel der NAPHTAG.«

»Genau. Stell dir vor, die wollen das Fracking Projekt jetzt auch noch aufs Klostergut erweitern.«

»Mariafeld? Überrascht mich gar nicht, aber die Brüder werden das doch nicht zulassen.«

»Ich fürchte, da bin ich nicht mehr so sicher.«

Der Gedanke bedrückte Maria. Sie legte die Gabel weg, trank einen Schluck des unbezahlbaren Chablis Premier Cru und starrte eine Weile in sich hinein. Dann sagte sie:

»Deine Recherche übers Fracking wird der NAPHTAG auch nicht gefallen, stimmt‘s?«

Ihre Antwort war nur ein unbestimmtes Lächeln, wie stets, wenn die Fragen zu ihrer Arbeit allzu konkret wurden. Der mysteriöse Einbruch und Sarahs beginnender Verfolgungswahn kochten wieder hoch. Auch sie griff zum Glas, und während sich das feine Zitrusaroma im Gaumen ausbreitete, reifte ein Entschluss in ihr. Sie durfte Maria und die junge Firma nicht länger gefährden.

Der Kriminaltechniker im Präsidium begleitete Chris zu den Asservaten des Anschlags von Überlingen. Vom Augenblick an, als sie verlangte, die Beweisstücke nochmals zu sichten, blieb sein Mund verschlossen wie ein verschweißter Vakuumbeutel. Die Wangen eingefallen, erinnerte sein ledernes Gesicht an vakuumiertes Schweinefilet. Mit jedem Blick gab er ihr zu verstehen: Was willst du noch hier? Steht doch alles in meinem Bericht. Diesem Bericht verdankte er ihren Besuch. Ihr war aufgefallen, dass der Techniker zwar angesengte Dokumente erwähnte, die aus dem Feuer gerettet worden waren, aber kein Wort über deren Inhalt verlor. Die Beweisstücke waren noch nicht in die Asservatenkammer ausgelagert worden. Sie lagen übersichtlich nach Identifikationsnummer geordnet auf den Arbeitstischen. Ihr erster Griff galt dem Beutel mit einem Blatt Papier, das fast vollständig erhalten geblieben war. Sie betrachtete das Beweisstück eingehend. Es schien sich um einen Teil einer Inventarliste zu handeln. Bekannte Stoffe wie Schmierfett und Rostschutzfarbe mit Mengenangaben wechselten sich ab mit Posten, deren Namen ihr nichts sagten. Der Techniker sah eine Weile zähneknirschend zu, bis er nicht länger schweigen konnte.

»Fehlt es im Bericht?«, fragte er gereizt.

»Das nicht, aber Sie schreiben nichts über den Inhalt.«

»Uninteressant. Es handelt sich offensichtlich um Überreste des Inventars des abgebrannten Lagers. Der Ingenieur hat uns eine vollständige Kopie aus dem Computer zugestellt. Sie ist auch im Bericht enthalten, im Anhang C-3.«

»Ich weiß, aber haben Sie die Kopie mit diesen Blättern abgeglichen?«

»Wozu?«

Sie blieb die Antwort schuldig und nahm sich stattdessen ein zweites angesengtes Blatt vor, dann ein Drittes. P-206 150 K., las sie. Der Begriff sagte ihr nichts. Sie erinnerte sich nicht, die Bezeichnung P-206 irgendwo gelesen zu haben. Um jeden Irrtum auszuschließen, suchte sie eine entsprechende Zeile im Anhang C-3. P-206 wurde im offiziellen Inventar nicht erwähnt. Wie erwartet, wusste auch der Techniker nichts darüber. Das K in der Liste könnte Kanister bedeuten. 150 Kanister einer unbekannten Substanz. Ein illegaler Giftcocktail als Fracking Zusatz? Der Verdacht, der Brand hätte Spuren vernichten sollen, erhärtete sich.

»Wo ist der sichergestellte Kanister?«

Das Asservat stand auf keinem Tisch. Der Techniker zuckte die Achseln.

»Muss noch im Labor sein«, brummte er und schlenderte davon.

Er ließ sich Zeit, aber als er zurückkehrte, hielt er nicht nur den Kanister in der Hand, der bei Thorsten Kramers Auto gelegen hatte, sondern auch eine Rolle Papier, das nur aus dem Gaschromatografen stammen konnte. Die arrogante Fassade war von ihm abgefallen. Wie ein armer Sünder vor dem Herrn stand er vor ihr und sagte:

»P-206. Ich weiß nicht, wie mir das entgehen konnte.«

»Na, so habe ich Sie wenigstens nicht umsonst genervt.«

Auf dem Aufkleber des Kanisters stand deutlich lesbar: P-206. Der Inhalt roch wie normaler Diesel. Das Chromatogramm zeigte auch die charakteristischen Spitzen, doch die verschwanden beinah im Wald der übrigen Peaks. Der Techniker versuchte, Boden gutzumachen, indem er seine Interpretation der Zusammensetzung von P-206 bekannt gab:

»Es handelt sich nicht um einen marktüblichen Diesel, wie Sie sehen.« Er deutete auf einen Ausschnitt des Diagramms, der ihr auch aufgefallen war. »Diese Komponenten sind Moleküle mit hoher Oktanzahl, die durch Alkylierungs-Prozesse entstehen. Sehr ungewöhnlich in dieser Konzentration.«

»Allerdings. Mit diesem Diesel werden wohl kaum Motoren angetrieben. Haben Sie den Ingenieur Kolbe danach gefragt?«

Er verneinte. »Wir dachten nicht, dass es für den Fall relevant wäre.«

»Ist es vielleicht auch nicht.«

Sie rief die Nummer der Bohrstelle bei Überlingen an. Nach langem Warten bekam sie Kolbe an den Apparat.

»Verwenden Sie P-206 als FracFluid?«, fragte sie rundheraus.

Sie glaubte schon, die Leitung wäre tot, als er endlich antwortete:

»Ich kenne kein – wie heißt das Zeug?«

»P-206.«

»Tut mir leid, kenne ich nicht. Warum fragen Sie?«

»Weil wir einen Kanister mit P-206 beim abgebrannten Lager gefunden haben.«

»Der hat nichts mit uns zu tun.«

»Obwohl NAPHTAG darauf steht?«

Sie ließ die Frage in der Schwebe, dankte und legte auf.

»Er lügt«, sagte der Techniker, der mitgehört hatte.

Sie nickte. »Ich glaube, meine erste Frage hat ihn ziemlich aus dem Konzept gebracht, weshalb auch immer.«

Der Kanister voll mit P-206 stammte von der NAPHTAG, behauptete der Aufkleber. Kramer und die unbekannte Judith hatten ihn aus dem Lager beschafft, daran zweifelte sie keinen Augenblick, nur beweisen konnte sie es nicht – noch nicht. In der Inventarliste waren 150 Kanister davon aufgeführt, und der leitende Ingenieur wollte nichts mitbekommen haben? Chris schüttelte verächtlich den Kopf und sagte:

»Kolbe hält uns für Dummköpfe. P-206 spielt offensichtlich eine wichtige Rolle in seinem Fracking Projekt, und es sieht ganz danach aus, dass diese Schmiere auch eine Hauptrolle in unserem Fall spielen könnte.«

Das Chromatogramm bewies, dass es sich bei P-206 um eine Mixtur aus über zweihundert organischen und anorganischen Chemikalien handelte. Allein der Einsatz der Dieselkomponenten war ein Verstoß gegen die Auflagen. Diesel enthält eine Reihe krebserregender Bestandteile wie Xylol, Toluol und Benzolderivate. Benzol ist bekannt für die Gefahr, Blutkrebs zu verursachen. Ohne Zusätze, welche die Risse im Gestein offen halten und möglichst lange stabilisieren sollten, war keine Erdgasförderung mittels Fracking möglich. Das war allgemein bekannt und keine Überraschung für Chris. Die Frage blieb nur, welche Zusatzstoffe verwendet wurden, wie viele und welche Gifte wie Benzol, Korrosionsschutzmittel und Biozide gegen Bakterienwachstum im FracFluid vorhanden waren. In dieser Hinsicht sah es gar nicht gut aus für die NAPHTAG – und vor allem für die nichts ahnenden Anwohner der Bohrstellen. Die giftigen Chemikalien blieben nicht tief unter der Erde im Tongestein vergraben. Etwa die Hälfte davon wurde mit dem Restwasser wieder an die Oberfläche gepumpt und musste wie Sondermüll entsorgt werden. Die Gefahr der Gewässerverschmutzung durch Fracking und Restwasser war nicht von der Hand zu weisen. Unabhängig von solchen Risiken war eines klar: Der Einsatz von P-206 war so verboten wie links fahren.

Der Techniker setzte sich an seinen Computer. Ein hektischer, stummer Dialog mit dem Gerät begann.

»Was suchen Sie?«, fragte sie irritiert.

Er hieb weiter auf die Tastatur ein, bis er schließlich mit einem Ausruf der Enttäuschung aufhörte.

»Ich finde nichts«, klagte er. »Kein verdammter Hinweis auf P-206 in den Katalogen und Berichten der NAPHTAG.«

Es erstaunte sie nicht. Unternehmen, die Fracking betrieben, betrachteten ihre FracFluide als Betriebsgeheimnis und gaben solche Informationen nur unter Druck der Behörden preis. Sie nahm sich vor, ihre Freundin Caro von der KTU in Wiesbaden ebenfalls nach P-206 suchen zu lassen, rechnete aber nicht mit einem andern Ergebnis. Ihr Verdacht, die NAPHTAG arbeite mit unsauberen Methoden, hatte sich bestätigt. Sie wollte aufbrechen, da hielt der Techniker sie zurück.

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22 декабря 2023
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